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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Auch dem "Vermächtnis" hat Lucian Bern¬
hard nun noch einmal eine neue Ausstattung
gegeben, groß und ruhig und monumental
einfach. Leider ist aber dadurch das Buch
nun doch fast wieder so teuer geworden, wie
es in seiner ursprünglichen Gestalt jahrzehnte¬
lang war, nicht zum Voneil seiner Verbrei¬
tung, die gerade durch die schlichte und doch
durchaus windige erste Darbietung im neuen
Verlag so erfreulich gefordert worden ist.

Prof. Th. hartem
Bildung und Erziehung
"Siegfried oder Achill?"

Unter dieser
Überschrift hat Herr Dr. R, Schacht in Ur. Is
der "Grenzboten" die Forderung erhoben, die
Unterweisung unserer Jugend künftig auf
einen Sagenkreis zu beschränken, wobei er
sich zwar für seine Person für den griechischen
Sagenkreis entscheidet, es aber im Prinzip
dahingestellt läßt, ob man dem deutschen oder
griechischen Sagenkreise den Vorzug geben
will. Zu seiner eigenartigen Forderung ge¬
langt Schacht, indem er folgendes ausführt:
das deutsche Volk entbehre augenblicklich einer
großen Populären Kunst, in der sich alle
Kräfte unseres Geistes spiegeln. Eine solche
Kunst sei nur auf einem festen Fundamente
allgemein gekannter und beliebter Geschichts-
mutive, Anschauungen und Empfindungen zu
schaffen. Die Quellen dieser Geschichten und
Anschauungen seien Religion, gemeinsame
Beobachtungen, wie sie in den Natursagen
oder Märchen niedergelegt seien, und große
Politische Ereignisse, wie sie Heldensage und
Geschichte überliefern. Gegenstände dieses
Fundaments seien bei uns, roh aufgezählt,
Bibel, Märchen, Geschichte und Sage.

Die Bibel sei bei uns lange ein Volks¬
buch gewesen, sei jetzt aber nicht mehr in der
Phantasie des Volkes lebendig und scheide
deshalb vorläufig als Quelle eines Kultur¬
fundaments aus. Auch mit den Volksbüchern
würden wir einstweilen kein rechtes Glück
haben.

Die Geschichte sei uns Deutschen nicht
lebendig erhalten geblieben, weil wir keine
alte eigentlich nationale Geschichte gehabt
hätten. Das Märchen setzte, soll es lebendig
bleiben, stetige intime Berührung mit der

[Spaltenumbruch]

Natur und offenen Blick für das Leben
voraus. Beides gehe weiten Schichten des
Volkes ab und deshalb scheide auch das
Märchen einstweilen für unsere Betrach¬
tungen aus.

Was uns allein noch gewiß sei, sei die
Sage. Aber auch sie scheine immer mehr zu
verblassen. Den Grund hierfür erblickt Schacht
in folgendem.

Aller praktischen Pädagogik Grundlehre
sei Einheit des Stoffes und Stereotypie beim
Einprägen. Kein guter Pädagoge gebe dem
Lernenden für ein Phänomen zwei Er¬
klärungen von verschiedenen Gesichtspunkten
aus, spreche eine Regel in doppelter Fassung
vor: wir aber nährten die Phantasie unserer
Schüler mit grundverschiedenen Stoffen, mit
Stoffen, die sich gegenseitig aufheben: näm¬
lich sowohl mit dem griechischen wie mit dem
deutschen Sagenkreis. Das sei der Grund,
warum keiner der beiden Sagenkreise aus¬
reichend tief bei unserer Jugend Wurzel fasse.

So bestechend der Lehrsatz von der Ein¬
heit des Stoffes und der Stereotypie beim
Einprägen ans den ersten Blick ist, so wenig
trifft er doch bei näherem Zusehen auf das
von Schacht behandelte Problem zu. Schacht
unterläßt zunächst, zwischen Götter- und
Heldensage zu unterscheiden. In der Götter¬
sage spiegelt sich vielfach die Versinnbildlichung
von Nnturvorgängen, nicht aber in der Helden¬
sage. Soll nun wirklich, so weit in den Sagen
vom Raub der Proserpina oder vom Sterben
Baldurs Raturphänomene versinnbildlicht
werden, der heutige Schüler diese als Sinn¬
bild des Naturvorganges empfinden? Schacht
läßt darüber jegliche Klarheit vermissen. Will
er zu einem Götterkult zurück, wie ihn ge¬
wisse völkische Kreise in Osterreich mit Wotans¬
dienst und Johannisfeuer versucht haben?
Will er die naturwissenschaftliche Erfassung
der Naturvorgänge durch eine mythologische
ersetze"? Oder was will er sonst? Er
nimmt Anstoß daran, daß das Heldcnideal,
für das Begeisterung geweckt werden soll,
bald Odysseus oder Achill, bald Siegfried oder
Dietrich von Bern heißt. Aber er vergißt,
daß der griechische und der deutsche Sagen¬
stoff in ganz verschiedenen Klassen gelehrt
Werden, so daß die Jugend durchaus Zeit
hat, den einen in sich aufzunehmen und zu

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Auch dem „Vermächtnis" hat Lucian Bern¬
hard nun noch einmal eine neue Ausstattung
gegeben, groß und ruhig und monumental
einfach. Leider ist aber dadurch das Buch
nun doch fast wieder so teuer geworden, wie
es in seiner ursprünglichen Gestalt jahrzehnte¬
lang war, nicht zum Voneil seiner Verbrei¬
tung, die gerade durch die schlichte und doch
durchaus windige erste Darbietung im neuen
Verlag so erfreulich gefordert worden ist.

