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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

es wahrscheinlich meistens der Fall ist, eine
Festsetzung dem Schulvorstande oder sogar
dem Schulleiter zu überlassen und von einer
Bekanntmachung ihrerseits überhaupt abzu¬
sehen, da sonst eine Versäumnis des Unter¬
richts der Fortbildungsschule nicht bestraft
werden kann.

Rechtsanwalt Dr. Vonschott
Literatur

Tschun. Roman von Elisabeth v. Heyking.
Verlag Ullstein u, Co., Berlin-Wien. 3 M.

Ein Zufall ließ dieses Buch auf den
Schreibtisch eines Outsiders gelangen, der
nicht gewohnt ist, den Richter in literarischen
Dingen zu spielen und nicht belastet ist von
der Pflicht täglichen Rechtsprechens. Es gibt
viele Stufen auf der Leiter zur Kunst, und
der Kenner hat die Pflicht, jedem Werke seine
Stelle auf der Folge der (Zrsclus act l^rimssum
zu weisen. Wer nicht die Last der Verant¬
wortung eines Richteramtes fühlt, darf sich
ein rascheres Urteil anmaßen und begnügt
sich mit der Feststellung, daß dieses Buch so
wenig mit der Kunst zu tun hat wie mit
verschwindenden Ausnahmen die ganze übrige
Sündflut der Unterhaltungsliteratur, die in
jedem Jahre, das der Herr werden läßt,
durch die Druckerpressen geht, daß es aber
so gut wie viele andere das lesehungrige
Publikum über ein Paar leere Stunden hin¬
wegtäuschen wird. Als Zeitungsroman war
Tschun bereits ein unbestrittener Erfolg. Die
großen Plakate mit ihren feierlichen Lettern,
die an allen Litfaßsäulen Berlins Prangten,
ließen darauf schließen, daß kundige Verleger
in dem Worte eine Zauberkraft vermuteten.

China ist große Mode. Einen Roman
aus der Zeit der Boxerunruhen muß jeder
gelesen haben. Angenehm läßt sich da nach¬
holen, was man seinerzeit versäumte. Denn
weder die Zeitungen noch das Publikum

[Spaltenumbruch]

hatten damals die rechte Vorstellung von der
Tragweite der Ereignisse. Heute gehört es
zum guten Ton, eNvas von äußerer
Politik zu wissen, aber den dicken Band, der
die Geschichte der Kaiserinwitwe von China
auf Grund der Quellen und Dokumente ein¬
gehend schildert, entschließt man sich doch nicht
so leicht zur Hand zu nehmen wie einen
lesbar zubereiteten Roman. Die Verfasserin
kennt ihr Publikum. Sie macht einen jungen
Chinesen -- der Sauberkeit halber wird er
zunächst einmal gut christlich getauft -- zum
Helden ihrer Erzählung und projiziert ihr
Wissen um die Ereignisse und ihre Kenntnisse
von Land und Leuten in das Hirn dieses
Boys, um in hinkenden Nebensätzen trotzdem
ihren europäischen Lesern die nötigen Er¬
klärungen nicht entgehen zu lassen.

Die Kunst eines solchen Buches sollte es
sein, ein Wissen zu verbergen, das hier auf
jeder Seite zur Schau gestellt wird. Es
gehört schon eine feinere Hand dazu, ohne
direkt beschreibende Worte Menschen zu
zeichnen. So bleiben alle Personen, mit
denen Tschun in Berührung kommt, wesen¬
lose Schatten, und er selbst ist das leblose
Sprachrohr der Verfasserin. Auch dazu braucht
es intimere Kenntnis und ein besser ver¬
stehendes Einfühlen, einen Menschen fremder
Nasse lebendig werden zu lassen. Wenige
haben das gekonnt. Mag sein, daß der
Verfasserin selbst ein größeres Vorbild die
Anregung zu ihrem Versuche gab. Auch der
Titel ihres Buches hat einen deutlichen An¬
klang an Kiplings Kien. Dort lebt ein
Stück Indien. Hier spazieren verkleidete
Europäer und chinesische Statisten auf einer
möglichst echt ausstaffierten Bühne, und hinter
den Kulissen macht die Theatermaschine einen
Höllenlärm. Es ist alles höchst korrekt in
diesem Buche, aber von der "Seele Chinas",
die der Prospekt verheißt spürt der Leser
,
Dr. Lnrt Glaser kaum einen Hauch.

