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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Aleine Staatslehre
Dr. Moritz Goldstein von
1.

kaat ist nicht Zweck, nicht Vertrag, nicht Absicht. Staat ist Folge.
Staat i se.


2.

Staat ist kein Organismus, nichts Lebendiges. Er ist
Schema, Form, Apparat. Das Lebendige des Staates ist der

Mensch.


3.

Staat ist um des Menschen Willen da. Wie darf der Mensch dem Staat
geopfert werden? Er darf es und er ist bereit dazu, insofern Staat Bedingung
und Voraussetzung des Menschlichen im Menschen enthält.


4.

Wozu lebt der Mensch? Um zu werden, zu wirken, zu lieben, zu erkennen
und zu schaffen. Braucht er dazu Staat? Jawohl: Staat entlastet, schützt, ver¬
bindet, erleichtert, trögt herbei. Ohne Staat bliebe jeder einzelne ein Tier, dessen
Dasein sich erschöpfte in Beschaffung der Nahrung und Bedeckung, im Schutz des
Lebens und Eigentums. schädigt der Staat nicht zugleich das Individuum?
Man hat den Vorwurf erhoben, daß er die Prächtigkeit des Exemplars beein¬
trächtige. Das ist wahrscheinlich romantischer Irrtum: höhere Exemplare, nach
Wohlbeschaffenheit des Leibes und Mutes, als etwa heutige Kampfflieger und
U-Boot-Kommandanten sind Wohl auch im Urstcmde nicht möglich; sie sind
wahrscheinlich nicht einmal erreichbar. Daß der Staat die Massenhaftigkeit be¬
günstigt und die Auslese hemmt, ist wahr. Dieser Fehler aber liegt nicht im
Wesen des Staates und kann behoben werden.


5.

Die schlimmste Folge des Staates ist der Krieg. Lohnt der Staat den
Krieg? Oder sollte man, um Krieg zu verhüten, auf Staat und seinen Nutzen
verzichten? Oder ist der Nutzen des Staates erreichbar ohne Staat? Ja, für
den einzelnen, der in die Wüste geht. Aber er verzichtet damit aus einen Teil
feines Menschentums. Im ganzen sind jene Fragen deshalb müßig, weil Staat
lst, mit Notwendigkeit, unvermeidbar.


6.

Staat ist Macht durch Organisierung. Macht strebt nach Unbegrenztheit,
Organisierung nach Vollkommenheit. Staat strebt also danach, die Erde zu um¬
fassen. Die zu Ende organisierte Menschheit wäre erlöst: sie hätte den ewigen
Frieden, sie brauchte an Machtmitteln nur noch Polizei, nicht mehr Militär.
Der Sinn des Staates ist also Imperialismus. Mit erreichter Weltherrschaft
höbe der Staat sich selber auf.


7.

So weit sind Wir noch lange nicht. Vorläufig ruft die Vielheit der Staaten
einen Kampf ums Dasein hervor, der auslesend und machtsteigernd wirkt.
steigende Macht nach außen ist zugleich steigender Zwang nach innen. Wir be¬
finden uns in einem Stadium der Prävalenz des Staates. Der Staat drückt das
Individuum und droht es zu ersticken. Wer das erkannt hat und bessern will,
muß das Heilmntcl anwenden: er muß den unbeschränkten Imperialismus er¬
streben, die zu Ende organisierte Menschheit.



Aleine Staatslehre
Dr. Moritz Goldstein von
1.

kaat ist nicht Zweck, nicht Vertrag, nicht Absicht. Staat ist Folge.
Staat i se.


2.

Staat ist kein Organismus, nichts Lebendiges. Er ist
Schema, Form, Apparat. Das Lebendige des Staates ist der

Mensch.


3.

Staat ist um des Menschen Willen da. Wie darf der Mensch dem Staat
geopfert werden? Er darf es und er ist bereit dazu, insofern Staat Bedingung
und Voraussetzung des Menschlichen im Menschen enthält.


4.

Wozu lebt der Mensch? Um zu werden, zu wirken, zu lieben, zu erkennen
und zu schaffen. Braucht er dazu Staat? Jawohl: Staat entlastet, schützt, ver¬
bindet, erleichtert, trögt herbei. Ohne Staat bliebe jeder einzelne ein Tier, dessen
Dasein sich erschöpfte in Beschaffung der Nahrung und Bedeckung, im Schutz des
Lebens und Eigentums. schädigt der Staat nicht zugleich das Individuum?
Man hat den Vorwurf erhoben, daß er die Prächtigkeit des Exemplars beein¬
trächtige. Das ist wahrscheinlich romantischer Irrtum: höhere Exemplare, nach
Wohlbeschaffenheit des Leibes und Mutes, als etwa heutige Kampfflieger und
U-Boot-Kommandanten sind Wohl auch im Urstcmde nicht möglich; sie sind
wahrscheinlich nicht einmal erreichbar. Daß der Staat die Massenhaftigkeit be¬
günstigt und die Auslese hemmt, ist wahr. Dieser Fehler aber liegt nicht im
Wesen des Staates und kann behoben werden.


