Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.Randglossen zum Tage An den Herausgeber an könnte sich tagelang damit beschäftigen, bemerkenswerte Zeit¬ Randglossen zum Tage An den Herausgeber an könnte sich tagelang damit beschäftigen, bemerkenswerte Zeit¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88277"/> </div> <div n="1"> <head> Randglossen zum Tage</head><lb/> <note type="salute"> An den Herausgeber</note><lb/> <p xml:id="ID_105" next="#ID_106"> an könnte sich tagelang damit beschäftigen, bemerkenswerte Zeit¬<lb/> erscheinungen auf den Kohinoor zu spießen, die Sammlung würde<lb/> so lang wie die Liste der Beschwerden über die Kriegsgesellschaften,<lb/> die stets in der teuersten Stadtgegend die teuersten Häuser mieten<lb/> und unglückliche Familien, die nichts verbrochen haben, als schön<lb/> wohnen, auf die Straße setzen, die stets feucht und schlecht gereinigt ist.<lb/> Bemerkenswert sind bekanntlich die neuen Steuern, auch der Zerstreuteste bemerkt<lb/> sie, denn sie sind so angelegt, daß sie auch dem anderweitig Beschäftigten auf¬<lb/> fallen. Die Weinsteüer ist besonders bemerkenswert, denn sie hat nicht nur die<lb/> Eigenschaft, den Ruck zu erzeugen, der uns gewöhnlichen Sterblichen den grünen<lb/> ?louer endgültig aus.dem Bereich von Hand und Lippe rückt, sie besitzt auch die<lb/> Kraft, Jahrgänge zu verändern. Das Bemerkenswerteste ist aber das Formular<lb/> zur Anmeldung von Wein, das in diesen Tagen auf einige hunderttausend« von<lb/> Schreibtischen flatterte und das sich durch völlige Anonymität der aussendenden<lb/> und auf die vorschriftsmäßige Ausfüllung lauernden Amtsstelle auszeichnete.<lb/> Gedankenvoll saß ich davor, wünschte mir, daß ich in der Lage wäre, die zahl¬<lb/> reichen Rubriken restlos auszufüllen und versuchte, das Rätsel zu lösen, wem ich<lb/> das fertige Ergebnis meiner Kellerprüfung einzusenden habe. Ich weiß es nicht,<lb/> und ohne meine Schuld wird die diskrete Behörde nie erfahren, wieviel Flaschen<lb/> Nauentnler Auslese, Liebfraunmilch. Klostergarten, Bernkasteler Doktor ich verzeichnet<lb/> habe. Der anonyme Weinsteuerzettel ist das neueste Kuriosum einer Bureaukratie,<lb/> die über dem Zweck das Mittel vernachlässigt oder dem Steuerzahler eine<lb/> Schlauheit zugetraut hat, die er nicht besitzt. Will man die zeitgemäße Kriegs¬<lb/> mischung von heiterem Ärger über büreaukratische Einrichtungen, die am<lb/> Zweck vorbeifunktionieren, an einer anderen Zeiterscheinung genießen, so braucht<lb/> man nur an dem Hause in der Behrenstraße vorüberzugehen, an dem eine Anzahl<lb/> Marmortafeln hängt, auf denen in Goldschrift steht: „Z. E. G. Warenabteilung<lb/> Frische Fische, Schal- und Krustentiere", „Frisch-Herings-Einfuhr - G. in. b. H.",<lb/> „Aal-Einfuhr-G. in. b. H.", „Fischerei-Förderung-G. in. b. H.", „Kriegsgesellschaft<lb/> für Teichfisch.Verwertung", „Uberwachungsstelle für Seemuscheln". Wenn man<lb/> dann die Zahl dieser Fischbehörden mit der Zahl der Fische und Krustentiere ver¬<lb/> gleicht, die man im letzten halben Jahre zu sehen bekommen hat, hat man den Ärger,<lb/> den man in einem wohlregiertcn Lande für den Tagesbedarf braucht. Man kann<lb/> auch Erzbergcrs selbstgefällige Paragraphenordnung für den Kegelklub „Völkerbund"<lb/> lesen, die er schnell entworfen hat, um noch vor Weihnachten als Welterlöser in die<lb/> Geschichte zu kommen. Anregung bietet auch die künstlerisch-wirtschaftlich interessante<lb/> Tatsache, daß ein bekannter Komiker in einem Singkaffee der Friedrichstadt in vier<lb/> Wochen 20000 Mark verdient, daß dieser Tage in einem Zigarrengeschäft Unter<lb/> den Linden sich die alltägliche Szene abspielte, daß ein Tarameter-Chauffeur fünf<lb/> Zigarren ä eine Mark kaufte, eine anzündete und mit der ruhigen Miene des Mannes,<lb/> der das bekommen hat, was ihm zukommt, das Lokal verließ, und daß in der B. Z.<lb/> eine Wohnungseinrichtung für 380000 Mark zum Verkauf angezeigt ist, freilich<lb/> einschließlich Wäsche und Geschirr, ob auch mit Aschenbechern, weiß ich nicht. Erfreulich<lb/> ist und schön dagegen, daß jetzt auch die Damen Orden tragen, nicht nur die<lb/> Hote Kreuz-Auszeichnung, sondern auch das Band des Kriegshilfskreuzes, und neulich<lb/> sah ich eine elegante Dame, die auf ihrer Bluse eine richtige Ordensschnalle aus<lb/> mehreren Bändern trug. Hier bieten sich für die Friedenszeit ungeahnte Möglich¬<lb/> keiten, die jetzt schon zu studieren die Ordenskommission nicht umhin können wird.<lb/> Kann und soll man Mann und Frau zugleich dekorieren, um noch mehr Zerstörungen<lb/> des Eheglücks vorzubeugen, als die Zeit ohnedies mit sich bringt? Darf man der<lb/> Frau die dritte Klasse geben, wenn der Mann erst auf dem untersten Ast der vierten<lb/> sitzt? Darf die Frau den Orden ihres Mannes tragen und umgekehrt? Diesen<lb/> schwierigen Fragen gesellt sich noch die der Farbe der Bänder. Einer Dame steht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
Randglossen zum Tage
An den Herausgeber
an könnte sich tagelang damit beschäftigen, bemerkenswerte Zeit¬
erscheinungen auf den Kohinoor zu spießen, die Sammlung würde
so lang wie die Liste der Beschwerden über die Kriegsgesellschaften,
die stets in der teuersten Stadtgegend die teuersten Häuser mieten
und unglückliche Familien, die nichts verbrochen haben, als schön
wohnen, auf die Straße setzen, die stets feucht und schlecht gereinigt ist.