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Nachdruck sämtlicher Aussähe nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags "cstattet.
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Berlin-Schönebirg. -- Manuslnptsendungen und Bries"
werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzbotrn in Berlin-Frieden"", Hcdwigstr. t-.
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Uhland 3SM, deS Verlags: Amt Lüvow 6510.
Verlag: Verlag der Grenzbot-n <S. in. S. H. in Berlin SV. 11.
Druck- .Der R-ichsbote" <S. in. b. H. in Berlin SV. 11, Dess-ner Strasj- Sö/37.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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es wahrscheinlich meistens der Fall ist, eine
Festsetzung dem Schulvorstande oder sogar
dem Schulleiter zu überlassen und von einer
Bekanntmachung ihrerseits überhaupt abzu¬
sehen, da sonst eine Versäumnis des Unter¬
richts der Fortbildungsschule nicht bestraft
werden kann.

Rechtsanwalt Dr. Vonschott
Literatur

Tschun. Roman von Elisabeth v. Heyking.
Verlag Ullstein u, Co., Berlin-Wien. 3 M.

Ein Zufall ließ dieses Buch auf den
Schreibtisch eines Outsiders gelangen, der
nicht gewohnt ist, den Richter in literarischen
Dingen zu spielen und nicht belastet ist von
der Pflicht täglichen Rechtsprechens. Es gibt
viele Stufen auf der Leiter zur Kunst, und
der Kenner hat die Pflicht, jedem Werke seine
Stelle auf der Folge der (Zrsclus act l^rimssum
zu weisen. Wer nicht die Last der Verant¬
wortung eines Richteramtes fühlt, darf sich
ein rascheres Urteil anmaßen und begnügt
sich mit der Feststellung, daß dieses Buch so
wenig mit der Kunst zu tun hat wie mit
verschwindenden Ausnahmen die ganze übrige
Sündflut der Unterhaltungsliteratur, die in
jedem Jahre, das der Herr werden läßt,
durch die Druckerpressen geht, daß es aber
so gut wie viele andere das lesehungrige
Publikum über ein Paar leere Stunden hin¬
wegtäuschen wird. Als Zeitungsroman war
Tschun bereits ein unbestrittener Erfolg. Die
großen Plakate mit ihren feierlichen Lettern,
die an allen Litfaßsäulen Berlins Prangten,
ließen darauf schließen, daß kundige Verleger
in dem Worte eine Zauberkraft vermuteten.

China ist große Mode. Einen Roman
aus der Zeit der Boxerunruhen muß jeder
gelesen haben. Angenehm läßt sich da nach¬
holen, was man seinerzeit versäumte. Denn
weder die Zeitungen noch das Publikum

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hatten damals die rechte Vorstellung von der
Tragweite der Ereignisse. Heute gehört es
zum guten Ton, eNvas von äußerer
Politik zu wissen, aber den dicken Band, der
die Geschichte der Kaiserinwitwe von China
auf Grund der Quellen und Dokumente ein¬
gehend schildert, entschließt man sich doch nicht
so leicht zur Hand zu nehmen wie einen
lesbar zubereiteten Roman. Die Verfasserin
kennt ihr Publikum. Sie macht einen jungen
Chinesen — der Sauberkeit halber wird er
zunächst einmal gut christlich getauft — zum
Helden ihrer Erzählung und projiziert ihr
Wissen um die Ereignisse und ihre Kenntnisse
von Land und Leuten in das Hirn dieses
Boys, um in hinkenden Nebensätzen trotzdem
ihren europäischen Lesern die nötigen Er¬
klärungen nicht entgehen zu lassen.