5.

Die schlimmste Folge des Staates ist der Krieg. Lohnt der Staat den
Krieg? Oder sollte man, um Krieg zu verhüten, auf Staat und seinen Nutzen
verzichten? Oder ist der Nutzen des Staates erreichbar ohne Staat? Ja, für
den einzelnen, der in die Wüste geht. Aber er verzichtet damit aus einen Teil
feines Menschentums. Im ganzen sind jene Fragen deshalb müßig, weil Staat
lst, mit Notwendigkeit, unvermeidbar.


6.

Staat ist Macht durch Organisierung. Macht strebt nach Unbegrenztheit,
Organisierung nach Vollkommenheit. Staat strebt also danach, die Erde zu um¬
fassen. Die zu Ende organisierte Menschheit wäre erlöst: sie hätte den ewigen
Frieden, sie brauchte an Machtmitteln nur noch Polizei, nicht mehr Militär.
Der Sinn des Staates ist also Imperialismus. Mit erreichter Weltherrschaft
höbe der Staat sich selber auf.


7.

So weit sind Wir noch lange nicht. Vorläufig ruft die Vielheit der Staaten
einen Kampf ums Dasein hervor, der auslesend und machtsteigernd wirkt.
steigende Macht nach außen ist zugleich steigender Zwang nach innen. Wir be¬
finden uns in einem Stadium der Prävalenz des Staates. Der Staat drückt das
Individuum und droht es zu ersticken. Wer das erkannt hat und bessern will,
muß das Heilmntcl anwenden: er muß den unbeschränkten Imperialismus er¬
streben, die zu Ende organisierte Menschheit.


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[0214] Aleine Staatslehre Dr. Moritz Goldstein von 1. kaat ist nicht Zweck, nicht Vertrag, nicht Absicht. Staat ist Folge. Staat i se. 2. Staat ist kein Organismus, nichts Lebendiges. Er ist Schema, Form, Apparat. Das Lebendige des Staates ist der Mensch. 3. Staat ist um des Menschen Willen da. Wie darf der Mensch dem Staat geopfert werden? Er darf es und er ist bereit dazu, insofern Staat Bedingung und Voraussetzung des Menschlichen im Menschen enthält. 4. Wozu lebt der Mensch? Um zu werden, zu wirken, zu lieben, zu erkennen und zu schaffen. Braucht er dazu Staat? Jawohl: Staat entlastet, schützt, ver¬ bindet, erleichtert, trögt herbei. Ohne Staat bliebe jeder einzelne ein Tier, dessen Dasein sich erschöpfte in Beschaffung der Nahrung und Bedeckung, im Schutz des Lebens und Eigentums. schädigt der Staat nicht zugleich das Individuum? Man hat den Vorwurf erhoben, daß er die Prächtigkeit des Exemplars beein¬ trächtige. Das ist wahrscheinlich romantischer Irrtum: höhere Exemplare, nach Wohlbeschaffenheit des Leibes und Mutes, als etwa heutige Kampfflieger und U-Boot-Kommandanten sind Wohl auch im Urstcmde nicht möglich; sie sind wahrscheinlich nicht einmal erreichbar. Daß der Staat die Massenhaftigkeit be¬ günstigt und die Auslese hemmt, ist wahr. Dieser Fehler aber liegt nicht im Wesen des Staates und kann behoben werden. 5. Die schlimmste Folge des Staates ist der Krieg. Lohnt der Staat den Krieg? Oder sollte man, um Krieg zu verhüten, auf Staat und seinen Nutzen verzichten? Oder ist der Nutzen des Staates erreichbar ohne Staat? Ja, für den einzelnen, der in die Wüste geht. Aber er verzichtet damit aus einen Teil feines Menschentums. Im ganzen sind jene Fragen deshalb müßig, weil Staat lst, mit Notwendigkeit, unvermeidbar. 6. Staat ist Macht durch Organisierung. Macht strebt nach Unbegrenztheit, Organisierung nach Vollkommenheit. Staat strebt also danach, die Erde zu um¬ fassen. Die zu Ende organisierte Menschheit wäre erlöst: sie hätte den ewigen Frieden, sie brauchte an Machtmitteln nur noch Polizei, nicht mehr Militär. Der Sinn des Staates ist also Imperialismus. Mit erreichter Weltherrschaft höbe der Staat sich selber auf. 7. So weit sind Wir noch lange nicht. Vorläufig ruft die Vielheit der Staaten einen Kampf ums Dasein hervor, der auslesend und machtsteigernd wirkt. steigende Macht nach außen ist zugleich steigender Zwang nach innen. Wir be¬ finden uns in einem Stadium der Prävalenz des Staates. Der Staat drückt das Individuum und droht es zu ersticken. Wer das erkannt hat und bessern will, muß das Heilmntcl anwenden: er muß den unbeschränkten Imperialismus er¬ streben, die zu Ende organisierte Menschheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/214>, abgerufen am 27.11.2024.