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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

deutschen Volke lebendigen Empfindungen sind, so darf doch nicht vergessen werden,
daß nach dem Kriege trotz allem Deutschland und Amerika, was Ein- und Aus¬
fuhr betrifft, in erhöhtem Maße in Wechselwirkung treten werden, da die deutsche
Industrie in der Beschaffung der fehlenden, durch die Absperrung aufgebrauchten
Rohmaterialien ebenso auf Amerika, wie die amerikanische Industrie in vielen
Dingen unbedingt auf deutsche Erzeugnisse angewiesen ist.




Zum Problem der sogenannten Einheitsschule
Professor Dr. Paul Hildebrandt von

urch den Krieg ist die Forderung der sogenannten "Einheitsschule"
noch drängender geworden als vorher. Mit dem Schlagwort
"Ein Volk, ein Heer, eine Schule" hat man sie populär gestaltet
und sich infolgedessen der Mühe überhoben gefühlt, eine klare
und deutliche Definition des Begriffs zu geben. Ein kurzer
historischer Rückblick soll uns zu ihr leiten.

Die Volksschule, die Karl der Große vorausahnend hatte gründen wollen,
wurde erst achthundert Jahre später durch die Reformation ins Leben gerufen, aus
den beiden Ideen des allgemeinen Priestertums und der Gleichheit der Menschen
heraus. Jeder soll sich sein verantwortliches Urteil in Sachen der Religion selber
bilden können, daher muß er das Minimum von Bildung besitzen, das ihn hierzu
befähigt. Die im achtzehnten Jahrhundert durchgeführte allgemeine Volksschule
gründet sich also auf die deutsche Muttersprache. Den Gedanken der Verbindung
dieser Einrichtung mit den für die höhere Bildung getroffenen Einrichtungen konnte
erst die Zeit ausdenken -- abgesehen von der Theorie des Comenius -- die die
Stützen des Thrones gerade in den Besuchern der Volksschule gefunden hatte: Süvern
verlangte in seinem Entwurf zur Reformation des Bildungswesens eine organische
Verbindung von Volks-, Realschule und Gymnasium, unbeschadet ihrer speziellen
Zwecke. Die Forderung blieb auf dem Papier. Die Folgezeit umwob sie mit
einem Glorienschein, indem sie ihre Ausführung verhinderte. Die Kämpfe um
die Konstitution, dann um das Reich, waren Schulinteressen nicht günstig, am
wenigsten der Fortbildung der Volksschule und den Forderungen ihrer Lehrer.
Um so zäher hielten sie an dem Ideal der Einheitsschule fest: schon 1872 ver¬
langten sie ihre Durchführung, und die letzte Versammlung in Kiel 1914 hat
gezeigt, daß sie -- mit neuen Begründungen -- auf demselben Standpunkt stehen.
Die Einheitsschule ist ihnen die Schule, die jedem Bürger gestattet, seinem
Kinde die Bildung zu gewähren, auf welche es nach seinen Fähigkeiten Anspruch


Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

deutschen Volke lebendigen Empfindungen sind, so darf doch nicht vergessen werden,
daß nach dem Kriege trotz allem Deutschland und Amerika, was Ein- und Aus¬
fuhr betrifft, in erhöhtem Maße in Wechselwirkung treten werden, da die deutsche
Industrie in der Beschaffung der fehlenden, durch die Absperrung aufgebrauchten
Rohmaterialien ebenso auf Amerika, wie die amerikanische Industrie in vielen
Dingen unbedingt auf deutsche Erzeugnisse angewiesen ist.




Zum Problem der sogenannten Einheitsschule
Professor Dr. Paul Hildebrandt von

urch den Krieg ist die Forderung der sogenannten „Einheitsschule"
noch drängender geworden als vorher. Mit dem Schlagwort
„Ein Volk, ein Heer, eine Schule" hat man sie populär gestaltet
und sich infolgedessen der Mühe überhoben gefühlt, eine klare
und deutliche Definition des Begriffs zu geben. Ein kurzer
historischer Rückblick soll uns zu ihr leiten.

