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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mir Enders nicht zu weit gegangen zu sein,
und ich sehe in dieser Aufdeckung einen der
Hauptverdienste des Buches. Hemsterhuis
verdrängt in Schlegels Kunstlehre Kant und
Schiller, aus ihm und den obengenannten
führenden Ästheten des achtzehnten Jahrhun¬
derts konstruiert sich Schlegel, von Fichte
unterstützt, allmählich seine neue, eigenartige
"Genialitätsphilosophie" -- die "Synthese von
Aufklärung und Genietum"; Karoline Böhmer,
die bald die Gemahlin seines Bruders wird,
übt einen besänftigender Einfluß auf ihn aus,
eine neue, edlere Anschauung von dem Weib¬
lichen geht ihm in ihr auf. In den? Ver¬
hältnis zu Dorothea findet er schließlich die
vollste Befriedigung und endgültige Lösung:
"durch die Vergöttlichung der sinnlichen Liebe
in der wahren Ehe, durch die genialische
Bildung und durch die romantische Ironie."

Es ist zu bedauern, daß es den: Verfasser
nicht gelungen ist, eine straffere Gliederung
vor allem in der Chronologie zu erzielen;
dadurch gestaltet sich die Lektüre des an sich
schon nicht leichten Buches recht verwirrend,
und die genetische Betrachtung des Innen¬
lebens Schlegels wird unnötig erschwert.
Trotzdem bedeutet Enders' Darstellung, die
mit zwei charakteristischen, bisher unbekannten
Bildern Schlegels -- ich hebe besonders das
Jugendporträt, von Karoline Rehberg ge¬
zeichnet, hervor -- geschmückt ist, einen wichtigen
Fortschritt in der Erforschung der Frühromantik.

Alcxandcrv. Gleichen-Rußwurn"! Schiller,
Die Geschichte seines Lebens. Mit 52 Ab¬
bildungen. Verlag Julius Hoffmann, 1913,
Stuttgart. SS6S. 8°.

Vom Urenkel des Dichters wird uns ein
Buch über Schiller dargereicht. Mit einigem
Mißtrauen begann ich die Lektüre, da die
früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem
Gebiete recht oberflächlich gehalten waren. Auch
diesmal schürft v. Bleichens Spaten nicht tief,
wenn er über schwerere philosophische Probleme
sprechen soll. Schillers Stellung zu Kant
z. B. ist sehr leicht und obenhin behandelt.
Besser liegen dem Verfasser psychologische
Momente, wie des Dichters Verhältnis zu
den Frauen. Mit feinsinnigein Impressio¬
nismus versteht es da v. Gleichen, sich in

[Spaltenumbruch]

die Seele des Liebenden einzufühlen. Der
Erforscher und Kenner der seelischen Kultur
des achtzehnten Jahrhunderts macht sich hier
geltend und gibt eine eindrucksvolle Schil¬
derung des zwischen Charlotte und Karoline
schwankenden Dichters. Weniger geglückt ist
der Abschnitt über Goethe und Schiller, wenn
auch in ihm sich kluge Gedanken finden.
Die hysterische Charlotte von Kalb findet ein
zu mildes Urteil. Bei der Erzählung von
Schillers Jugend ist meines Erachtens die
Mutter bedeutend überschätzt, der feste und
besonnene Vater dafür auf eine zu niedrige
Stufe gesetzt worden. Der Wissenschaft wird
v. Gleichen kaum etwas bieten wollen und
können, wenn er auch manche noch unbe¬
kannten Familienpapiere zur Belebung der
Darstellung zu verwenden imstande war. --
"Die Geschichte seines Lebens" soll an uns
vorüberziehen, und daraus erklärt eS sich
Wohl, daß die Werke, Dramen wie Gedichte,
nur gestreift werden. Nur auf die Jugend¬
traum geht der Verfasser zum Teil genauer
ein, bei den späteren behilft er sich häufig
recht unnötigerweise mit ein Paar wohlklin¬
genden Sätzen, hinter denen nicht viel steckt.
Überhaupt, und damit komme ich zu dem
Hauptmangel des Buches, ist der Stil, so
einfach und klar v. Gleichen zu schreiben
bemüht ist, oft mit hohlen Redensarten und
Phrasen verbrämt, die dem Leser nichts sagen
und besser fortgeblieben wären. Doch die
idealistische Grundstimmung, die das Buch
durchzieht, die hohe Auffassung von Schillers
Beruf, entschädigt dafür und macht es zu
einem Haushund im besten Sinne des Wortes.

