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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Feinde ringsum?

Rußland steht im Begriff erneut, so zahlreiche Reservisten einzuziehen, daß
es in einem bestimmten, uns unbekannten Zeitpunkt tatsächlich an seiner ganzen
Westgrenze mobil sein wird. Militärisch ergibt sich hieraus die Tatsache, daß
unser östlicher Nachbar schon im Frieden einen Vorsprung eingeholt haben wird,
den wir ihm gegenüber bei der Mobilmachung bis jetzt noch haben. Dieser
Vorsprung betrug annähernd drei Wochen und bedeutete im russisch-französischen
Bündnis ein von den Franzosen nicht unterschätztes Defizit. Wir notieren
die Tatsache der militärischen Stärkung des Zweibundes als gewissenhafte
Chronisten, nicht aber, um zusammen mit der Wiener Presse Zeter und Mordio
zu schreien. Die russische Maßregel kann uns, solange bei uns im Innern alles
in Ordnung ist, solange unsere Heeresverwaltung und unser Offizierkorps bis
zum jüngsten Leutnant so auf dem Platze ist. wie wir es täglich beobachten,
nicht schrecken. Gewiß fordert sie politisch erhöhte Aufmerksamkeit. Doch eine
weitere Ergänzung unserer Rüstung fordert sie nicht. -- Österreich-Ungarn mag
die russische Maßregel unangenehmer sein. Es wird wohl nun in den saueren
Apfel beißen müssen und die sehr schwachen Kadres seiner Truppenteile schon zu
Friedenszeiten ausfüllen.

Wo uns ernstlich der Schuh drückt, das ist kürzlich im Herrenhause mit der
diese Versammlung auszeichnenden Sachlichkeit und Weite des Gesichtsfeldes fest,
gestellt worden: an den Grenzmarken. Gelegentlich einer Aussprache über den
preußischen Kultusetat wies Herzog Ernst Günther zu Schleswig-Holstein i"
einer tiefdurchdachten Rede auf den Rückgang des deutschen Einflusses in der
Nordmark hin und bezeichnete den Ausbau einer gesunden Mittelstandspolitik
als das sicherste Mittel dem Übel abzuhelfen. In der Besprechung der Rede
durch die Tagespresse ist dies Moment nicht ganz zu seinem Recht gekommen,
weil man eine Bemerkung des hohen Herrn über die Rolle der Geistlichkeit im
Nationalitätenkampf in Nordschleswig mehr in den Vordergrund der Debatte
geschoben hat. Dadurch wird aber Ursache und Wirkung verwechselt und der
Zeitungsleser bekommt ein falsches Bild.

Nach den mir gewordenen Darstellungen von Kennern der örtlichen Ver¬
hältnisse darf die Rolle der evangelischen Geistlichkeit in der Nordmark ver-




Reichsspiegel
Feinde ringsum?

Rußland steht im Begriff erneut, so zahlreiche Reservisten einzuziehen, daß
es in einem bestimmten, uns unbekannten Zeitpunkt tatsächlich an seiner ganzen
Westgrenze mobil sein wird. Militärisch ergibt sich hieraus die Tatsache, daß
unser östlicher Nachbar schon im Frieden einen Vorsprung eingeholt haben wird,
den wir ihm gegenüber bei der Mobilmachung bis jetzt noch haben. Dieser
Vorsprung betrug annähernd drei Wochen und bedeutete im russisch-französischen
Bündnis ein von den Franzosen nicht unterschätztes Defizit. Wir notieren
die Tatsache der militärischen Stärkung des Zweibundes als gewissenhafte
Chronisten, nicht aber, um zusammen mit der Wiener Presse Zeter und Mordio
zu schreien. Die russische Maßregel kann uns, solange bei uns im Innern alles
in Ordnung ist, solange unsere Heeresverwaltung und unser Offizierkorps bis
zum jüngsten Leutnant so auf dem Platze ist. wie wir es täglich beobachten,
nicht schrecken. Gewiß fordert sie politisch erhöhte Aufmerksamkeit. Doch eine
weitere Ergänzung unserer Rüstung fordert sie nicht. — Österreich-Ungarn mag
die russische Maßregel unangenehmer sein. Es wird wohl nun in den saueren
Apfel beißen müssen und die sehr schwachen Kadres seiner Truppenteile schon zu
Friedenszeiten ausfüllen.