Prof. Th. hartem
Bildung und Erziehung
„Siegfried oder Achill?"

Unter dieser
Überschrift hat Herr Dr. R, Schacht in Ur. Is
der „Grenzboten" die Forderung erhoben, die
Unterweisung unserer Jugend künftig auf
einen Sagenkreis zu beschränken, wobei er
sich zwar für seine Person für den griechischen
Sagenkreis entscheidet, es aber im Prinzip
dahingestellt läßt, ob man dem deutschen oder
griechischen Sagenkreise den Vorzug geben
will. Zu seiner eigenartigen Forderung ge¬
langt Schacht, indem er folgendes ausführt:
das deutsche Volk entbehre augenblicklich einer
großen Populären Kunst, in der sich alle
Kräfte unseres Geistes spiegeln. Eine solche
Kunst sei nur auf einem festen Fundamente
allgemein gekannter und beliebter Geschichts-
mutive, Anschauungen und Empfindungen zu
schaffen. Die Quellen dieser Geschichten und
Anschauungen seien Religion, gemeinsame
Beobachtungen, wie sie in den Natursagen
oder Märchen niedergelegt seien, und große
Politische Ereignisse, wie sie Heldensage und
Geschichte überliefern. Gegenstände dieses
Fundaments seien bei uns, roh aufgezählt,
Bibel, Märchen, Geschichte und Sage.

Die Bibel sei bei uns lange ein Volks¬
buch gewesen, sei jetzt aber nicht mehr in der
Phantasie des Volkes lebendig und scheide
deshalb vorläufig als Quelle eines Kultur¬
fundaments aus. Auch mit den Volksbüchern
würden wir einstweilen kein rechtes Glück
haben.

Die Geschichte sei uns Deutschen nicht
lebendig erhalten geblieben, weil wir keine
alte eigentlich nationale Geschichte gehabt
hätten. Das Märchen setzte, soll es lebendig
bleiben, stetige intime Berührung mit der

[Spaltenumbruch]

Natur und offenen Blick für das Leben
voraus. Beides gehe weiten Schichten des
Volkes ab und deshalb scheide auch das
Märchen einstweilen für unsere Betrach¬
tungen aus.

Was uns allein noch gewiß sei, sei die
Sage. Aber auch sie scheine immer mehr zu
verblassen. Den Grund hierfür erblickt Schacht
in folgendem.

Aller praktischen Pädagogik Grundlehre
sei Einheit des Stoffes und Stereotypie beim
Einprägen. Kein guter Pädagoge gebe dem
Lernenden für ein Phänomen zwei Er¬
klärungen von verschiedenen Gesichtspunkten
aus, spreche eine Regel in doppelter Fassung
vor: wir aber nährten die Phantasie unserer
Schüler mit grundverschiedenen Stoffen, mit
Stoffen, die sich gegenseitig aufheben: näm¬
lich sowohl mit dem griechischen wie mit dem
deutschen Sagenkreis. Das sei der Grund,
warum keiner der beiden Sagenkreise aus¬
reichend tief bei unserer Jugend Wurzel fasse.

So bestechend der Lehrsatz von der Ein¬
heit des Stoffes und der Stereotypie beim
Einprägen ans den ersten Blick ist, so wenig
trifft er doch bei näherem Zusehen auf das
von Schacht behandelte Problem zu. Schacht
unterläßt zunächst, zwischen Götter- und
Heldensage zu unterscheiden. In der Götter¬
sage spiegelt sich vielfach die Versinnbildlichung
von Nnturvorgängen, nicht aber in der Helden¬
sage. Soll nun wirklich, so weit in den Sagen
vom Raub der Proserpina oder vom Sterben
Baldurs Raturphänomene versinnbildlicht
werden, der heutige Schüler diese als Sinn¬
bild des Naturvorganges empfinden? Schacht
läßt darüber jegliche Klarheit vermissen. Will
er zu einem Götterkult zurück, wie ihn ge¬
wisse völkische Kreise in Osterreich mit Wotans¬
dienst und Johannisfeuer versucht haben?
Will er die naturwissenschaftliche Erfassung
der Naturvorgänge durch eine mythologische
ersetze»? Oder was will er sonst? Er
nimmt Anstoß daran, daß das Heldcnideal,
für das Begeisterung geweckt werden soll,
bald Odysseus oder Achill, bald Siegfried oder
Dietrich von Bern heißt. Aber er vergißt,
daß der griechische und der deutsche Sagen¬
stoff in ganz verschiedenen Klassen gelehrt
Werden, so daß die Jugend durchaus Zeit
hat, den einen in sich aufzunehmen und zu

