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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aunst

Alvcrt Dresdner: Die Kunstkritik. Ihre
Geschichte und Theorie. Erster Teil: Die
Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang
der Geschichte des europäischen Kunstlebens.
München 1916. Fr. Bruckmann A,°G.

Wer sich in unseren von Ereignissen durch¬
drängten Tagen noch deutlich an die Zeit
vor dem Kriege zu entsinnen vermag, und auch
mitten in Kriegswirren das jetzt so eigenartig
umwitterte Leben der Kunst nicht ganz aus
den Augen verloren hat, der wird sich noch
gut jener unsicheren Empfindung erinnern,
die ihn ergriff, wenn von der Wirkung der
Kunst die Rede war. Es gab große Be¬
gabungen, es gab ein öffentliches Kunstinteresse,
es gab neu hervordrängende Kräfte und Pro¬
bleme, aber irgendwie schwebte all dies so eifrig
debattierte Kunstleben, statt auf dem Boden
unserer realen Existenz zu wachsen, wie eine
glänzende Fata Morgana in der Luft, irgend¬
wie glich sie einem fremdartigen, zugeflogenen
Vogel, den man anstaunte oder schalt, zu dem
man jedoch selten aufrichtig Stellung nehmen
mochte. Solcher Zustand mußte über kurz
oder lang zu einer Katastrophe führen, und
wir mögen uns glücklich schätzen, daß der
Ausbruch des Krieges die Krisis beschleunigt
hat. Denn nun scheute man sich nicht, die
Kunst nach dem Maße zu beurteilen, in dem
ihr die Bewältigung der durch die Zeit ge¬
stellten Aufgaben, die Befriedigung lebendiger
und brennend empfundener Kunstbedürfnisse
gelang und es müßte merkwürdig zugehen,

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wenn nicht auch nach dem Kriege Urteil und
Forderung auf der einmal mutig einge¬
schlagenen Bahn fortschritten. In einem solchen
Augenblick aber stellt ein so anregendes und
trotz mancher in der hier gebotenen Kürze
nicht näher zu berührenden wissen¬
schaftlichen Mängel, im besten Sinne
klärendes Buch wie das vorliegende sich als
höchst willkommen ein, zeigt es uns doch
deutlich die Entstehung jenes von den Künst¬
lern unserer Tage so schwer empfundenen
Konfliktes zwischen dem bald als stolzes Vor¬
recht erfochtenen, bald als leere Virtuosität
gescholtenen starken Eigenleben der Kunst und
den nicht minder hartnäckig sich geltend
machenden Anforderungen des Publikums.
Im Mittelalter besteht dieser Konflikt noch-
nicht, der Künstler ist lediglich Handwerker,
der Wohl von guter und solider Arbeit, aber
noch nichts von der Muse weiß. Erst in der
Renaissance entwickelt er sich zum Signore,
zum Herren aller Dinge, der sich als Ver¬
treter der neuen Bildung fühlt und seine An¬
sprüche im Akademismus organisiert. Aber
leider fehlt dieser ideellen Erhöhung die wirt¬
schaftliche Grundlage, und so sieht sich der
Künstler genötigt, an ein "kunstverständiges"
Publikum zu appellieren. Mit diesem Moment
wird die Kunstkritik geboren; ihrer Begründung
im einzelnen, ihren erstenExistenzlämpfen bis zur
Weiterentwickelung durch ihren ersten glänzenden
Vertreter, Diderot, ist der vorliegende erste
Band gewidmet, ein zweiter soll das neun¬
zehnte Jahrhundert, ein dritter die Theorie der
Dr, R. sah. ^ Kunstkritik behandeln.

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Aunst

Alvcrt Dresdner: Die Kunstkritik. Ihre
Geschichte und Theorie. Erster Teil: Die
Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang
der Geschichte des europäischen Kunstlebens.
München 1916. Fr. Bruckmann A,°G.

Wer sich in unseren von Ereignissen durch¬
drängten Tagen noch deutlich an die Zeit
vor dem Kriege zu entsinnen vermag, und auch
mitten in Kriegswirren das jetzt so eigenartig
umwitterte Leben der Kunst nicht ganz aus
den Augen verloren hat, der wird sich noch
gut jener unsicheren Empfindung erinnern,
die ihn ergriff, wenn von der Wirkung der
Kunst die Rede war. Es gab große Be¬
gabungen, es gab ein öffentliches Kunstinteresse,
es gab neu hervordrängende Kräfte und Pro¬
bleme, aber irgendwie schwebte all dies so eifrig
debattierte Kunstleben, statt auf dem Boden
unserer realen Existenz zu wachsen, wie eine
glänzende Fata Morgana in der Luft, irgend¬
wie glich sie einem fremdartigen, zugeflogenen
Vogel, den man anstaunte oder schalt, zu dem
man jedoch selten aufrichtig Stellung nehmen
mochte. Solcher Zustand mußte über kurz
oder lang zu einer Katastrophe führen, und
wir mögen uns glücklich schätzen, daß der
Ausbruch des Krieges die Krisis beschleunigt
hat. Denn nun scheute man sich nicht, die
Kunst nach dem Maße zu beurteilen, in dem
ihr die Bewältigung der durch die Zeit ge¬
stellten Aufgaben, die Befriedigung lebendiger
und brennend empfundener Kunstbedürfnisse
gelang und es müßte merkwürdig zugehen,

