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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder? Dr. Wilhelm Martin Becker vonin

^v"! cum man den modernen "Gebildeten" über Herder befragt, so gerät
er in Verlegenheit. Er weiß aus seiner Schulzeit etwas vom
"Cid", von den Volksliedern, hat vielleicht etwas von den "Ideen"
gehört, aber lebendig ist ihm die Vorstellung dieses Mannes nicht.
^Die Schule ist daran nicht schuld. Denn sie kann unter den
Männern, die den Eingang zur neueren deutschen Geistesgeschichte bezeichnen,
außer Kant keinen dem jugendlichen Verständnis schwerer erschließen als Herder.
Und wer beschäftigt sich nach der Schule noch mit ihm?

Daß dieser Zustand eines Volkes nicht würdig ist, das für so viele kleine
Geister mit andächtiger Verehrung "Gemeinden" bildet, darüber wird kein
Zweifel sein. Aber man wird fragen müssen: Verlieren unsere gebildeten
Kreise, auf die soviele Tagesinteressen einstürmen, beträchtliche Werte, wenn sie
die Größen der Tagesmode einmal zurücksetzen, um Herder vorzulassen? Was
könnte dem Durchschnitt von uns Herder noch sein? Insbesondere: Könnte er
uns Führer sein?

Es ist nicht rätlich, sich in die gewaltige Masse Herderscher Schriften ohne
sachkundige Leitung hineinzuwagen. Die Biographie von Eugen Kühnemann
liegt jetzt in zweiter Auflage vor ("Herder", München 1912, Beck) und gibt
sich schon in ihrer Titeländerung (die erste Auflage 1893 hieß "Herders Leben")
als einen Versuch, in die Persönlichkeit Herders selbst einzudringen. Das Wesen
dieses absonderlichen Menschen wird uns in diesem Buche wirklich lebendig.
Tiefen und Untiefen sind schärfer als früher erfaßt und begründet, und der
Niedergang des Gestirns in den Bedingungen seines Aufstiegs bereits erschaut.
Eine Würdigung von Herders Wesensart wird daher an dieses Buch anknüpfen
können.

Wer von dem Buche Kühnemanns herkommend sich die obige Frage vor¬
legt, der findet, daß Herders Natur nach sehr bemerkenswerten Seiten hin mit
den, Wesen vieler unserer Mitlebenden verwandt ist. So sehr, daß es eine
Gefahr bedeuten könnte, wenn sie sich in ihn hineinlebten und ihn als eine
Art Vorbild vor sich aufpflanzten. Ich denke an den Mangel der dauernden




Mehr Herder? Dr. Wilhelm Martin Becker vonin

^v»! cum man den modernen „Gebildeten" über Herder befragt, so gerät
er in Verlegenheit. Er weiß aus seiner Schulzeit etwas vom
„Cid", von den Volksliedern, hat vielleicht etwas von den „Ideen"
gehört, aber lebendig ist ihm die Vorstellung dieses Mannes nicht.
^Die Schule ist daran nicht schuld. Denn sie kann unter den
Männern, die den Eingang zur neueren deutschen Geistesgeschichte bezeichnen,
außer Kant keinen dem jugendlichen Verständnis schwerer erschließen als Herder.
Und wer beschäftigt sich nach der Schule noch mit ihm?

Daß dieser Zustand eines Volkes nicht würdig ist, das für so viele kleine
Geister mit andächtiger Verehrung „Gemeinden" bildet, darüber wird kein
Zweifel sein. Aber man wird fragen müssen: Verlieren unsere gebildeten
Kreise, auf die soviele Tagesinteressen einstürmen, beträchtliche Werte, wenn sie
die Größen der Tagesmode einmal zurücksetzen, um Herder vorzulassen? Was
könnte dem Durchschnitt von uns Herder noch sein? Insbesondere: Könnte er
uns Führer sein?

Es ist nicht rätlich, sich in die gewaltige Masse Herderscher Schriften ohne
sachkundige Leitung hineinzuwagen. Die Biographie von Eugen Kühnemann
liegt jetzt in zweiter Auflage vor („Herder", München 1912, Beck) und gibt
sich schon in ihrer Titeländerung (die erste Auflage 1893 hieß „Herders Leben")
als einen Versuch, in die Persönlichkeit Herders selbst einzudringen. Das Wesen
dieses absonderlichen Menschen wird uns in diesem Buche wirklich lebendig.
Tiefen und Untiefen sind schärfer als früher erfaßt und begründet, und der
Niedergang des Gestirns in den Bedingungen seines Aufstiegs bereits erschaut.
Eine Würdigung von Herders Wesensart wird daher an dieses Buch anknüpfen
können.

Wer von dem Buche Kühnemanns herkommend sich die obige Frage vor¬
legt, der findet, daß Herders Natur nach sehr bemerkenswerten Seiten hin mit
den, Wesen vieler unserer Mitlebenden verwandt ist. So sehr, daß es eine
Gefahr bedeuten könnte, wenn sie sich in ihn hineinlebten und ihn als eine
Art Vorbild vor sich aufpflanzten. Ich denke an den Mangel der dauernden


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[0073] [Abbildung] Mehr Herder? Dr. Wilhelm Martin Becker vonin ^v»! cum man den modernen „Gebildeten" über Herder befragt, so gerät er in Verlegenheit. Er weiß aus seiner Schulzeit etwas vom „Cid", von den Volksliedern, hat vielleicht etwas von den „Ideen" gehört, aber lebendig ist ihm die Vorstellung dieses Mannes nicht. ^Die Schule ist daran nicht schuld. Denn sie kann unter den Männern, die den Eingang zur neueren deutschen Geistesgeschichte bezeichnen, außer Kant keinen dem jugendlichen Verständnis schwerer erschließen als Herder. Und wer beschäftigt sich nach der Schule noch mit ihm? Daß dieser Zustand eines Volkes nicht würdig ist, das für so viele kleine Geister mit andächtiger Verehrung „Gemeinden" bildet, darüber wird kein Zweifel sein. Aber man wird fragen müssen: Verlieren unsere gebildeten Kreise, auf die soviele Tagesinteressen einstürmen, beträchtliche Werte, wenn sie die Größen der Tagesmode einmal zurücksetzen, um Herder vorzulassen? Was könnte dem Durchschnitt von uns Herder noch sein? Insbesondere: Könnte er uns Führer sein? Es ist nicht rätlich, sich in die gewaltige Masse Herderscher Schriften ohne sachkundige Leitung hineinzuwagen. Die Biographie von Eugen Kühnemann liegt jetzt in zweiter Auflage vor („Herder", München 1912, Beck) und gibt sich schon in ihrer Titeländerung (die erste Auflage 1893 hieß „Herders Leben") als einen Versuch, in die Persönlichkeit Herders selbst einzudringen. Das Wesen dieses absonderlichen Menschen wird uns in diesem Buche wirklich lebendig. Tiefen und Untiefen sind schärfer als früher erfaßt und begründet, und der Niedergang des Gestirns in den Bedingungen seines Aufstiegs bereits erschaut. Eine Würdigung von Herders Wesensart wird daher an dieses Buch anknüpfen können. Wer von dem Buche Kühnemanns herkommend sich die obige Frage vor¬ legt, der findet, daß Herders Natur nach sehr bemerkenswerten Seiten hin mit den, Wesen vieler unserer Mitlebenden verwandt ist. So sehr, daß es eine Gefahr bedeuten könnte, wenn sie sich in ihn hineinlebten und ihn als eine Art Vorbild vor sich aufpflanzten. Ich denke an den Mangel der dauernden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/73>, abgerufen am 27.07.2024.