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[0343] Maßgebliches und Unmaßgebliches Auch dem „Vermächtnis" hat Lucian Bern¬ hard nun noch einmal eine neue Ausstattung gegeben, groß und ruhig und monumental einfach. Leider ist aber dadurch das Buch nun doch fast wieder so teuer geworden, wie es in seiner ursprünglichen Gestalt jahrzehnte¬ lang war, nicht zum Voneil seiner Verbrei¬ tung, die gerade durch die schlichte und doch durchaus windige erste Darbietung im neuen Verlag so erfreulich gefordert worden ist. Prof. Th. hartem Bildung und Erziehung „Siegfried oder Achill?" Unter dieser Überschrift hat Herr Dr. R, Schacht in Ur. Is der „Grenzboten" die Forderung erhoben, die Unterweisung unserer Jugend künftig auf einen Sagenkreis zu beschränken, wobei er sich zwar für seine Person für den griechischen Sagenkreis entscheidet, es aber im Prinzip dahingestellt läßt, ob man dem deutschen oder griechischen Sagenkreise den Vorzug geben will. Zu seiner eigenartigen Forderung ge¬ langt Schacht, indem er folgendes ausführt: das deutsche Volk entbehre augenblicklich einer großen Populären Kunst, in der sich alle Kräfte unseres Geistes spiegeln. Eine solche Kunst sei nur auf einem festen Fundamente allgemein gekannter und beliebter Geschichts- mutive, Anschauungen und Empfindungen zu schaffen. Die Quellen dieser Geschichten und Anschauungen seien Religion, gemeinsame Beobachtungen, wie sie in den Natursagen oder Märchen niedergelegt seien, und große Politische Ereignisse, wie sie Heldensage und Geschichte überliefern. Gegenstände dieses Fundaments seien bei uns, roh aufgezählt, Bibel, Märchen, Geschichte und Sage. Die Bibel sei bei uns lange ein Volks¬ buch gewesen, sei jetzt aber nicht mehr in der Phantasie des Volkes lebendig und scheide deshalb vorläufig als Quelle eines Kultur¬ fundaments aus. Auch mit den Volksbüchern würden wir einstweilen kein rechtes Glück haben. Die Geschichte sei uns Deutschen nicht lebendig erhalten geblieben, weil wir keine alte eigentlich nationale Geschichte gehabt hätten. Das Märchen setzte, soll es lebendig bleiben, stetige intime Berührung mit der Natur und offenen Blick für das Leben voraus. Beides gehe weiten Schichten des Volkes ab und deshalb scheide auch das Märchen einstweilen für unsere Betrach¬ tungen aus. Was uns allein noch gewiß sei, sei die Sage. Aber auch sie scheine immer mehr zu verblassen. Den Grund hierfür erblickt Schacht in folgendem. Aller praktischen Pädagogik Grundlehre sei Einheit des Stoffes und Stereotypie beim Einprägen. Kein guter Pädagoge gebe dem Lernenden für ein Phänomen zwei Er¬ klärungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus, spreche eine Regel in doppelter Fassung vor: wir aber nährten die Phantasie unserer Schüler mit grundverschiedenen Stoffen, mit Stoffen, die sich gegenseitig aufheben: näm¬ lich sowohl mit dem griechischen wie mit dem deutschen Sagenkreis. Das sei der Grund, warum keiner der beiden Sagenkreise aus¬ reichend tief bei unserer Jugend Wurzel fasse. So bestechend der Lehrsatz von der Ein¬ heit des Stoffes und der Stereotypie beim Einprägen ans den ersten Blick ist, so wenig trifft er doch bei näherem Zusehen auf das von Schacht behandelte Problem zu. Schacht unterläßt zunächst, zwischen Götter- und Heldensage zu unterscheiden. In der Götter¬ sage spiegelt sich vielfach die Versinnbildlichung von Nnturvorgängen, nicht aber in der Helden¬ sage. Soll nun wirklich, so weit in den Sagen vom Raub der Proserpina oder vom Sterben Baldurs Raturphänomene versinnbildlicht werden, der heutige Schüler diese als Sinn¬ bild des Naturvorganges empfinden? Schacht läßt darüber jegliche Klarheit vermissen. Will er zu einem Götterkult zurück, wie ihn ge¬ wisse völkische Kreise in Osterreich mit Wotans¬ dienst und Johannisfeuer versucht haben? Will er die naturwissenschaftliche Erfassung der Naturvorgänge durch eine mythologische ersetze»? Oder was will er sonst? Er nimmt Anstoß daran, daß das Heldcnideal, für das Begeisterung geweckt werden soll, bald Odysseus oder Achill, bald Siegfried oder Dietrich von Bern heißt. Aber er vergißt, daß der griechische und der deutsche Sagen¬ stoff in ganz verschiedenen Klassen gelehrt Werden, so daß die Jugend durchaus Zeit hat, den einen in sich aufzunehmen und zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/343>, abgerufen am 13.11.2024.