Heinrich von Kleists Geheimnis. Von
Dr. Richard Finger. Berlin 1913, Putt¬
kammer und Mühlbrecht. 63 S. 8°. 1,20 M.

Das "Kleist-Geheimnis" ist gelöset Rum
wissen wir endlich, warum der Dichter den
"Guiscard" verbrannte, warum er sich an:
Wannsee erschoß I Weil er -- einen Sprach¬
fehler hatte, weil er -- ein Stotterer wart
Glaubst du es nicht, so kaufe dir Fingers
Büchlein und lies, wenn dich nicht Zeit und
Geld gereuen! Ob du allerdings überzeugt
sein wirst?

lvolfgang Stammler [Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mir Enders nicht zu weit gegangen zu sein,
und ich sehe in dieser Aufdeckung einen der
Hauptverdienste des Buches. Hemsterhuis
verdrängt in Schlegels Kunstlehre Kant und
Schiller, aus ihm und den obengenannten
führenden Ästheten des achtzehnten Jahrhun¬
derts konstruiert sich Schlegel, von Fichte
unterstützt, allmählich seine neue, eigenartige
„Genialitätsphilosophie" — die „Synthese von
Aufklärung und Genietum"; Karoline Böhmer,
die bald die Gemahlin seines Bruders wird,
übt einen besänftigender Einfluß auf ihn aus,
eine neue, edlere Anschauung von dem Weib¬
lichen geht ihm in ihr auf. In den? Ver¬
hältnis zu Dorothea findet er schließlich die
vollste Befriedigung und endgültige Lösung:
„durch die Vergöttlichung der sinnlichen Liebe
in der wahren Ehe, durch die genialische
Bildung und durch die romantische Ironie."

Es ist zu bedauern, daß es den: Verfasser
nicht gelungen ist, eine straffere Gliederung
vor allem in der Chronologie zu erzielen;
dadurch gestaltet sich die Lektüre des an sich
schon nicht leichten Buches recht verwirrend,
und die genetische Betrachtung des Innen¬
lebens Schlegels wird unnötig erschwert.
Trotzdem bedeutet Enders' Darstellung, die
mit zwei charakteristischen, bisher unbekannten
Bildern Schlegels — ich hebe besonders das
Jugendporträt, von Karoline Rehberg ge¬
zeichnet, hervor — geschmückt ist, einen wichtigen
Fortschritt in der Erforschung der Frühromantik.

Alcxandcrv. Gleichen-Rußwurn»! Schiller,
Die Geschichte seines Lebens. Mit 52 Ab¬
bildungen. Verlag Julius Hoffmann, 1913,
Stuttgart. SS6S. 8°.

