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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Gin Lebendiger

"Laß doch der Frau das Geld, und weshalb bindest du sie?"

Ehe er antworten konnte, drängte sich die Grill an die Jungfrau.

"Da ist die Hexe!" schrie sie. "O, ich habe gewußt, daß der Böse in dir
war! Nun muß ich sterben und meine Kinder hungern zu Tode!"

Der Soldat gab ihr einen Stoß, daß sie zusammenknickte.

"So du noch einmal schreist, hänge ich dich gleich!" drohte er.

Noch einmal schlug er sie, und Heilwig sah, daß das Weib kaum auf den
Füßen gehen konnte, die bloß waren und blutig. Ihr Rock war zerrissen, ihr
Gesicht von Dornen zerkratzt und in ihren Augen lag der Irrsinn. Mitleidig
beugte sich Heilwig zu ihr herab.

"Dort hinten fährt ein Wagen mit Gepäck. Laß dich dorthin führen,
Frank Sie kann nicht mehr gehen!" wandte sie sich ihrem Wächter zu, der
gleichgültig zur Seite blickte.

"Sie ist eine Kundschafterin und die Junker sagten, daß sie hängen soll.
Es ist nur nicht sicher, wer das Urteil zu sprechen hat, daher haben wir sie
hierher gebracht!"

"Laß sie fahren!" bat Heilwig noch einmal, und widerwillig schleifte der
Hannoveraner sie dorthin, wo die Wagen langsam folgten. Heilwig wäre gern
mit ihm geritten, es war aber eine Anhöhe mitten im Walde erreicht, und
mehrere Herren deuteten vor sich.

(Fortsetzung folgt)




Gin Lebendiger
Über die Merke des toten Lemonnier
Dr. Armin T, Wegner von

u Beginn des letzten Sommers brachten die Blätter die Nachricht,
daß Camille Lemonnier, Zeitgenosse Zolas und Altmeister der
Moderne, gestorben sei. Gestorben in dem Augenblick, da er
auch in Deutschland immer breiteren Boden zu gewinnen
begann."sM

Seit zwei Jahren bereitet der Verlag von Axel Juncker-Berlin eine monumen¬
tale Ausgabe dieses großen Belgiers in deutscher Sprache vor, von der soeben
der fünfte Band erschien. (Camille Lemonnier. Ausgewählte Werke. Bd. 1--10.
AxelJunckerVerlag Berlin-Charlottenburg.) Und schon diese ersten Bücher, die kaum
die Hälfte des in Aussicht genommenen Werkes ausmachen, geben ein beredtes,


Gin Lebendiger

„Laß doch der Frau das Geld, und weshalb bindest du sie?"

Ehe er antworten konnte, drängte sich die Grill an die Jungfrau.

„Da ist die Hexe!" schrie sie. „O, ich habe gewußt, daß der Böse in dir
war! Nun muß ich sterben und meine Kinder hungern zu Tode!"

Der Soldat gab ihr einen Stoß, daß sie zusammenknickte.

„So du noch einmal schreist, hänge ich dich gleich!" drohte er.

Noch einmal schlug er sie, und Heilwig sah, daß das Weib kaum auf den
Füßen gehen konnte, die bloß waren und blutig. Ihr Rock war zerrissen, ihr
Gesicht von Dornen zerkratzt und in ihren Augen lag der Irrsinn. Mitleidig
beugte sich Heilwig zu ihr herab.

„Dort hinten fährt ein Wagen mit Gepäck. Laß dich dorthin führen,
Frank Sie kann nicht mehr gehen!" wandte sie sich ihrem Wächter zu, der
gleichgültig zur Seite blickte.

„Sie ist eine Kundschafterin und die Junker sagten, daß sie hängen soll.
Es ist nur nicht sicher, wer das Urteil zu sprechen hat, daher haben wir sie
hierher gebracht!"

„Laß sie fahren!" bat Heilwig noch einmal, und widerwillig schleifte der
Hannoveraner sie dorthin, wo die Wagen langsam folgten. Heilwig wäre gern
mit ihm geritten, es war aber eine Anhöhe mitten im Walde erreicht, und
mehrere Herren deuteten vor sich.

(Fortsetzung folgt)




Gin Lebendiger
Über die Merke des toten Lemonnier
Dr. Armin T, Wegner von

u Beginn des letzten Sommers brachten die Blätter die Nachricht,
daß Camille Lemonnier, Zeitgenosse Zolas und Altmeister der
Moderne, gestorben sei. Gestorben in dem Augenblick, da er
auch in Deutschland immer breiteren Boden zu gewinnen
begann.«sM

Seit zwei Jahren bereitet der Verlag von Axel Juncker-Berlin eine monumen¬
tale Ausgabe dieses großen Belgiers in deutscher Sprache vor, von der soeben
der fünfte Band erschien. (Camille Lemonnier. Ausgewählte Werke. Bd. 1—10.
AxelJunckerVerlag Berlin-Charlottenburg.) Und schon diese ersten Bücher, die kaum
die Hälfte des in Aussicht genommenen Werkes ausmachen, geben ein beredtes,


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[0426] Gin Lebendiger „Laß doch der Frau das Geld, und weshalb bindest du sie?" Ehe er antworten konnte, drängte sich die Grill an die Jungfrau. „Da ist die Hexe!" schrie sie. „O, ich habe gewußt, daß der Böse in dir war! Nun muß ich sterben und meine Kinder hungern zu Tode!" Der Soldat gab ihr einen Stoß, daß sie zusammenknickte. „So du noch einmal schreist, hänge ich dich gleich!" drohte er. Noch einmal schlug er sie, und Heilwig sah, daß das Weib kaum auf den Füßen gehen konnte, die bloß waren und blutig. Ihr Rock war zerrissen, ihr Gesicht von Dornen zerkratzt und in ihren Augen lag der Irrsinn. Mitleidig beugte sich Heilwig zu ihr herab. „Dort hinten fährt ein Wagen mit Gepäck. Laß dich dorthin führen, Frank Sie kann nicht mehr gehen!" wandte sie sich ihrem Wächter zu, der gleichgültig zur Seite blickte. „Sie ist eine Kundschafterin und die Junker sagten, daß sie hängen soll. Es ist nur nicht sicher, wer das Urteil zu sprechen hat, daher haben wir sie hierher gebracht!" „Laß sie fahren!" bat Heilwig noch einmal, und widerwillig schleifte der Hannoveraner sie dorthin, wo die Wagen langsam folgten. Heilwig wäre gern mit ihm geritten, es war aber eine Anhöhe mitten im Walde erreicht, und mehrere Herren deuteten vor sich. (Fortsetzung folgt) Gin Lebendiger Über die Merke des toten Lemonnier Dr. Armin T, Wegner von u Beginn des letzten Sommers brachten die Blätter die Nachricht, daß Camille Lemonnier, Zeitgenosse Zolas und Altmeister der Moderne, gestorben sei. Gestorben in dem Augenblick, da er auch in Deutschland immer breiteren Boden zu gewinnen begann.«sM Seit zwei Jahren bereitet der Verlag von Axel Juncker-Berlin eine monumen¬ tale Ausgabe dieses großen Belgiers in deutscher Sprache vor, von der soeben der fünfte Band erschien. (Camille Lemonnier. Ausgewählte Werke. Bd. 1—10. AxelJunckerVerlag Berlin-Charlottenburg.) Und schon diese ersten Bücher, die kaum die Hälfte des in Aussicht genommenen Werkes ausmachen, geben ein beredtes,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/426>, abgerufen am 28.12.2024.