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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

vorgekommen, daß ich die ganze Lehrstunde auf
eine unvermittelte Frage oder Antwort eines
aufgeweckten Schülers hin mit Erfolg voll¬
ständig verändert habe." (S. 9.) Oder: "Ich
möchte damit zugleich dem Lehrer anempfehlen,
daß er niemals den Gang des Unterrichts
in eine starre Form preßt/' (S. 34.) Der-
artige Anweisungen finden sich häufig in dein
Buche. Unsere Erzieher brauchen sich solche
Weisheit nicht erst aus England zu holen.
Bemerkenswert ist der Versuch des Verfassers,
die Geschichte der Mathematik in den Unterricht
hereinzuziehen. In einem besonderen Ab¬
schnitt zeigt er, wie die Menschheit veranlaßt
wurde, mathematisches Wissen zu entwickeln,
wie die mathematische Zeichensprache geschaffen
wurde, und wie ein Parallelismus besteht
zwischen dem tatsächlichen Entwicklungsgang
deS geometrischen Wissens von den ältesten
Zeiten ab und dem Wege, auf dem das Wissen
nach Ansicht des Verfassers am schnellsten und
Wirksamsten dem Schüler vermittelt werden
kann.

Lamarck: "Die Lehre vom Leben."

Dar¬
gestellt von Dr. F. Kühner. (Eugen Diederichs,
Jena, 1913. 260 S. Gebunden 6 M.)

DaS Buch Aber Lamarcks Lehre vorn Leben
gehört in die neue Sammlung: "Klassiker
der Naturwissenschaft und Technik", welche
Dr. Franz Strunz-Wien bei Eugen Diederichs
in Jena herausgibt. Hier sollen die Bahn¬
brecher der Naturforschung aus allen Epochen
zu Worte kommen, aber nicht so, daß ein
naturwissenschaftliches Lesebuch entsteht. Das
Ziel ist ein anderes. ES soll ein wirklich
lebendiger Bildungsbesitz dadurch geschaffen
werden, daß die großen Naturforscher alter
und neuer Zeiten in ihrem Ringen, Siegen
oder Unterliegen dem Leser vor Augen geführt
werden. Er berührt sich innerlich mit ihnen,
so daß ihm die wissenschaftliche Tatsache zu
einem Erlebnis wird. Der erste vorliegende
Band (Serie I, Ur. 12) beschäftigt sich mit
dem französischen Naturforscher Lamarck, dessen
Gedanken über eine allmähliche Entwicklung
der Lebewesen zu seiner Zeit wenig Beachtung
fanden und lange vergessen waren. Heute
sind sie, besonders durch Prof. Weismann, in
den Vordergrund des Interesses gerückt worden.
Über manche Dinge, die Lamarck vor mehr

[Spaltenumbruch]

als hundert Jahren niederschrieb, wird gerade
jn unserer Zeit viel gesprochen, z. B. über
die Frage nach der Vererbung erworbener
Eigenschaften. Der Verfasser hält sich, wie
es auch dem Charakter des Buches entspricht,
von allen Streitfragen fern. Er gibt eine
anschauliche Darstellung von Lmnnrcks Leben
und Lehre, bei welcher auch der Schriften
über Physik, Chemie, Geologie und Wetter¬
kunde gedacht wird.

Dr. R. Schmitt-Wendet.
schöne Literatur

Die jungen Schweizer. Wenn so zehn
Novellen in einem Bande (Jakob Boshnrt:
Erdschollen. Novellen. H. Haessel Verlag,
Leipzig 1913. 4 Mark) sich zusammenfinden
und Phantasie, Eigenart, Sprachmusik und
schlichte Wahrhaftigkeit uns schon aus den
Titeln: wie "Heimat", "Im Rotbucheu-
lcmb", "Die geblendete Schwalbe", "O Leben,
o Liebe" entgegentönen, so kommt es gar nicht
darauf an, daß alle zehn Musterwcrke seien.
Die Weite des Akkords, die des Dichters An¬
schlag umfaßt, die unbeabsichtigte Einheit der
Erzählungen in der Persönlichkeit des Dichters
muß uns genügen.