Die Kunst eines solchen Buches sollte es
sein, ein Wissen zu verbergen, das hier auf
jeder Seite zur Schau gestellt wird. Es
gehört schon eine feinere Hand dazu, ohne
direkt beschreibende Worte Menschen zu
zeichnen. So bleiben alle Personen, mit
denen Tschun in Berührung kommt, wesen¬
lose Schatten, und er selbst ist das leblose
Sprachrohr der Verfasserin. Auch dazu braucht
es intimere Kenntnis und ein besser ver¬
stehendes Einfühlen, einen Menschen fremder
Nasse lebendig werden zu lassen. Wenige
haben das gekonnt. Mag sein, daß der
Verfasserin selbst ein größeres Vorbild die
Anregung zu ihrem Versuche gab. Auch der
Titel ihres Buches hat einen deutlichen An¬
klang an Kiplings Kien. Dort lebt ein
Stück Indien. Hier spazieren verkleidete
Europäer und chinesische Statisten auf einer
möglichst echt ausstaffierten Bühne, und hinter
den Kulissen macht die Theatermaschine einen
Höllenlärm. Es ist alles höchst korrekt in
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Druck- .Der R-ichsbote" <S. in. b. H. in Berlin SV. 11, Dess-ner Strasj- Sö/37.
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[0540] Maßgebliches und Unmaßgebliches es wahrscheinlich meistens der Fall ist, eine Festsetzung dem Schulvorstande oder sogar dem Schulleiter zu überlassen und von einer Bekanntmachung ihrerseits überhaupt abzu¬ sehen, da sonst eine Versäumnis des Unter¬ richts der Fortbildungsschule nicht bestraft werden kann. Rechtsanwalt Dr. Vonschott Literatur Tschun. Roman von Elisabeth v. Heyking. Verlag Ullstein u, Co., Berlin-Wien. 3 M. Ein Zufall ließ dieses Buch auf den Schreibtisch eines Outsiders gelangen, der nicht gewohnt ist, den Richter in literarischen Dingen zu spielen und nicht belastet ist von der Pflicht täglichen Rechtsprechens. Es gibt viele Stufen auf der Leiter zur Kunst, und der Kenner hat die Pflicht, jedem Werke seine Stelle auf der Folge der (Zrsclus act l^rimssum zu weisen. Wer nicht die Last der Verant¬ wortung eines Richteramtes fühlt, darf sich ein rascheres Urteil anmaßen und begnügt sich mit der Feststellung, daß dieses Buch so wenig mit der Kunst zu tun hat wie mit verschwindenden Ausnahmen die ganze übrige Sündflut der Unterhaltungsliteratur, die in jedem Jahre, das der Herr werden läßt, durch die Druckerpressen geht, daß es aber so gut wie viele andere das lesehungrige Publikum über ein Paar leere Stunden hin¬ wegtäuschen wird. Als Zeitungsroman war Tschun bereits ein unbestrittener Erfolg. Die großen Plakate mit ihren feierlichen Lettern, die an allen Litfaßsäulen Berlins Prangten, ließen darauf schließen, daß kundige Verleger in dem Worte eine Zauberkraft vermuteten. China ist große Mode. Einen Roman aus der Zeit der Boxerunruhen muß jeder gelesen haben. Angenehm läßt sich da nach¬ holen, was man seinerzeit versäumte. Denn weder die Zeitungen noch das Publikum hatten damals die rechte Vorstellung von der Tragweite der Ereignisse. Heute gehört es zum guten Ton, eNvas von äußerer Politik zu wissen, aber den dicken Band, der die Geschichte der Kaiserinwitwe von China auf Grund der Quellen und Dokumente ein¬ gehend schildert, entschließt man sich doch nicht so leicht zur Hand zu nehmen wie einen lesbar zubereiteten Roman. Die Verfasserin kennt ihr Publikum. Sie macht einen jungen Chinesen — der Sauberkeit halber wird er zunächst einmal gut christlich getauft — zum Helden ihrer Erzählung und projiziert ihr Wissen um die Ereignisse und ihre Kenntnisse von Land und Leuten in das Hirn dieses Boys, um in hinkenden Nebensätzen trotzdem ihren europäischen Lesern die nötigen Er¬ klärungen nicht entgehen zu lassen. Die Kunst eines solchen Buches sollte es sein, ein Wissen zu verbergen, das hier auf jeder Seite zur Schau gestellt wird. Es gehört schon eine feinere Hand dazu, ohne direkt beschreibende Worte Menschen zu zeichnen. So bleiben alle Personen, mit denen Tschun in Berührung kommt, wesen¬ lose Schatten, und er selbst ist das leblose Sprachrohr der Verfasserin. Auch dazu braucht es intimere Kenntnis und ein besser ver¬ stehendes Einfühlen, einen Menschen fremder Nasse lebendig werden zu lassen. Wenige haben das gekonnt. Mag sein, daß der Verfasserin selbst ein größeres Vorbild die Anregung zu ihrem Versuche gab. Auch der Titel ihres Buches hat einen deutlichen An¬ klang an Kiplings Kien. Dort lebt ein Stück Indien. Hier spazieren verkleidete Europäer und chinesische Statisten auf einer möglichst echt ausstaffierten Bühne, und hinter den Kulissen macht die Theatermaschine einen Höllenlärm. Es ist alles höchst korrekt in diesem Buche, aber von der „Seele Chinas", die der Prospekt verheißt spürt der Leser , Dr. Lnrt Glaser kaum einen Hauch. Nachdruck sämtlicher Aussähe nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags »cstattet. Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Berlin-Schönebirg. — Manuslnptsendungen und Bries« werden erbeten unter der Adresse: An den Herausgeber der Grenzbotrn in Berlin-Frieden«», Hcdwigstr. t-. Fernsprecher der Schristleitung: Amt Uhland 3SM, deS Verlags: Amt Lüvow 6510. Verlag: Verlag der Grenzbot-n <S. in. S. H. in Berlin SV. 11. Druck- .Der R-ichsbote" <S. in. b. H. in Berlin SV. 11, Dess-ner Strasj- Sö/37.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/540>, abgerufen am 13.11.2024.