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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Hexenkessel

und schrien: "Diese Jüdin hat das Kind gestohlen und geht mit ihm zum
Hauptjuden, um den Kleinen zum jüdischen Ostern zu schlachten". Die Dame
protestierte. Es kam aber nichts dabei heraus. Bald wuchs die Menge in die
Hunderte. Ein Polizist versuchte vergeblich, die Wilden zu beruhigen. Die
Weiber fingen an mit Schneeklumpen auf die Unglückliche zu werfen, die man
beschuldigte, das Kind gestohlen zu haben. Die Aufregung wuchs. Da gelang
es mehreren Polizisten, durch die Menge zu dringen, die Dame in einem
Jswoschtschik nach ihrer nahen Wohnung zu bringen, wo sich herausstellte, daß
das Kind ihre Nichte, das Töchterchen eines russischen Offiziers war, der in
einem Schützengraben fürs Vaterland kämpfte. -- Die heulende Menge, die
noch lange nicht zu beruhigen war und nach dem Blut der "Jüdin" dürstete,
mußte mit einem großen Polizeiaufgebot auseinandergetrieben werden.....
So zu lesen in der "Rjetsch" vom 3./16. März 1916, im zweiten Jahre des
vaterländischen Krieges. ...


5. Akt.
In der Duma.

Miljukow: "Ich weiß es nicht bestimmt, ob uns die Regierung zu einer
Niederlage führen wird. Wir fürchten das und wollen dem zuvorkommen.
Aber ich weiß bestimmt, daß die Revolution in Rußland unbedingt zur Nieder¬
lage führt. Nicht umsonst wartet darauf unser Feind. Wenn man mir sagen
würde, daß "Rußland für den Sieg organisieren" zugleich bedeutet, "Rußland
für die Revolution zu organisieren", so würde ich antworten: Laßt das Land
für die Dauer des Krieges lieber so wie es war -- ohne Organisation . . ."

Samyslowski: "Weshalb häuft man auf uns alle diese Beschuldigungen?
Man tut das deshalb, weil die Leute, die laut nach der Organisation des
Sieges schreien, in Wahrheit danach streben, die Gewalt in ihre Hände zu
bringen, um ihre Abrechnung mit den Feinden ihrer Partei zu machen. Wenn
man uns das Etikett von Deutschfreunden anklebt, so ist das ein sehr ge¬
schickter Trick des Parteikampfes ..."

Roditschew: "Verhelft der Gerechtigkeit zur Herrschaft und der Russe
wird seine wirklichen Feinde finden und mit ihnen fertig werden. Wenn aber
die Erneuerung nicht kommt, so laßt die Hoffnung auf den Sieg für immer
fahren."




Der Hexenkessel

und schrien: „Diese Jüdin hat das Kind gestohlen und geht mit ihm zum
Hauptjuden, um den Kleinen zum jüdischen Ostern zu schlachten". Die Dame
protestierte. Es kam aber nichts dabei heraus. Bald wuchs die Menge in die
Hunderte. Ein Polizist versuchte vergeblich, die Wilden zu beruhigen. Die
Weiber fingen an mit Schneeklumpen auf die Unglückliche zu werfen, die man
beschuldigte, das Kind gestohlen zu haben. Die Aufregung wuchs. Da gelang
es mehreren Polizisten, durch die Menge zu dringen, die Dame in einem
Jswoschtschik nach ihrer nahen Wohnung zu bringen, wo sich herausstellte, daß
das Kind ihre Nichte, das Töchterchen eines russischen Offiziers war, der in
einem Schützengraben fürs Vaterland kämpfte. — Die heulende Menge, die
noch lange nicht zu beruhigen war und nach dem Blut der „Jüdin" dürstete,
mußte mit einem großen Polizeiaufgebot auseinandergetrieben werden.....
So zu lesen in der „Rjetsch" vom 3./16. März 1916, im zweiten Jahre des
vaterländischen Krieges. ...


5. Akt.
In der Duma.

Miljukow: „Ich weiß es nicht bestimmt, ob uns die Regierung zu einer
Niederlage führen wird. Wir fürchten das und wollen dem zuvorkommen.
Aber ich weiß bestimmt, daß die Revolution in Rußland unbedingt zur Nieder¬
lage führt. Nicht umsonst wartet darauf unser Feind. Wenn man mir sagen
würde, daß „Rußland für den Sieg organisieren" zugleich bedeutet, „Rußland
für die Revolution zu organisieren", so würde ich antworten: Laßt das Land
für die Dauer des Krieges lieber so wie es war — ohne Organisation . . ."

Samyslowski: „Weshalb häuft man auf uns alle diese Beschuldigungen?
Man tut das deshalb, weil die Leute, die laut nach der Organisation des
Sieges schreien, in Wahrheit danach streben, die Gewalt in ihre Hände zu
bringen, um ihre Abrechnung mit den Feinden ihrer Partei zu machen. Wenn
man uns das Etikett von Deutschfreunden anklebt, so ist das ein sehr ge¬
schickter Trick des Parteikampfes ..."

Roditschew: „Verhelft der Gerechtigkeit zur Herrschaft und der Russe
wird seine wirklichen Feinde finden und mit ihnen fertig werden. Wenn aber
die Erneuerung nicht kommt, so laßt die Hoffnung auf den Sieg für immer
fahren."




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/68>, abgerufen am 27.07.2024.