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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe



Russische Briefe
George Lleinow von

ährend der russischen Osternacht, die dieses Jahr nur eine Woche
hinter der westeuropäischen folgte, fuhr ich, nach fast vierwöchent¬
lichen Aufenthalte in Se. Petersburg, wieder heim. Bei leichtem
I Frost und Sonnenschein ging die Fahrt in der sechsten Nach¬
mittagsstunde zum Warschauer Bahnhof, vor dessen Glaswand
vor bald zehn Jahren der allgewaltige Minister des Innern Plehwe ermordet
worden war. Wie damals auf den Straßen das zahlreiche Volk vor allem
seine Empfindung durch Gebet zum Ausdruck brachte und dem oberflächlichen
Beobachter die allgemeine und grundsätzliche Ablehnung des Mordes vortäuschte,
so erwecken am Ostersonnabend jene Tausende, Hunderttausende von Betern,
die barhäuptig in langen Reihen, des priesterlichen Segens gewärtig, hinter
ihren Osterkuchen stehen, ein Bild der Einheitlichkeit im Denken der russischen
Nation, das zu den Berichten der Presse über Streiks in den Fabriken, Arbeiter¬
revolten und groben Ausschreitungen gegen die Staatsgewalt gar nicht passen will.--
Im gering besetzten russischen Zuge, der mit leise murmelnden Rädern nicht eben
hastig durch die vom Vorfrühling kaum geküßte Ebene eilt, läßt sich träumen
und sinnen. Manche Erinnerung an frühere Fahrten nach Petersburg und
Erlebnisse auf russischem Boden tauchen auf und geben dem. was ich jüngst
alles gesehen und gehört, Verbindung und tiefere Farben. -- Jetzt, da ich schreibe,
sind wir dreißig Tage weiter und dementsprechend ist auch die Erörterung über
die deutsch - russischen Beziehungen vorgerückt. Die Herren von Jagow und
Ssasonow haben die amtlichen Auffassungen von den deutsch-russischen Be-


Russische Briefe



Russische Briefe
George Lleinow von

ährend der russischen Osternacht, die dieses Jahr nur eine Woche
hinter der westeuropäischen folgte, fuhr ich, nach fast vierwöchent¬
lichen Aufenthalte in Se. Petersburg, wieder heim. Bei leichtem
I Frost und Sonnenschein ging die Fahrt in der sechsten Nach¬
mittagsstunde zum Warschauer Bahnhof, vor dessen Glaswand
vor bald zehn Jahren der allgewaltige Minister des Innern Plehwe ermordet
worden war. Wie damals auf den Straßen das zahlreiche Volk vor allem
seine Empfindung durch Gebet zum Ausdruck brachte und dem oberflächlichen
Beobachter die allgemeine und grundsätzliche Ablehnung des Mordes vortäuschte,
so erwecken am Ostersonnabend jene Tausende, Hunderttausende von Betern,
die barhäuptig in langen Reihen, des priesterlichen Segens gewärtig, hinter
ihren Osterkuchen stehen, ein Bild der Einheitlichkeit im Denken der russischen
Nation, das zu den Berichten der Presse über Streiks in den Fabriken, Arbeiter¬
revolten und groben Ausschreitungen gegen die Staatsgewalt gar nicht passen will.—
Im gering besetzten russischen Zuge, der mit leise murmelnden Rädern nicht eben
hastig durch die vom Vorfrühling kaum geküßte Ebene eilt, läßt sich träumen
und sinnen. Manche Erinnerung an frühere Fahrten nach Petersburg und
Erlebnisse auf russischem Boden tauchen auf und geben dem. was ich jüngst
alles gesehen und gehört, Verbindung und tiefere Farben. — Jetzt, da ich schreibe,
sind wir dreißig Tage weiter und dementsprechend ist auch die Erörterung über
die deutsch - russischen Beziehungen vorgerückt. Die Herren von Jagow und
Ssasonow haben die amtlichen Auffassungen von den deutsch-russischen Be-


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[0481] Russische Briefe Russische Briefe George Lleinow von ährend der russischen Osternacht, die dieses Jahr nur eine Woche hinter der westeuropäischen folgte, fuhr ich, nach fast vierwöchent¬ lichen Aufenthalte in Se. Petersburg, wieder heim. Bei leichtem I Frost und Sonnenschein ging die Fahrt in der sechsten Nach¬ mittagsstunde zum Warschauer Bahnhof, vor dessen Glaswand vor bald zehn Jahren der allgewaltige Minister des Innern Plehwe ermordet worden war. Wie damals auf den Straßen das zahlreiche Volk vor allem seine Empfindung durch Gebet zum Ausdruck brachte und dem oberflächlichen Beobachter die allgemeine und grundsätzliche Ablehnung des Mordes vortäuschte, so erwecken am Ostersonnabend jene Tausende, Hunderttausende von Betern, die barhäuptig in langen Reihen, des priesterlichen Segens gewärtig, hinter ihren Osterkuchen stehen, ein Bild der Einheitlichkeit im Denken der russischen Nation, das zu den Berichten der Presse über Streiks in den Fabriken, Arbeiter¬ revolten und groben Ausschreitungen gegen die Staatsgewalt gar nicht passen will.— Im gering besetzten russischen Zuge, der mit leise murmelnden Rädern nicht eben hastig durch die vom Vorfrühling kaum geküßte Ebene eilt, läßt sich träumen und sinnen. Manche Erinnerung an frühere Fahrten nach Petersburg und Erlebnisse auf russischem Boden tauchen auf und geben dem. was ich jüngst alles gesehen und gehört, Verbindung und tiefere Farben. — Jetzt, da ich schreibe, sind wir dreißig Tage weiter und dementsprechend ist auch die Erörterung über die deutsch - russischen Beziehungen vorgerückt. Die Herren von Jagow und Ssasonow haben die amtlichen Auffassungen von den deutsch-russischen Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/481>, abgerufen am 13.11.2024.