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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Was wirklich geschah, nämlich eine der kleinen
Schlauheiten des auch hierbei maßgebenden
Fürsten Metternich, Der Prinz empfing ohne
weiteres eine übergoldete Militärwaisen-
erziehung, von deren innerlicher Unüberlegt¬
heit wir einen Begriff erhalten, wenn im
Jahre 1818 der diensttuende Präzeptor mit
Hauptmannsrang noch nicht auf die Frage
des Zöglings eingerichtet ist, wo sein Vater
jetzt weile. An dieser Stelle äußert sich der
Autor scheinbar freimütig über die groben
Mängel des Systems; er tut das auch sonst,
wo es nicht anders geht und nicht allzuviel
ausmacht. Aber das Buch kann trotz solcher
VorbeugungSmittel die Eigenschaft einer be¬
hutsam angelegten Schutzschrift nicht verhehlen.
In diesem Falle handelte es sich einfach genug
turnen, eine Kindesseele zu gewinnen und
dann einen Charakter zu formen. Statt
dessen zwang man den Knaben zu einer weit¬
gehenden Heuchelei und verbitterte ihn, der
gewiß ohnehin störrisch veranlagt war, so
heftig, daß er manchmal in völlige Obstruktion
verfiel. Der ganze Erfolg dieser bis ins
20. Jahr des Prinzen andauernden "Erziehung"
bestand in der formalen Verdeutschung seines
Sprachdenkens. Und zum Schluß strafte sich
das Kollegium selber Lügen, indem eS, natür¬
lich auf Veranlassung des Kaisers Franz, den
Marschall Marmont vorübergehend aufnehmen
mußte, damit dieser alte Waffengefährte Na¬
poleons dem Sohn von des Vaters Leben
und Taten berichte. Auch das ist, obwohl
ein Dementi des bisherigen Totschweigens,
nur eine Komödie gewesen; hätte Moreau
noch gelebt, würde man ihn statt des ab-
trünnigenMnrmont berufen haben.Wertheimers
Buch, hier schon einsilbig, behandelt dann die
letzten Lebensjahre des Herzogs von Reich¬
stadt in unbefriedigender Kürze. Wie bekannt,
ist dem Wiener Hofe vorgeworfen worden, er
habe den frühen Tod seines Politischen Pfand¬
objekts (am 22. Juli 1832) verschuldet, sei
es durch Gift oder durch Verstrickung in Aus¬
schweifungen. Der fleißige Archivforscher wehrt
beide Lesarten ab i die Giftlegende mit Glück,
die andere mit Kopfschütteln. Der Prinz sei
eher den Anstrengungen des Dienstes und
zuletzt einer irrigen Diagnose erlegen, aber:
"es ist interessant, daß man in Wien eigent¬
lich erst nach dem Tode des Herzogs zum

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Bewußtsein von dessen Bedeutung gelangte."
-- Ein Schlußkapitel, "Charakteristik" über¬
schrieben, nimmt dann Wider berechtigtes Er¬
warten eine von der bis dahin durchgeführten
Stellungnahme stark abweichende Haltung an.
Es ist eine Art gemäßigter Apotheose, dabei
aber nur eine Konzession an die "Aiglon"-
Mythe. Der verkümmerte zweite Napoleon
wuchs versorgt auf, und daran allein müssen
überflüssige Parallelen scheitern. Sodann be¬
achtet die -Forschung noch immer nicht den
Umstand, daß in der Familie Bonaparte viel¬
mehr die sozusagen behagliche Strömung, vom
Vater Carlo ausgehend, obherrscht. Der
Kaiser war schon bei Lebzeiten oft genug ent¬
täuscht, daß seine Brüder von ganz anderem
L. N. Schlage gewesen sind.

Schöne Literatur

Dichtungen und Dichter. Essays und
Studien von Otto Pniower. 1912. S.Fischer,
Verlag, Berlin. ?73 S. 8°. Geheftet M. 6.-,
gebunden M. 6.--.

Der als feinsinniger Interpret und gründ¬
licher Forscher rühmlichst bekannte Direktor
des Märkischen Museums zu Berlin bietet
seine verstreuten Aufsätze gesammelt dem
interessierten Leserkreise dar. Ich habe be¬
reits früher einmal hier auf den Wert solcher
Sammlungen hingewiesen, und durch Pniowers
Gabe finde ich meineWorte von neuem bestätigt.
Besonders seine wertvollen Beiträge zur Kleist-
Forschung, über die Quellen in "Michael Kohl-
haus" und zum "Prinzen von Homburg" und
deren Verarbeitung durch die Phantasie des
Dichters, waren bisher nur dein zünftigen
Gelehrtenkreise bekannt, verdienen es aber,
um ihrer vorbildlichen Methode willen auch
weiteren.Kreisen zugänglich zu werden und da¬
durch die viel verbreitete Ansicht von der trockenen
und nutzlosen Philologie zu widerlegen. Die
ersten Studien befassen sich mit Goethe und
sind zum Teil als Einleitungen zu den ver¬
schiedenen Bänden der bekannten Pcincheon-
Ausgaben bereits gedruckt worden; doch hat
sie der Verfasser mit Rücksicht auf die neue
Literatur von neuem durchgesehen und manche
Verbesserungen angebracht; rühmend hervor¬
heben möchte ich die Einführung in den
"Tasso" und den gedankenvollen Essay über
Goethes Religion, der in Heft 26 und 27 des