Bemerkenswert sind bekanntlich die neuen Steuern, auch der Zerstreuteste bemerkt
sie, denn sie sind so angelegt, daß sie auch dem anderweitig Beschäftigten auf¬
fallen. Die Weinsteüer ist besonders bemerkenswert, denn sie hat nicht nur die
Eigenschaft, den Ruck zu erzeugen, der uns gewöhnlichen Sterblichen den grünen
?louer endgültig aus.dem Bereich von Hand und Lippe rückt, sie besitzt auch die
Kraft, Jahrgänge zu verändern. Das Bemerkenswerteste ist aber das Formular
zur Anmeldung von Wein, das in diesen Tagen auf einige hunderttausend« von
Schreibtischen flatterte und das sich durch völlige Anonymität der aussendenden
und auf die vorschriftsmäßige Ausfüllung lauernden Amtsstelle auszeichnete.
Gedankenvoll saß ich davor, wünschte mir, daß ich in der Lage wäre, die zahl¬
reichen Rubriken restlos auszufüllen und versuchte, das Rätsel zu lösen, wem ich
das fertige Ergebnis meiner Kellerprüfung einzusenden habe. Ich weiß es nicht,
und ohne meine Schuld wird die diskrete Behörde nie erfahren, wieviel Flaschen
Nauentnler Auslese, Liebfraunmilch. Klostergarten, Bernkasteler Doktor ich verzeichnet
habe. Der anonyme Weinsteuerzettel ist das neueste Kuriosum einer Bureaukratie,
die über dem Zweck das Mittel vernachlässigt oder dem Steuerzahler eine
Schlauheit zugetraut hat, die er nicht besitzt. Will man die zeitgemäße Kriegs¬
mischung von heiterem Ärger über büreaukratische Einrichtungen, die am
Zweck vorbeifunktionieren, an einer anderen Zeiterscheinung genießen, so braucht
man nur an dem Hause in der Behrenstraße vorüberzugehen, an dem eine Anzahl
Marmortafeln hängt, auf denen in Goldschrift steht: „Z. E. G. Warenabteilung
Frische Fische, Schal- und Krustentiere", „Frisch-Herings-Einfuhr - G. in. b. H.",
„Aal-Einfuhr-G. in. b. H.", „Fischerei-Förderung-G. in. b. H.", „Kriegsgesellschaft
für Teichfisch.Verwertung", „Uberwachungsstelle für Seemuscheln". Wenn man
dann die Zahl dieser Fischbehörden mit der Zahl der Fische und Krustentiere ver¬
gleicht, die man im letzten halben Jahre zu sehen bekommen hat, hat man den Ärger,
den man in einem wohlregiertcn Lande für den Tagesbedarf braucht. Man kann
auch Erzbergcrs selbstgefällige Paragraphenordnung für den Kegelklub „Völkerbund"
lesen, die er schnell entworfen hat, um noch vor Weihnachten als Welterlöser in die
Geschichte zu kommen. Anregung bietet auch die künstlerisch-wirtschaftlich interessante
Tatsache, daß ein bekannter Komiker in einem Singkaffee der Friedrichstadt in vier
Wochen 20000 Mark verdient, daß dieser Tage in einem Zigarrengeschäft Unter
den Linden sich die alltägliche Szene abspielte, daß ein Tarameter-Chauffeur fünf
Zigarren ä eine Mark kaufte, eine anzündete und mit der ruhigen Miene des Mannes,
der das bekommen hat, was ihm zukommt, das Lokal verließ, und daß in der B. Z.
eine Wohnungseinrichtung für 380000 Mark zum Verkauf angezeigt ist, freilich
einschließlich Wäsche und Geschirr, ob auch mit Aschenbechern, weiß ich nicht. Erfreulich
ist und schön dagegen, daß jetzt auch die Damen Orden tragen, nicht nur die
Hote Kreuz-Auszeichnung, sondern auch das Band des Kriegshilfskreuzes, und neulich
sah ich eine elegante Dame, die auf ihrer Bluse eine richtige Ordensschnalle aus
mehreren Bändern trug. Hier bieten sich für die Friedenszeit ungeahnte Möglich¬
keiten, die jetzt schon zu studieren die Ordenskommission nicht umhin können wird.
Kann und soll man Mann und Frau zugleich dekorieren, um noch mehr Zerstörungen
des Eheglücks vorzubeugen, als die Zeit ohnedies mit sich bringt? Darf man der
Frau die dritte Klasse geben, wenn der Mann erst auf dem untersten Ast der vierten
sitzt? Darf die Frau den Orden ihres Mannes tragen und umgekehrt? Diesen
schwierigen Fragen gesellt sich noch die der Farbe der Bänder. Einer Dame steht
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