Die erste der Novellen: "Heimat" scheint
geeignet als Zeughaus, als unbelebte Rüst¬
kammer Boshnrts, die Novelle: "Im Not¬
buchenlaub" aber als Höhepunkt seines heu¬
tigen Könnens gemustert zu werden. "Heimat"
zeigt uns die Waffen des Dichters, sozusagen
außer Gebrauch, "Notbuchenlaub" aber seine
lebendigen Kinder, die seine Rüstung tragen.

Der Tobelhans, der nicht umsonst den
Namen Schollenberger führt, ist, wie seine
Vorfahren, Besitzer eines unwirtlichen, hart-
ackerigen Gutes, dem die karge Nahrung mit
Arbeitsgewalt ordentlich entrissen werden muß.
Er und sein Geschlecht sind dem Hofe gleich
geworden, der Mensch hat sich innerlich und
äußerlich dem Boden auf dem er steht an¬
gepaßt. Ein gewaltiger epischer Gedanke diese
Angleichung des wandelbaren Menschen an
die treuere Eigenart seines gegenstündlichen
Besitzes, doch die Ausführung hält noch nicht
Schritt, sie fällt aus dem Erbarmungslos¬
großen ins Gefühlvoll-kleine und zuletzt ver¬
schwindet der Gedanke der Einheit zwischen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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vorgekommen, daß ich die ganze Lehrstunde auf
eine unvermittelte Frage oder Antwort eines
aufgeweckten Schülers hin mit Erfolg voll¬
ständig verändert habe." (S. 9.) Oder: „Ich
möchte damit zugleich dem Lehrer anempfehlen,
daß er niemals den Gang des Unterrichts
in eine starre Form preßt/' (S. 34.) Der-
artige Anweisungen finden sich häufig in dein
Buche. Unsere Erzieher brauchen sich solche
Weisheit nicht erst aus England zu holen.
Bemerkenswert ist der Versuch des Verfassers,
die Geschichte der Mathematik in den Unterricht
hereinzuziehen. In einem besonderen Ab¬
schnitt zeigt er, wie die Menschheit veranlaßt
wurde, mathematisches Wissen zu entwickeln,
wie die mathematische Zeichensprache geschaffen
wurde, und wie ein Parallelismus besteht
zwischen dem tatsächlichen Entwicklungsgang
deS geometrischen Wissens von den ältesten
Zeiten ab und dem Wege, auf dem das Wissen
nach Ansicht des Verfassers am schnellsten und
Wirksamsten dem Schüler vermittelt werden
kann.

Lamarck: „Die Lehre vom Leben."

Dar¬
gestellt von Dr. F. Kühner. (Eugen Diederichs,
Jena, 1913. 260 S. Gebunden 6 M.)

DaS Buch Aber Lamarcks Lehre vorn Leben
gehört in die neue Sammlung: „Klassiker
der Naturwissenschaft und Technik", welche
Dr. Franz Strunz-Wien bei Eugen Diederichs
in Jena herausgibt. Hier sollen die Bahn¬
brecher der Naturforschung aus allen Epochen
zu Worte kommen, aber nicht so, daß ein
naturwissenschaftliches Lesebuch entsteht. Das
Ziel ist ein anderes. ES soll ein wirklich
lebendiger Bildungsbesitz dadurch geschaffen
werden, daß die großen Naturforscher alter
und neuer Zeiten in ihrem Ringen, Siegen
oder Unterliegen dem Leser vor Augen geführt
werden. Er berührt sich innerlich mit ihnen,
so daß ihm die wissenschaftliche Tatsache zu
einem Erlebnis wird. Der erste vorliegende
Band (Serie I, Ur. 12) beschäftigt sich mit
dem französischen Naturforscher Lamarck, dessen
Gedanken über eine allmähliche Entwicklung
der Lebewesen zu seiner Zeit wenig Beachtung
fanden und lange vergessen waren. Heute
sind sie, besonders durch Prof. Weismann, in
den Vordergrund des Interesses gerückt worden.
Über manche Dinge, die Lamarck vor mehr

