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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schöne Literatur [Spaltenumbruch]

blühte nicht minder der Erfolg auf dem
internationalen Markte. Und wir Deutschen,
in Sachen des Kulmrkosmopolitismus von
jeher voran, besitzen oder besaßen ja eine
eigene Zeitschrift, die nichts anderes als aus
fremden Zungen übersetzte Dichtungen brachte.

Bei soviel allseitig sich geltend machender
Neigung für fremdsprachliches Literaturgut ist
eine Neuerung in der Herausgabe dieser
Literatur, mit der der Tempelverlag den
Anfang -gemacht hat, so zeitgemäß wie dan¬
kenswert. Der Tempelverlag, dessen vor¬
nehm-künstlerisch ausgestattete und dabei be¬
merkenswert billige Klassiker bekannt sind,
hat es unternommen, einige der bedeutendsten
Werke der Weltliteratur in zwei Sprachen
herauszugeben. Auf der linken Seite hat
man den Urtext, rechts daneben die deutsche
Übertragung. In dieser Anordnung sind der
Homer und das Nibelungenlied, Shake¬
speares "Hamlet" und "Romeo und Julia", der
"Sommernachtstraum" und das "Wintermür-
chen" "Othello" und "König Lear" bereits
herausgekommen. Der Genuß der Lektüre
dieser zweisprachigen Bücher ist ein ganz
eigenartiger. Man kennt von der Schule,
kennt von der privaten Lektüre her seine
Odyssee, seinen Hamlet stellenweise aus¬
wendig, aber mehr dem Wortsinn als dem
urtextlichen Worte selber nach. Nun schlägt
man diese Stellen auf, geht diese und jene
Szene durch, und da findet man zu seiner
Freude die altvertraute Wortwendung, den
entfallenen Vers gleich links nebenan wieder.
Dies Wiederfinden leitet zu neuer Vertiefung.
Man geht ganze Akte, ganze Gesänge von
vorne an durch, vergleicht Urtext und
Übersetzung, entdeckt neue Schönheiten,
empfindet auch wohl Mängel der Verdeut¬
schung, die man zu verbessern versucht, und
indem man so mit den Teilen verwächst, wird
das Ganze der Dichtung lieber und vertrauter.
DaS zweisprachige Buch führt tiefer in den

[Ende Spaltensatz]

Zweisprachige Dichter. Seit Goethe den
Begriff "Weltliteratur" geschaffen und als der
sozusagen erste "gute Europäer" nicht die
deutsche nur, sondern auch die fremde, die
ausländische Kultur aufzufangen, in sich zu
pflogen und zu verarbeiten begonnen hat --
seit dieser Zeit eines beginnenden Kultur¬
kosmopolitismus sehen wir die Völker
Europas, voran die Deutschen, eifrig be¬
müht, nicht nur Bodenschätze und Werkstatt¬
erzeugnisse, sondern auch Literaturwerke aus¬
zutauschen. Dieser Austausch wird möglich
durch Übersetzertätigkeit, die für eine Reihe
von Leuten in allen Ländern zu einem Eigen-
bcruf geworden ist. Wir sind heute so weit,
daß wir nicht nur den Homer, den Dante,
den Shakespeare, den Goethe in allen Hauvt-
und Nebensprachen lebendig wissen -- vor
nicht langer Zeit erst wurde in den Zei¬
tungen über Faust-Aufführungen in japa¬
nischer Sprache aus Tokio berichtet --,
sondern auch die kleinere literarische Gegen¬
wart jedes Volkes Gemeingut aller werden
sehen. HervorragendeSchriflsteller und Dichter,
ja auch nicht - hervorragende, nur "Populäre",
nur von Sensationen emporgetragene sind
heutigen Tages Menschheitsbesitz. Erlebten
Wir es doch, daß Bernhard Kellermanns
Roman "Der Tunnel", der literarisch ge¬
sehen nicht mehr als besseres Mittelgut, stoff¬
lich betrachtet aber freilich echtestes Zeit¬
erzeugnis ist, noch im Jahr seines Er¬
scheinens in die englische, dänische, norwegische,
schwedische, russische, polnische, lettische, spa¬
nische, französische, böhmische, holländische und
ungarische Sprache übersetzt wurde I Ein
redendes Zeichen für das geistige Zusammen¬
wachsen der heutigen Kulturvölker. Aber nur
eines von vielenI Den Werken der Dosto¬
jewski, Tolstoi, Maupassant, Shaw, Gerhart
Hauptmann und vieler anderer neuzeitlichen




Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schöne Literatur [Spaltenumbruch]

blühte nicht minder der Erfolg auf dem
internationalen Markte. Und wir Deutschen,
in Sachen des Kulmrkosmopolitismus von
jeher voran, besitzen oder besaßen ja eine
eigene Zeitschrift, die nichts anderes als aus
fremden Zungen übersetzte Dichtungen brachte.

