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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

die Unzahl beobachten, es genüge hier einige der bekanntesten in die neue
Beziehung zu bringen.

Die unbegrenzte Zeit und Raummöglichkeit einer Wellenbewegung fordert
selbstredend rhythmische Gliederung, weil Grenzenlosigkeit unseren Sinnen nur
durch ein stets sich wiederholendes Gleichmaß faßbar gemacht werden kann.
Daher die Neigung des Epos zur rhythmischen Sprache, die Vorliebe und die
Sinnfälligkeit der epischen Wiederholungen, der stehenden Ausdrücke des Ne-
präsentativtypischen in der Wortwahl. Dieser Stil erzeugt dann -- sofern er
echt ist -- das Unpersönliche der Figuren, ein Riesenmaß der Leiber, das
Repräsentative der Eposfigur. Wie ein Glied der Kette folgt daraus das
Zeremonielle, das Öffentliche der epischen Gefühls- und Ausdrucksweise im
Gegensatz zur Intimität, zur Aufgeknöpftheit des Romans. Ein sich gegen¬
seitig durchwachsendes Zwiegespräch ist daher nur im Roman heimisch, im Epos
kaum denkbar: Reden tauschen nicht nur die Könige in der Volksversammlung,
Reden tauscht auch Hera mit Aphrodite und mit Zeus in den Augenblicken
ehelicher Vertraulichkeit, Reden tauschen die Mutter Thetis und der Sohn
Achilleus, wenn sie ihr kummervolles Herz einander ausschütten.




Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren
höheren Schulen Gymnasialdirektor Dr. Paul Lorentz von in

! cum die starke Bewegung auf dem Gebiete unseres höheren Schul¬
wesens in ihren Ergebnissen immer noch wenig befriedigend bleibt,
so liegt das ganz gewiß zu einem guten Teil daran, daß die
mancherlei fruchtbaren Ansätze noch nicht genügend Zeit gehabt
' haben, sich zu entwickeln. Es ist eben ein charakteristisches Zeichen
unserer Zeit, daß sie, verwöhnt durch das sich fortwährend steigernde Tempo
in allen technischen Betrieben, organisches Wachstum nicht mehr recht in Ruhe
abwarten kann. Tiefer gesehen hängen aber doch jene unaufhörlichen Reform¬
versuche mit der Wandlung zusammen, die unsere gesamte geistige Kultur heute
durchmacht. Daß diese Wandlung darin besteht, daß wir nach einer der
gesamten heutigen Entwicklung der Weltzustände und der Kenntnis der Wirk¬
lichkeit entsprechenden Weltanschauung streben, daran ist gar nicht mehr zu
zweifeln. Die Fähigkeit aber, sich eine solche, im ernstesten und verantwort¬
lichsten Sinne moderne Weltanschauung zu bilden -- die bewußt Lebenden


Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

die Unzahl beobachten, es genüge hier einige der bekanntesten in die neue
Beziehung zu bringen.

Die unbegrenzte Zeit und Raummöglichkeit einer Wellenbewegung fordert
selbstredend rhythmische Gliederung, weil Grenzenlosigkeit unseren Sinnen nur
durch ein stets sich wiederholendes Gleichmaß faßbar gemacht werden kann.
Daher die Neigung des Epos zur rhythmischen Sprache, die Vorliebe und die
Sinnfälligkeit der epischen Wiederholungen, der stehenden Ausdrücke des Ne-
präsentativtypischen in der Wortwahl. Dieser Stil erzeugt dann — sofern er
echt ist — das Unpersönliche der Figuren, ein Riesenmaß der Leiber, das
Repräsentative der Eposfigur. Wie ein Glied der Kette folgt daraus das
Zeremonielle, das Öffentliche der epischen Gefühls- und Ausdrucksweise im
Gegensatz zur Intimität, zur Aufgeknöpftheit des Romans. Ein sich gegen¬
seitig durchwachsendes Zwiegespräch ist daher nur im Roman heimisch, im Epos
kaum denkbar: Reden tauschen nicht nur die Könige in der Volksversammlung,
Reden tauscht auch Hera mit Aphrodite und mit Zeus in den Augenblicken
ehelicher Vertraulichkeit, Reden tauschen die Mutter Thetis und der Sohn
Achilleus, wenn sie ihr kummervolles Herz einander ausschütten.




Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren
höheren Schulen Gymnasialdirektor Dr. Paul Lorentz von in

! cum die starke Bewegung auf dem Gebiete unseres höheren Schul¬
wesens in ihren Ergebnissen immer noch wenig befriedigend bleibt,
so liegt das ganz gewiß zu einem guten Teil daran, daß die
mancherlei fruchtbaren Ansätze noch nicht genügend Zeit gehabt
' haben, sich zu entwickeln. Es ist eben ein charakteristisches Zeichen
unserer Zeit, daß sie, verwöhnt durch das sich fortwährend steigernde Tempo
in allen technischen Betrieben, organisches Wachstum nicht mehr recht in Ruhe
abwarten kann. Tiefer gesehen hängen aber doch jene unaufhörlichen Reform¬
versuche mit der Wandlung zusammen, die unsere gesamte geistige Kultur heute
durchmacht. Daß diese Wandlung darin besteht, daß wir nach einer der
gesamten heutigen Entwicklung der Weltzustände und der Kenntnis der Wirk¬
lichkeit entsprechenden Weltanschauung streben, daran ist gar nicht mehr zu
zweifeln. Die Fähigkeit aber, sich eine solche, im ernstesten und verantwort¬
lichsten Sinne moderne Weltanschauung zu bilden — die bewußt Lebenden


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[0376] Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen die Unzahl beobachten, es genüge hier einige der bekanntesten in die neue Beziehung zu bringen. Die unbegrenzte Zeit und Raummöglichkeit einer Wellenbewegung fordert selbstredend rhythmische Gliederung, weil Grenzenlosigkeit unseren Sinnen nur durch ein stets sich wiederholendes Gleichmaß faßbar gemacht werden kann. Daher die Neigung des Epos zur rhythmischen Sprache, die Vorliebe und die Sinnfälligkeit der epischen Wiederholungen, der stehenden Ausdrücke des Ne- präsentativtypischen in der Wortwahl. Dieser Stil erzeugt dann — sofern er echt ist — das Unpersönliche der Figuren, ein Riesenmaß der Leiber, das Repräsentative der Eposfigur. Wie ein Glied der Kette folgt daraus das Zeremonielle, das Öffentliche der epischen Gefühls- und Ausdrucksweise im Gegensatz zur Intimität, zur Aufgeknöpftheit des Romans. Ein sich gegen¬ seitig durchwachsendes Zwiegespräch ist daher nur im Roman heimisch, im Epos kaum denkbar: Reden tauschen nicht nur die Könige in der Volksversammlung, Reden tauscht auch Hera mit Aphrodite und mit Zeus in den Augenblicken ehelicher Vertraulichkeit, Reden tauschen die Mutter Thetis und der Sohn Achilleus, wenn sie ihr kummervolles Herz einander ausschütten. Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen Gymnasialdirektor Dr. Paul Lorentz von in ! cum die starke Bewegung auf dem Gebiete unseres höheren Schul¬ wesens in ihren Ergebnissen immer noch wenig befriedigend bleibt, so liegt das ganz gewiß zu einem guten Teil daran, daß die mancherlei fruchtbaren Ansätze noch nicht genügend Zeit gehabt ' haben, sich zu entwickeln. Es ist eben ein charakteristisches Zeichen unserer Zeit, daß sie, verwöhnt durch das sich fortwährend steigernde Tempo in allen technischen Betrieben, organisches Wachstum nicht mehr recht in Ruhe abwarten kann. Tiefer gesehen hängen aber doch jene unaufhörlichen Reform¬ versuche mit der Wandlung zusammen, die unsere gesamte geistige Kultur heute durchmacht. Daß diese Wandlung darin besteht, daß wir nach einer der gesamten heutigen Entwicklung der Weltzustände und der Kenntnis der Wirk¬ lichkeit entsprechenden Weltanschauung streben, daran ist gar nicht mehr zu zweifeln. Die Fähigkeit aber, sich eine solche, im ernstesten und verantwort¬ lichsten Sinne moderne Weltanschauung zu bilden — die bewußt Lebenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/376>, abgerufen am 27.07.2024.