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wenn nicht auch nach dem Kriege Urteil und
Forderung auf der einmal mutig einge¬
schlagenen Bahn fortschritten. In einem solchen
Augenblick aber stellt ein so anregendes und
trotz mancher in der hier gebotenen Kürze
nicht näher zu berührenden wissen¬
schaftlichen Mängel, im besten Sinne
klärendes Buch wie das vorliegende sich als
höchst willkommen ein, zeigt es uns doch
deutlich die Entstehung jenes von den Künst¬
lern unserer Tage so schwer empfundenen
Konfliktes zwischen dem bald als stolzes Vor¬
recht erfochtenen, bald als leere Virtuosität
gescholtenen starken Eigenleben der Kunst und
den nicht minder hartnäckig sich geltend
machenden Anforderungen des Publikums.
Im Mittelalter besteht dieser Konflikt noch-
nicht, der Künstler ist lediglich Handwerker,
der Wohl von guter und solider Arbeit, aber
noch nichts von der Muse weiß. Erst in der
Renaissance entwickelt er sich zum Signore,
zum Herren aller Dinge, der sich als Ver¬
treter der neuen Bildung fühlt und seine An¬
sprüche im Akademismus organisiert. Aber
leider fehlt dieser ideellen Erhöhung die wirt¬
schaftliche Grundlage, und so sieht sich der
Künstler genötigt, an ein „kunstverständiges"
Publikum zu appellieren. Mit diesem Moment
wird die Kunstkritik geboren; ihrer Begründung
im einzelnen, ihren erstenExistenzlämpfen bis zur
Weiterentwickelung durch ihren ersten glänzenden
Vertreter, Diderot, ist der vorliegende erste
Band gewidmet, ein zweiter soll das neun¬
zehnte Jahrhundert, ein dritter die Theorie der
Dr, R. sah. ^ Kunstkritik behandeln.

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[0265] Aunst Alvcrt Dresdner: Die Kunstkritik. Ihre Geschichte und Theorie. Erster Teil: Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens. München 1916. Fr. Bruckmann A,°G. Wer sich in unseren von Ereignissen durch¬ drängten Tagen noch deutlich an die Zeit vor dem Kriege zu entsinnen vermag, und auch mitten in Kriegswirren das jetzt so eigenartig umwitterte Leben der Kunst nicht ganz aus den Augen verloren hat, der wird sich noch gut jener unsicheren Empfindung erinnern, die ihn ergriff, wenn von der Wirkung der Kunst die Rede war. Es gab große Be¬ gabungen, es gab ein öffentliches Kunstinteresse, es gab neu hervordrängende Kräfte und Pro¬ bleme, aber irgendwie schwebte all dies so eifrig debattierte Kunstleben, statt auf dem Boden unserer realen Existenz zu wachsen, wie eine glänzende Fata Morgana in der Luft, irgend¬ wie glich sie einem fremdartigen, zugeflogenen Vogel, den man anstaunte oder schalt, zu dem man jedoch selten aufrichtig Stellung nehmen mochte. Solcher Zustand mußte über kurz oder lang zu einer Katastrophe führen, und wir mögen uns glücklich schätzen, daß der Ausbruch des Krieges die Krisis beschleunigt hat. Denn nun scheute man sich nicht, die Kunst nach dem Maße zu beurteilen, in dem ihr die Bewältigung der durch die Zeit ge¬ stellten Aufgaben, die Befriedigung lebendiger und brennend empfundener Kunstbedürfnisse gelang und es müßte merkwürdig zugehen, wenn nicht auch nach dem Kriege Urteil und Forderung auf der einmal mutig einge¬ schlagenen Bahn fortschritten. In einem solchen Augenblick aber stellt ein so anregendes und trotz mancher in der hier gebotenen Kürze nicht näher zu berührenden wissen¬ schaftlichen Mängel, im besten Sinne klärendes Buch wie das vorliegende sich als höchst willkommen ein, zeigt es uns doch deutlich die Entstehung jenes von den Künst¬ lern unserer Tage so schwer empfundenen Konfliktes zwischen dem bald als stolzes Vor¬ recht erfochtenen, bald als leere Virtuosität gescholtenen starken Eigenleben der Kunst und den nicht minder hartnäckig sich geltend machenden Anforderungen des Publikums. Im Mittelalter besteht dieser Konflikt noch- nicht, der Künstler ist lediglich Handwerker, der Wohl von guter und solider Arbeit, aber noch nichts von der Muse weiß. Erst in der Renaissance entwickelt er sich zum Signore, zum Herren aller Dinge, der sich als Ver¬ treter der neuen Bildung fühlt und seine An¬ sprüche im Akademismus organisiert. Aber leider fehlt dieser ideellen Erhöhung die wirt¬ schaftliche Grundlage, und so sieht sich der Künstler genötigt, an ein „kunstverständiges" Publikum zu appellieren. Mit diesem Moment wird die Kunstkritik geboren; ihrer Begründung im einzelnen, ihren erstenExistenzlämpfen bis zur Weiterentwickelung durch ihren ersten glänzenden Vertreter, Diderot, ist der vorliegende erste Band gewidmet, ein zweiter soll das neun¬ zehnte Jahrhundert, ein dritter die Theorie der Dr, R. sah. ^ Kunstkritik behandeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/265>, abgerufen am 22.07.2024.