Bei soviel allseitig sich geltend machender
Neigung für fremdsprachliches Literaturgut ist
eine Neuerung in der Herausgabe dieser
Literatur, mit der der Tempelverlag den
Anfang -gemacht hat, so zeitgemäß wie dan¬
kenswert. Der Tempelverlag, dessen vor¬
nehm-künstlerisch ausgestattete und dabei be¬
merkenswert billige Klassiker bekannt sind,
hat es unternommen, einige der bedeutendsten
Werke der Weltliteratur in zwei Sprachen
herauszugeben. Auf der linken Seite hat
man den Urtext, rechts daneben die deutsche
Übertragung. In dieser Anordnung sind der
Homer und das Nibelungenlied, Shake¬
speares „Hamlet" und „Romeo und Julia", der
„Sommernachtstraum" und das „Wintermür-
chen" „Othello" und „König Lear" bereits
herausgekommen. Der Genuß der Lektüre
dieser zweisprachigen Bücher ist ein ganz
eigenartiger. Man kennt von der Schule,
kennt von der privaten Lektüre her seine
Odyssee, seinen Hamlet stellenweise aus¬
wendig, aber mehr dem Wortsinn als dem
urtextlichen Worte selber nach. Nun schlägt
man diese Stellen auf, geht diese und jene
Szene durch, und da findet man zu seiner
Freude die altvertraute Wortwendung, den
entfallenen Vers gleich links nebenan wieder.
Dies Wiederfinden leitet zu neuer Vertiefung.
Man geht ganze Akte, ganze Gesänge von
vorne an durch, vergleicht Urtext und
Übersetzung, entdeckt neue Schönheiten,
empfindet auch wohl Mängel der Verdeut¬
schung, die man zu verbessern versucht, und
indem man so mit den Teilen verwächst, wird
das Ganze der Dichtung lieber und vertrauter.
DaS zweisprachige Buch führt tiefer in den

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Zweisprachige Dichter. Seit Goethe den
Begriff „Weltliteratur" geschaffen und als der
sozusagen erste „gute Europäer" nicht die
deutsche nur, sondern auch die fremde, die
ausländische Kultur aufzufangen, in sich zu
pflogen und zu verarbeiten begonnen hat —
seit dieser Zeit eines beginnenden Kultur¬
kosmopolitismus sehen wir die Völker
Europas, voran die Deutschen, eifrig be¬
müht, nicht nur Bodenschätze und Werkstatt¬
erzeugnisse, sondern auch Literaturwerke aus¬
zutauschen. Dieser Austausch wird möglich
durch Übersetzertätigkeit, die für eine Reihe
von Leuten in allen Ländern zu einem Eigen-
bcruf geworden ist. Wir sind heute so weit,
daß wir nicht nur den Homer, den Dante,
den Shakespeare, den Goethe in allen Hauvt-
und Nebensprachen lebendig wissen — vor
nicht langer Zeit erst wurde in den Zei¬
tungen über Faust-Aufführungen in japa¬
nischer Sprache aus Tokio berichtet —,
sondern auch die kleinere literarische Gegen¬
wart jedes Volkes Gemeingut aller werden
sehen. HervorragendeSchriflsteller und Dichter,
ja auch nicht - hervorragende, nur „Populäre",
nur von Sensationen emporgetragene sind
heutigen Tages Menschheitsbesitz. Erlebten
Wir es doch, daß Bernhard Kellermanns
Roman „Der Tunnel", der literarisch ge¬
sehen nicht mehr als besseres Mittelgut, stoff¬
lich betrachtet aber freilich echtestes Zeit¬
erzeugnis ist, noch im Jahr seines Er¬
scheinens in die englische, dänische, norwegische,
schwedische, russische, polnische, lettische, spa¬
nische, französische, böhmische, holländische und
ungarische Sprache übersetzt wurde I Ein
redendes Zeichen für das geistige Zusammen¬
wachsen der heutigen Kulturvölker. Aber nur
eines von vielenI Den Werken der Dosto¬
jewski, Tolstoi, Maupassant, Shaw, Gerhart
Hauptmann und vieler anderer neuzeitlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/105>, abgerufen am 13.11.2024.