[Spaltenumbruch]

als hundert Jahren niederschrieb, wird gerade
jn unserer Zeit viel gesprochen, z. B. über
die Frage nach der Vererbung erworbener
Eigenschaften. Der Verfasser hält sich, wie
es auch dem Charakter des Buches entspricht,
von allen Streitfragen fern. Er gibt eine
anschauliche Darstellung von Lmnnrcks Leben
und Lehre, bei welcher auch der Schriften
über Physik, Chemie, Geologie und Wetter¬
kunde gedacht wird.

Dr. R. Schmitt-Wendet.
schöne Literatur

Die jungen Schweizer. Wenn so zehn
Novellen in einem Bande (Jakob Boshnrt:
Erdschollen. Novellen. H. Haessel Verlag,
Leipzig 1913. 4 Mark) sich zusammenfinden
und Phantasie, Eigenart, Sprachmusik und
schlichte Wahrhaftigkeit uns schon aus den
Titeln: wie „Heimat", „Im Rotbucheu-
lcmb", „Die geblendete Schwalbe", „O Leben,
o Liebe" entgegentönen, so kommt es gar nicht
darauf an, daß alle zehn Musterwcrke seien.
Die Weite des Akkords, die des Dichters An¬
schlag umfaßt, die unbeabsichtigte Einheit der
Erzählungen in der Persönlichkeit des Dichters
muß uns genügen.

Die erste der Novellen: „Heimat" scheint
geeignet als Zeughaus, als unbelebte Rüst¬
kammer Boshnrts, die Novelle: „Im Not¬
buchenlaub" aber als Höhepunkt seines heu¬
tigen Könnens gemustert zu werden. „Heimat"
zeigt uns die Waffen des Dichters, sozusagen
außer Gebrauch, „Notbuchenlaub" aber seine
lebendigen Kinder, die seine Rüstung tragen.

Der Tobelhans, der nicht umsonst den
Namen Schollenberger führt, ist, wie seine
Vorfahren, Besitzer eines unwirtlichen, hart-
ackerigen Gutes, dem die karge Nahrung mit
Arbeitsgewalt ordentlich entrissen werden muß.
Er und sein Geschlecht sind dem Hofe gleich
geworden, der Mensch hat sich innerlich und
äußerlich dem Boden auf dem er steht an¬
gepaßt. Ein gewaltiger epischer Gedanke diese
Angleichung des wandelbaren Menschen an
die treuere Eigenart seines gegenstündlichen
Besitzes, doch die Ausführung hält noch nicht
Schritt, sie fällt aus dem Erbarmungslos¬
großen ins Gefühlvoll-kleine und zuletzt ver¬
schwindet der Gedanke der Einheit zwischen