Vom Urenkel des Dichters wird uns ein
Buch über Schiller dargereicht. Mit einigem
Mißtrauen begann ich die Lektüre, da die
früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem
Gebiete recht oberflächlich gehalten waren. Auch
diesmal schürft v. Bleichens Spaten nicht tief,
wenn er über schwerere philosophische Probleme
sprechen soll. Schillers Stellung zu Kant
z. B. ist sehr leicht und obenhin behandelt.
Besser liegen dem Verfasser psychologische
Momente, wie des Dichters Verhältnis zu
den Frauen. Mit feinsinnigein Impressio¬
nismus versteht es da v. Gleichen, sich in

[Spaltenumbruch]

die Seele des Liebenden einzufühlen. Der
Erforscher und Kenner der seelischen Kultur
des achtzehnten Jahrhunderts macht sich hier
geltend und gibt eine eindrucksvolle Schil¬
derung des zwischen Charlotte und Karoline
schwankenden Dichters. Weniger geglückt ist
der Abschnitt über Goethe und Schiller, wenn
auch in ihm sich kluge Gedanken finden.
Die hysterische Charlotte von Kalb findet ein
zu mildes Urteil. Bei der Erzählung von
Schillers Jugend ist meines Erachtens die
Mutter bedeutend überschätzt, der feste und
besonnene Vater dafür auf eine zu niedrige
Stufe gesetzt worden. Der Wissenschaft wird
v. Gleichen kaum etwas bieten wollen und
können, wenn er auch manche noch unbe¬
kannten Familienpapiere zur Belebung der
Darstellung zu verwenden imstande war. —
„Die Geschichte seines Lebens" soll an uns
vorüberziehen, und daraus erklärt eS sich
Wohl, daß die Werke, Dramen wie Gedichte,
nur gestreift werden. Nur auf die Jugend¬
traum geht der Verfasser zum Teil genauer
ein, bei den späteren behilft er sich häufig
recht unnötigerweise mit ein Paar wohlklin¬
genden Sätzen, hinter denen nicht viel steckt.
Überhaupt, und damit komme ich zu dem
Hauptmangel des Buches, ist der Stil, so
einfach und klar v. Gleichen zu schreiben
bemüht ist, oft mit hohlen Redensarten und
Phrasen verbrämt, die dem Leser nichts sagen
und besser fortgeblieben wären. Doch die
idealistische Grundstimmung, die das Buch
durchzieht, die hohe Auffassung von Schillers
Beruf, entschädigt dafür und macht es zu
einem Haushund im besten Sinne des Wortes.

Heinrich von Kleists Geheimnis. Von
Dr. Richard Finger. Berlin 1913, Putt¬
kammer und Mühlbrecht. 63 S. 8°. 1,20 M.

Das „Kleist-Geheimnis" ist gelöset Rum
wissen wir endlich, warum der Dichter den
„Guiscard" verbrannte, warum er sich an:
Wannsee erschoß I Weil er — einen Sprach¬
fehler hatte, weil er — ein Stotterer wart
Glaubst du es nicht, so kaufe dir Fingers
Büchlein und lies, wenn dich nicht Zeit und
Geld gereuen! Ob du allerdings überzeugt
sein wirst?

