Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.Unzurechnungsfähigkeit und ^trafrecht Dr. mea, Worthmann von in heutigen öffentlichen Leben spielt kein Gedanke neben dem des Für die intellektuell Schwachen sorgen Hilfsschulen, Jdiotenanstalten, Heil- Wenn wir uns heute mit den letzteren insonderheit beschäftigen wollen, so Wie bekannt, hat die Auffassung des Zweckes und der Berechtigung staat¬ Unzurechnungsfähigkeit und ^trafrecht Dr. mea, Worthmann von in heutigen öffentlichen Leben spielt kein Gedanke neben dem des Für die intellektuell Schwachen sorgen Hilfsschulen, Jdiotenanstalten, Heil- Wenn wir uns heute mit den letzteren insonderheit beschäftigen wollen, so Wie bekannt, hat die Auffassung des Zweckes und der Berechtigung staat¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328230"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328099/figures/grenzboten_341899_328099_328230_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Unzurechnungsfähigkeit und ^trafrecht<lb/><note type="byline"> Dr. mea, Worthmann</note> von </head><lb/> <p xml:id="ID_548"> in heutigen öffentlichen Leben spielt kein Gedanke neben dem des<lb/> Nationalismus eine so bedeutende allgemeine Rolle, wie der der<lb/> Humanität. Die Fürsorge für die Schwachen, sei es auf intellek¬<lb/> tuellem oder wirtschaftlichem oder auch moralischem Gebiete, nimmt<lb/> heute im Leben des Staates wie der Gemeinden einen breiteren<lb/> Raum ein, denn je. Wenn die freie Entwicklung der Persönlichkeit das Ideal<lb/> unserer Tage bildet, so soll eben auch dem weniger Begünstigten die Gelegenheit<lb/> gegeben werden, die in ihn gelegten Gaben zur höchsten möglichen Entfaltung<lb/> zu bringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_549"> Für die intellektuell Schwachen sorgen Hilfsschulen, Jdiotenanstalten, Heil-<lb/> und Pflegeanstalten; für die wirtschaftlich Schwachen ist der ganze ungeheure<lb/> Apparat unserer sozialen Gesetzgebung geschaffen, die in der Neichsversicherungs-<lb/> ordnung schon einen für viele Gemüter beängstigenden Umfang angenommen<lb/> hat. Die Sorge für die moralisch Schwachen endlich ist eine brennende Frage<lb/> der Strafjustiz und der richterlichen Tätigkeit überhaupt.</p><lb/> <p xml:id="ID_550"> Wenn wir uns heute mit den letzteren insonderheit beschäftigen wollen, so<lb/> muß ich gleich bemerken, daß sich eine scharfe Trennung der drei Gruppen Nicht<lb/> durchführen läßt: die Schwäche auf moralischem Gebiete hat ihren Grund oft<lb/> in einer intellektuellen Schwäche, und letztere oder beide vereint führen früher<lb/> oder später auch zum Sinken des wirtschaftlichen Niveaus. Der Begriff der<lb/> moralischen Schwäche ist also vorerst nichts weiter als einer von verschiedenen<lb/> Gesichtspunkten, von denen man an die große Masse der nach modernem Gefühl<lb/> Hilfsbedürftigen herantreten kann. And zwar findet er seine natürliche Begründung<lb/> darin, daß ein gewisser Prozentsatz der Minderbegünstigten als Rechtsbrecher<lb/> dem Strafrichter verfällt.</p><lb/> <p xml:id="ID_551" next="#ID_552"> Wie bekannt, hat die Auffassung des Zweckes und der Berechtigung staat¬<lb/> licher Strafgewalt im Laufe der Jahrhunderte wesentliche Umformungen durch-<lb/> gemacht. War früher die Autorität des Staates alles, demgegenüber das Recht<lb/> des einzelnen kaum in die Wagschale fiel, so hat heute der für das Gebiet des<lb/> Lebendigen so oft schon widerlegte Satz: „das Ganze gleich der Summe seiner</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
[Abbildung]
Unzurechnungsfähigkeit und ^trafrecht
Dr. mea, Worthmann von
in heutigen öffentlichen Leben spielt kein Gedanke neben dem des
Nationalismus eine so bedeutende allgemeine Rolle, wie der der
Humanität. Die Fürsorge für die Schwachen, sei es auf intellek¬
tuellem oder wirtschaftlichem oder auch moralischem Gebiete, nimmt
heute im Leben des Staates wie der Gemeinden einen breiteren
Raum ein, denn je. Wenn die freie Entwicklung der Persönlichkeit das Ideal
unserer Tage bildet, so soll eben auch dem weniger Begünstigten die Gelegenheit
gegeben werden, die in ihn gelegten Gaben zur höchsten möglichen Entfaltung
zu bringen.
Für die intellektuell Schwachen sorgen Hilfsschulen, Jdiotenanstalten, Heil-
und Pflegeanstalten; für die wirtschaftlich Schwachen ist der ganze ungeheure
Apparat unserer sozialen Gesetzgebung geschaffen, die in der Neichsversicherungs-
ordnung schon einen für viele Gemüter beängstigenden Umfang angenommen
hat. Die Sorge für die moralisch Schwachen endlich ist eine brennende Frage
der Strafjustiz und der richterlichen Tätigkeit überhaupt.
Wenn wir uns heute mit den letzteren insonderheit beschäftigen wollen, so
muß ich gleich bemerken, daß sich eine scharfe Trennung der drei Gruppen Nicht
durchführen läßt: die Schwäche auf moralischem Gebiete hat ihren Grund oft
in einer intellektuellen Schwäche, und letztere oder beide vereint führen früher
oder später auch zum Sinken des wirtschaftlichen Niveaus. Der Begriff der
moralischen Schwäche ist also vorerst nichts weiter als einer von verschiedenen
Gesichtspunkten, von denen man an die große Masse der nach modernem Gefühl
Hilfsbedürftigen herantreten kann. And zwar findet er seine natürliche Begründung
darin, daß ein gewisser Prozentsatz der Minderbegünstigten als Rechtsbrecher
dem Strafrichter verfällt.
Wie bekannt, hat die Auffassung des Zweckes und der Berechtigung staat¬
licher Strafgewalt im Laufe der Jahrhunderte wesentliche Umformungen durch-
gemacht. War früher die Autorität des Staates alles, demgegenüber das Recht
des einzelnen kaum in die Wagschale fiel, so hat heute der für das Gebiet des
Lebendigen so oft schon widerlegte Satz: „das Ganze gleich der Summe seiner
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