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[0201] Maßgebliches und Unmaßgebliches vorgekommen, daß ich die ganze Lehrstunde auf eine unvermittelte Frage oder Antwort eines aufgeweckten Schülers hin mit Erfolg voll¬ ständig verändert habe." (S. 9.) Oder: „Ich möchte damit zugleich dem Lehrer anempfehlen, daß er niemals den Gang des Unterrichts in eine starre Form preßt/' (S. 34.) Der- artige Anweisungen finden sich häufig in dein Buche. Unsere Erzieher brauchen sich solche Weisheit nicht erst aus England zu holen. Bemerkenswert ist der Versuch des Verfassers, die Geschichte der Mathematik in den Unterricht hereinzuziehen. In einem besonderen Ab¬ schnitt zeigt er, wie die Menschheit veranlaßt wurde, mathematisches Wissen zu entwickeln, wie die mathematische Zeichensprache geschaffen wurde, und wie ein Parallelismus besteht zwischen dem tatsächlichen Entwicklungsgang deS geometrischen Wissens von den ältesten Zeiten ab und dem Wege, auf dem das Wissen nach Ansicht des Verfassers am schnellsten und Wirksamsten dem Schüler vermittelt werden kann. Lamarck: „Die Lehre vom Leben." Dar¬ gestellt von Dr. F. Kühner. (Eugen Diederichs, Jena, 1913. 260 S. Gebunden 6 M.) DaS Buch Aber Lamarcks Lehre vorn Leben gehört in die neue Sammlung: „Klassiker der Naturwissenschaft und Technik", welche Dr. Franz Strunz-Wien bei Eugen Diederichs in Jena herausgibt. Hier sollen die Bahn¬ brecher der Naturforschung aus allen Epochen zu Worte kommen, aber nicht so, daß ein naturwissenschaftliches Lesebuch entsteht. Das Ziel ist ein anderes. ES soll ein wirklich lebendiger Bildungsbesitz dadurch geschaffen werden, daß die großen Naturforscher alter und neuer Zeiten in ihrem Ringen, Siegen oder Unterliegen dem Leser vor Augen geführt werden. Er berührt sich innerlich mit ihnen, so daß ihm die wissenschaftliche Tatsache zu einem Erlebnis wird. Der erste vorliegende Band (Serie I, Ur. 12) beschäftigt sich mit dem französischen Naturforscher Lamarck, dessen Gedanken über eine allmähliche Entwicklung der Lebewesen zu seiner Zeit wenig Beachtung fanden und lange vergessen waren. Heute sind sie, besonders durch Prof. Weismann, in den Vordergrund des Interesses gerückt worden. Über manche Dinge, die Lamarck vor mehr als hundert Jahren niederschrieb, wird gerade jn unserer Zeit viel gesprochen, z. B. über die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Der Verfasser hält sich, wie es auch dem Charakter des Buches entspricht, von allen Streitfragen fern. Er gibt eine anschauliche Darstellung von Lmnnrcks Leben und Lehre, bei welcher auch der Schriften über Physik, Chemie, Geologie und Wetter¬ kunde gedacht wird. Dr. R. Schmitt-Wendet. schöne Literatur Die jungen Schweizer. Wenn so zehn Novellen in einem Bande (Jakob Boshnrt: Erdschollen. Novellen. H. Haessel Verlag, Leipzig 1913. 4 Mark) sich zusammenfinden und Phantasie, Eigenart, Sprachmusik und schlichte Wahrhaftigkeit uns schon aus den Titeln: wie „Heimat", „Im Rotbucheu- lcmb", „Die geblendete Schwalbe", „O Leben, o Liebe" entgegentönen, so kommt es gar nicht darauf an, daß alle zehn Musterwcrke seien. Die Weite des Akkords, die des Dichters An¬ schlag umfaßt, die unbeabsichtigte Einheit der Erzählungen in der Persönlichkeit des Dichters muß uns genügen. Die erste der Novellen: „Heimat" scheint geeignet als Zeughaus, als unbelebte Rüst¬ kammer Boshnrts, die Novelle: „Im Not¬ buchenlaub" aber als Höhepunkt seines heu¬ tigen Könnens gemustert zu werden. „Heimat" zeigt uns die Waffen des Dichters, sozusagen außer Gebrauch, „Notbuchenlaub" aber seine lebendigen Kinder, die seine Rüstung tragen. Der Tobelhans, der nicht umsonst den Namen Schollenberger führt, ist, wie seine Vorfahren, Besitzer eines unwirtlichen, hart- ackerigen Gutes, dem die karge Nahrung mit Arbeitsgewalt ordentlich entrissen werden muß. Er und sein Geschlecht sind dem Hofe gleich geworden, der Mensch hat sich innerlich und äußerlich dem Boden auf dem er steht an¬ gepaßt. Ein gewaltiger epischer Gedanke diese Angleichung des wandelbaren Menschen an die treuere Eigenart seines gegenstündlichen Besitzes, doch die Ausführung hält noch nicht Schritt, sie fällt aus dem Erbarmungslos¬ großen ins Gefühlvoll-kleine und zuletzt ver¬ schwindet der Gedanke der Einheit zwischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/201>, abgerufen am 28.12.2024.