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Was wirklich geschah, nämlich eine der kleinen
Schlauheiten des auch hierbei maßgebenden
Fürsten Metternich, Der Prinz empfing ohne
weiteres eine übergoldete Militärwaisen-
erziehung, von deren innerlicher Unüberlegt¬
heit wir einen Begriff erhalten, wenn im
Jahre 1818 der diensttuende Präzeptor mit
Hauptmannsrang noch nicht auf die Frage
des Zöglings eingerichtet ist, wo sein Vater
jetzt weile. An dieser Stelle äußert sich der
Autor scheinbar freimütig über die groben
Mängel des Systems; er tut das auch sonst,
wo es nicht anders geht und nicht allzuviel
ausmacht. Aber das Buch kann trotz solcher
VorbeugungSmittel die Eigenschaft einer be¬
hutsam angelegten Schutzschrift nicht verhehlen.
In diesem Falle handelte es sich einfach genug
turnen, eine Kindesseele zu gewinnen und
dann einen Charakter zu formen. Statt
dessen zwang man den Knaben zu einer weit¬
gehenden Heuchelei und verbitterte ihn, der
gewiß ohnehin störrisch veranlagt war, so
heftig, daß er manchmal in völlige Obstruktion
verfiel. Der ganze Erfolg dieser bis ins
20. Jahr des Prinzen andauernden „Erziehung"
bestand in der formalen Verdeutschung seines
Sprachdenkens. Und zum Schluß strafte sich
das Kollegium selber Lügen, indem eS, natür¬
lich auf Veranlassung des Kaisers Franz, den
Marschall Marmont vorübergehend aufnehmen
mußte, damit dieser alte Waffengefährte Na¬
poleons dem Sohn von des Vaters Leben
und Taten berichte. Auch das ist, obwohl
ein Dementi des bisherigen Totschweigens,
nur eine Komödie gewesen; hätte Moreau
noch gelebt, würde man ihn statt des ab-
trünnigenMnrmont berufen haben.Wertheimers
Buch, hier schon einsilbig, behandelt dann die
letzten Lebensjahre des Herzogs von Reich¬
stadt in unbefriedigender Kürze. Wie bekannt,
ist dem Wiener Hofe vorgeworfen worden, er
habe den frühen Tod seines Politischen Pfand¬
objekts (am 22. Juli 1832) verschuldet, sei
es durch Gift oder durch Verstrickung in Aus¬
schweifungen. Der fleißige Archivforscher wehrt
beide Lesarten ab i die Giftlegende mit Glück,
die andere mit Kopfschütteln. Der Prinz sei
eher den Anstrengungen des Dienstes und
zuletzt einer irrigen Diagnose erlegen, aber:
„es ist interessant, daß man in Wien eigent¬
lich erst nach dem Tode des Herzogs zum

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Bewußtsein von dessen Bedeutung gelangte."
— Ein Schlußkapitel, „Charakteristik" über¬
schrieben, nimmt dann Wider berechtigtes Er¬
warten eine von der bis dahin durchgeführten
Stellungnahme stark abweichende Haltung an.
Es ist eine Art gemäßigter Apotheose, dabei
aber nur eine Konzession an die „Aiglon"-
Mythe. Der verkümmerte zweite Napoleon
wuchs versorgt auf, und daran allein müssen
überflüssige Parallelen scheitern. Sodann be¬
achtet die -Forschung noch immer nicht den
Umstand, daß in der Familie Bonaparte viel¬
mehr die sozusagen behagliche Strömung, vom
Vater Carlo ausgehend, obherrscht. Der
Kaiser war schon bei Lebzeiten oft genug ent¬
täuscht, daß seine Brüder von ganz anderem
L. N. Schlage gewesen sind.

Schöne Literatur

Dichtungen und Dichter. Essays und
Studien von Otto Pniower. 1912. S.Fischer,
Verlag, Berlin. ?73 S. 8°. Geheftet M. 6.-,
gebunden M. 6.—.

Der als feinsinniger Interpret und gründ¬
licher Forscher rühmlichst bekannte Direktor
des Märkischen Museums zu Berlin bietet
seine verstreuten Aufsätze gesammelt dem
interessierten Leserkreise dar. Ich habe be¬
reits früher einmal hier auf den Wert solcher
Sammlungen hingewiesen, und durch Pniowers
Gabe finde ich meineWorte von neuem bestätigt.
Besonders seine wertvollen Beiträge zur Kleist-
Forschung, über die Quellen in „Michael Kohl-
haus" und zum „Prinzen von Homburg" und
deren Verarbeitung durch die Phantasie des
Dichters, waren bisher nur dein zünftigen
Gelehrtenkreise bekannt, verdienen es aber,
um ihrer vorbildlichen Methode willen auch
weiteren.Kreisen zugänglich zu werden und da¬
durch die viel verbreitete Ansicht von der trockenen
und nutzlosen Philologie zu widerlegen. Die
ersten Studien befassen sich mit Goethe und
sind zum Teil als Einleitungen zu den ver¬
schiedenen Bänden der bekannten Pcincheon-
Ausgaben bereits gedruckt worden; doch hat
sie der Verfasser mit Rücksicht auf die neue
Literatur von neuem durchgesehen und manche
Verbesserungen angebracht; rühmend hervor¬
heben möchte ich die Einführung in den
„Tasso" und den gedankenvollen Essay über
Goethes Religion, der in Heft 26 und 27 des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/152>, abgerufen am 27.07.2024.