Die Volksschule, die Karl der Große vorausahnend hatte gründen wollen,
wurde erst achthundert Jahre später durch die Reformation ins Leben gerufen, aus
den beiden Ideen des allgemeinen Priestertums und der Gleichheit der Menschen
heraus. Jeder soll sich sein verantwortliches Urteil in Sachen der Religion selber
bilden können, daher muß er das Minimum von Bildung besitzen, das ihn hierzu
befähigt. Die im achtzehnten Jahrhundert durchgeführte allgemeine Volksschule
gründet sich also auf die deutsche Muttersprache. Den Gedanken der Verbindung
dieser Einrichtung mit den für die höhere Bildung getroffenen Einrichtungen konnte
erst die Zeit ausdenken — abgesehen von der Theorie des Comenius — die die
Stützen des Thrones gerade in den Besuchern der Volksschule gefunden hatte: Süvern
verlangte in seinem Entwurf zur Reformation des Bildungswesens eine organische
Verbindung von Volks-, Realschule und Gymnasium, unbeschadet ihrer speziellen
Zwecke. Die Forderung blieb auf dem Papier. Die Folgezeit umwob sie mit
einem Glorienschein, indem sie ihre Ausführung verhinderte. Die Kämpfe um
die Konstitution, dann um das Reich, waren Schulinteressen nicht günstig, am
wenigsten der Fortbildung der Volksschule und den Forderungen ihrer Lehrer.
Um so zäher hielten sie an dem Ideal der Einheitsschule fest: schon 1872 ver¬
langten sie ihre Durchführung, und die letzte Versammlung in Kiel 1914 hat
gezeigt, daß sie — mit neuen Begründungen — auf demselben Standpunkt stehen.
Die Einheitsschule ist ihnen die Schule, die jedem Bürger gestattet, seinem
Kinde die Bildung zu gewähren, auf welche es nach seinen Fähigkeiten Anspruch


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[0322] Zum Problem der sogenannten Einheitsschule deutschen Volke lebendigen Empfindungen sind, so darf doch nicht vergessen werden, daß nach dem Kriege trotz allem Deutschland und Amerika, was Ein- und Aus¬ fuhr betrifft, in erhöhtem Maße in Wechselwirkung treten werden, da die deutsche Industrie in der Beschaffung der fehlenden, durch die Absperrung aufgebrauchten Rohmaterialien ebenso auf Amerika, wie die amerikanische Industrie in vielen Dingen unbedingt auf deutsche Erzeugnisse angewiesen ist. Zum Problem der sogenannten Einheitsschule Professor Dr. Paul Hildebrandt von urch den Krieg ist die Forderung der sogenannten „Einheitsschule" noch drängender geworden als vorher. Mit dem Schlagwort „Ein Volk, ein Heer, eine Schule" hat man sie populär gestaltet und sich infolgedessen der Mühe überhoben gefühlt, eine klare und deutliche Definition des Begriffs zu geben. Ein kurzer historischer Rückblick soll uns zu ihr leiten. Die Volksschule, die Karl der Große vorausahnend hatte gründen wollen, wurde erst achthundert Jahre später durch die Reformation ins Leben gerufen, aus den beiden Ideen des allgemeinen Priestertums und der Gleichheit der Menschen heraus. Jeder soll sich sein verantwortliches Urteil in Sachen der Religion selber bilden können, daher muß er das Minimum von Bildung besitzen, das ihn hierzu befähigt. Die im achtzehnten Jahrhundert durchgeführte allgemeine Volksschule gründet sich also auf die deutsche Muttersprache. Den Gedanken der Verbindung dieser Einrichtung mit den für die höhere Bildung getroffenen Einrichtungen konnte erst die Zeit ausdenken — abgesehen von der Theorie des Comenius — die die Stützen des Thrones gerade in den Besuchern der Volksschule gefunden hatte: Süvern verlangte in seinem Entwurf zur Reformation des Bildungswesens eine organische Verbindung von Volks-, Realschule und Gymnasium, unbeschadet ihrer speziellen Zwecke. Die Forderung blieb auf dem Papier. Die Folgezeit umwob sie mit einem Glorienschein, indem sie ihre Ausführung verhinderte. Die Kämpfe um die Konstitution, dann um das Reich, waren Schulinteressen nicht günstig, am wenigsten der Fortbildung der Volksschule und den Forderungen ihrer Lehrer. Um so zäher hielten sie an dem Ideal der Einheitsschule fest: schon 1872 ver¬ langten sie ihre Durchführung, und die letzte Versammlung in Kiel 1914 hat gezeigt, daß sie — mit neuen Begründungen — auf demselben Standpunkt stehen. Die Einheitsschule ist ihnen die Schule, die jedem Bürger gestattet, seinem Kinde die Bildung zu gewähren, auf welche es nach seinen Fähigkeiten Anspruch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/322>, abgerufen am 23.07.2024.