Wo uns ernstlich der Schuh drückt, das ist kürzlich im Herrenhause mit der
diese Versammlung auszeichnenden Sachlichkeit und Weite des Gesichtsfeldes fest,
gestellt worden: an den Grenzmarken. Gelegentlich einer Aussprache über den
preußischen Kultusetat wies Herzog Ernst Günther zu Schleswig-Holstein i»
einer tiefdurchdachten Rede auf den Rückgang des deutschen Einflusses in der
Nordmark hin und bezeichnete den Ausbau einer gesunden Mittelstandspolitik
als das sicherste Mittel dem Übel abzuhelfen. In der Besprechung der Rede
durch die Tagespresse ist dies Moment nicht ganz zu seinem Recht gekommen,
weil man eine Bemerkung des hohen Herrn über die Rolle der Geistlichkeit im
Nationalitätenkampf in Nordschleswig mehr in den Vordergrund der Debatte
geschoben hat. Dadurch wird aber Ursache und Wirkung verwechselt und der
Zeitungsleser bekommt ein falsches Bild.

Nach den mir gewordenen Darstellungen von Kennern der örtlichen Ver¬
hältnisse darf die Rolle der evangelischen Geistlichkeit in der Nordmark ver-


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[0439] [Abbildung] Reichsspiegel Feinde ringsum? Rußland steht im Begriff erneut, so zahlreiche Reservisten einzuziehen, daß es in einem bestimmten, uns unbekannten Zeitpunkt tatsächlich an seiner ganzen Westgrenze mobil sein wird. Militärisch ergibt sich hieraus die Tatsache, daß unser östlicher Nachbar schon im Frieden einen Vorsprung eingeholt haben wird, den wir ihm gegenüber bei der Mobilmachung bis jetzt noch haben. Dieser Vorsprung betrug annähernd drei Wochen und bedeutete im russisch-französischen Bündnis ein von den Franzosen nicht unterschätztes Defizit. Wir notieren die Tatsache der militärischen Stärkung des Zweibundes als gewissenhafte Chronisten, nicht aber, um zusammen mit der Wiener Presse Zeter und Mordio zu schreien. Die russische Maßregel kann uns, solange bei uns im Innern alles in Ordnung ist, solange unsere Heeresverwaltung und unser Offizierkorps bis zum jüngsten Leutnant so auf dem Platze ist. wie wir es täglich beobachten, nicht schrecken. Gewiß fordert sie politisch erhöhte Aufmerksamkeit. Doch eine weitere Ergänzung unserer Rüstung fordert sie nicht. — Österreich-Ungarn mag die russische Maßregel unangenehmer sein. Es wird wohl nun in den saueren Apfel beißen müssen und die sehr schwachen Kadres seiner Truppenteile schon zu Friedenszeiten ausfüllen. Wo uns ernstlich der Schuh drückt, das ist kürzlich im Herrenhause mit der diese Versammlung auszeichnenden Sachlichkeit und Weite des Gesichtsfeldes fest, gestellt worden: an den Grenzmarken. Gelegentlich einer Aussprache über den preußischen Kultusetat wies Herzog Ernst Günther zu Schleswig-Holstein i» einer tiefdurchdachten Rede auf den Rückgang des deutschen Einflusses in der Nordmark hin und bezeichnete den Ausbau einer gesunden Mittelstandspolitik als das sicherste Mittel dem Übel abzuhelfen. In der Besprechung der Rede durch die Tagespresse ist dies Moment nicht ganz zu seinem Recht gekommen, weil man eine Bemerkung des hohen Herrn über die Rolle der Geistlichkeit im Nationalitätenkampf in Nordschleswig mehr in den Vordergrund der Debatte geschoben hat. Dadurch wird aber Ursache und Wirkung verwechselt und der Zeitungsleser bekommt ein falsches Bild. Nach den mir gewordenen Darstellungen von Kennern der örtlichen Ver¬ hältnisse darf die Rolle der evangelischen Geistlichkeit in der Nordmark ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/439>, abgerufen am 13.11.2024.