lvolfgang Stammler [Ende Spaltensatz]
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[0586] Maßgebliches und Unmaßgebliches mir Enders nicht zu weit gegangen zu sein, und ich sehe in dieser Aufdeckung einen der Hauptverdienste des Buches. Hemsterhuis verdrängt in Schlegels Kunstlehre Kant und Schiller, aus ihm und den obengenannten führenden Ästheten des achtzehnten Jahrhun¬ derts konstruiert sich Schlegel, von Fichte unterstützt, allmählich seine neue, eigenartige „Genialitätsphilosophie" — die „Synthese von Aufklärung und Genietum"; Karoline Böhmer, die bald die Gemahlin seines Bruders wird, übt einen besänftigender Einfluß auf ihn aus, eine neue, edlere Anschauung von dem Weib¬ lichen geht ihm in ihr auf. In den? Ver¬ hältnis zu Dorothea findet er schließlich die vollste Befriedigung und endgültige Lösung: „durch die Vergöttlichung der sinnlichen Liebe in der wahren Ehe, durch die genialische Bildung und durch die romantische Ironie." Es ist zu bedauern, daß es den: Verfasser nicht gelungen ist, eine straffere Gliederung vor allem in der Chronologie zu erzielen; dadurch gestaltet sich die Lektüre des an sich schon nicht leichten Buches recht verwirrend, und die genetische Betrachtung des Innen¬ lebens Schlegels wird unnötig erschwert. Trotzdem bedeutet Enders' Darstellung, die mit zwei charakteristischen, bisher unbekannten Bildern Schlegels — ich hebe besonders das Jugendporträt, von Karoline Rehberg ge¬ zeichnet, hervor — geschmückt ist, einen wichtigen Fortschritt in der Erforschung der Frühromantik. Alcxandcrv. Gleichen-Rußwurn»! Schiller, Die Geschichte seines Lebens. Mit 52 Ab¬ bildungen. Verlag Julius Hoffmann, 1913, Stuttgart. SS6S. 8°. Vom Urenkel des Dichters wird uns ein Buch über Schiller dargereicht. Mit einigem Mißtrauen begann ich die Lektüre, da die früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem Gebiete recht oberflächlich gehalten waren. Auch diesmal schürft v. Bleichens Spaten nicht tief, wenn er über schwerere philosophische Probleme sprechen soll. Schillers Stellung zu Kant z. B. ist sehr leicht und obenhin behandelt. Besser liegen dem Verfasser psychologische Momente, wie des Dichters Verhältnis zu den Frauen. Mit feinsinnigein Impressio¬ nismus versteht es da v. Gleichen, sich in die Seele des Liebenden einzufühlen. Der Erforscher und Kenner der seelischen Kultur des achtzehnten Jahrhunderts macht sich hier geltend und gibt eine eindrucksvolle Schil¬ derung des zwischen Charlotte und Karoline schwankenden Dichters. Weniger geglückt ist der Abschnitt über Goethe und Schiller, wenn auch in ihm sich kluge Gedanken finden. Die hysterische Charlotte von Kalb findet ein zu mildes Urteil. Bei der Erzählung von Schillers Jugend ist meines Erachtens die Mutter bedeutend überschätzt, der feste und besonnene Vater dafür auf eine zu niedrige Stufe gesetzt worden. Der Wissenschaft wird v. Gleichen kaum etwas bieten wollen und können, wenn er auch manche noch unbe¬ kannten Familienpapiere zur Belebung der Darstellung zu verwenden imstande war. — „Die Geschichte seines Lebens" soll an uns vorüberziehen, und daraus erklärt eS sich Wohl, daß die Werke, Dramen wie Gedichte, nur gestreift werden. Nur auf die Jugend¬ traum geht der Verfasser zum Teil genauer ein, bei den späteren behilft er sich häufig recht unnötigerweise mit ein Paar wohlklin¬ genden Sätzen, hinter denen nicht viel steckt. Überhaupt, und damit komme ich zu dem Hauptmangel des Buches, ist der Stil, so einfach und klar v. Gleichen zu schreiben bemüht ist, oft mit hohlen Redensarten und Phrasen verbrämt, die dem Leser nichts sagen und besser fortgeblieben wären. Doch die idealistische Grundstimmung, die das Buch durchzieht, die hohe Auffassung von Schillers Beruf, entschädigt dafür und macht es zu einem Haushund im besten Sinne des Wortes. Heinrich von Kleists Geheimnis. Von Dr. Richard Finger. Berlin 1913, Putt¬ kammer und Mühlbrecht. 63 S. 8°. 1,20 M. Das „Kleist-Geheimnis" ist gelöset Rum wissen wir endlich, warum der Dichter den „Guiscard" verbrannte, warum er sich an: Wannsee erschoß I Weil er — einen Sprach¬ fehler hatte, weil er — ein Stotterer wart Glaubst du es nicht, so kaufe dir Fingers Büchlein und lies, wenn dich nicht Zeit und Geld gereuen! Ob du allerdings überzeugt sein wirst? lvolfgang Stammler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/586>, abgerufen am 28.12.2024.