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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

eine gründliche philosophische Bildung ver¬
fügen, liegt die Gefahr vor, daß die Psycho¬
logie auf unreifen metaphysischen Anschauungen
aufgebaut werden könnte. Auch wäre es
durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie zu einer
mehr technischen als wissenschaftlichen Disziplin
würde, die in immer weiter fortschreitender
Spezialisierung schließlich handwerksmäßig be¬
trieben werden könnte. Der ganze Charakter
der psychologischen Literatur der Gegenwart
widerlegt die Behauptung, daß die vollständige
Trennung der Psychologie von der Philosophie
in der Wissenschaft selbst bereits eingetreten
sei oder bald eintreten werde und demgemäß
auch äußerlich ihren Ausdruck finden müsse.
Zum Schluß wendet sich Wundt dagegen,
daß die gesamte Psychologie "experimentell"
genanntwerde,weil die PsychologischeForschung
durchaus nicht dort aufhört, wo die Anwend¬
barkeit experimenteller Methoden ihr Ende
erreicht. Die Erforschung der Kinder- und
Tierseele kann sich nur in beschränktem Maße
des Experimentes bedienen und die Probleme
des seelischen Gemeinschaftslebens sind ihm
garnicht zugänglich. Wer gerade diese Pro¬
bleme geben der Psychologie die Weite des
Horizontes und führen zu einem Kontakt mit
philosophischen Gebieten, etwa der Religions¬
philosophie, der Ethik usw. Und nur, wenn
die Psychologie in jene Zweiggebiete der
Philosophie mündet, kann sie, den Anspruch
erheben, eine Grundlage der Geisteswissen¬
schaften zu sein. Ihre vermittelnde Stellung
zwischen den empirischen Einzelwissenschaften
und der Philosophie vermag sie nur auszu¬
füllen, wenn sie empirische Geisteswissenschaft
und zugleich Teilwissenschaft der Philo¬
sophie ist.

Wenn Wundt aus den angeführten Gründen
eine Ausscheidung der Psychologie aus der
Philosophie durchaus nicht wünscht, so gibt er
doch zu, daß Mißstände bestehen, die behoben
werden müßten. Die Überbürdung der Do¬
zenten könnte entweder durch eine Vermehrung
der ordentlichen Professuren der Philosophie
oder durch Heranziehung von Extraordinarien
zu bestimmten Lehrfächern unter Teilnahme
an den Doktor- und Staatsprüfungen beseitigt
werde". Überdies wünscht Wundt, daß an
den einzelnen Universitäten durch eine ent¬
sprechende Ausgestaltung eine größere Viel¬

[Spaltenumbruch]

seitigkeit der "Richtungen" gepflegt werden
M. N. möge, als es jetzt der Fall ist.

Schöne Literatur
Der nackte Mann. Roman von Emil
Strauß. S. Fischers Verlag, Berlin. M.4.--.

Hätte ich ein Gärtelein und ein Häuslein
sein, ich tat es Wohl unizäunen und baute an
vier Ecken je einen festen Pfosten, viereckig,
behaglich; nicht hoch, -- so daß man sich be¬
quem drauf lehnen könne zu einem Schwätz
mit dem Nachbar, wenn er vorbeigeht. Selbst¬
redend: ich innen -- er draußen. Es ist
immer heiter für den, der innen steht, daß
ein anderer außen ist, selbst wenn es nichts zu
bedeuten hat. Die Pfosten müßten aus hell¬
grünem Sandstein sein, und dann zog ich
von einem zum andern aus rotbraunen
Reisern einen Staudenhaag; wenn dann der
Föhn seinen feuchten Pinsel übers Land streicht,
dann schlagen die warmen roten Farbenwellen
an das kalte Grün. Ich dächte dann an rot¬
blauen Flieder, der in einem kaltgrünen Glase
stünde. Auch würde ich an dem Haag Schling¬
bohnen Pflanzen, nur ganz wenige, damit
sie ihre launenhaften Windungen deutlich und
ungehinderthinzeichnen: hellgrün aufbraunrot,
und zum Maien glühten drinn der Bohnen¬
blust abenteuerlich geschwungene rote Lippen.

Oder man könnte sonst trautsüße Wünsche
haben, Wünsche, deren Erfüllung nicht glück¬
lich, sondern ernst-heiter machen soll, oder
vergnügt. An einem Juniabend durch eine
süddeutsche kleine Stadt schlendern. Es muß
nicht unbedingt Pforzheim sein, -- wo in
schlechtbeleuchteten Straßen hohe Giebel zu
den Sternen ragen. Bei alledem hat eigent¬
lich bloß Pforzheim mit dem lieben Buch
von Emil Strauß etwas zu schaffen. Aber
das Buch ist nun einmal ganz ungeeignet
für eine richtig gehende Besprechung. Ein
Künstler von geradezu unheimlicher Kenntnis
der eigenen Mittel und seiner Möglichkeiten
führt uns müde Menschen liebevoll an tausend
großen Erschütterungen -- worauf Hinz und
Kunz seit jeher verfallen -- vorbeiz aber alle
Saiten, die er unangeschlagen läßt, hören wir
stets leise anklingen. Ein reicher Verzichter,
biegt er stets vor der Katastrophe ab. Die
Tragik aller Dinge ruft er in uns wach, --
ohne sie in den Ereignissen zum Bruch zu

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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eine gründliche philosophische Bildung ver¬
fügen, liegt die Gefahr vor, daß die Psycho¬
logie auf unreifen metaphysischen Anschauungen
aufgebaut werden könnte. Auch wäre es
durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie zu einer
mehr technischen als wissenschaftlichen Disziplin
würde, die in immer weiter fortschreitender
Spezialisierung schließlich handwerksmäßig be¬
trieben werden könnte. Der ganze Charakter
der psychologischen Literatur der Gegenwart
widerlegt die Behauptung, daß die vollständige
Trennung der Psychologie von der Philosophie
in der Wissenschaft selbst bereits eingetreten
sei oder bald eintreten werde und demgemäß
auch äußerlich ihren Ausdruck finden müsse.
Zum Schluß wendet sich Wundt dagegen,
daß die gesamte Psychologie „experimentell"
genanntwerde,weil die PsychologischeForschung
durchaus nicht dort aufhört, wo die Anwend¬
barkeit experimenteller Methoden ihr Ende
erreicht. Die Erforschung der Kinder- und
Tierseele kann sich nur in beschränktem Maße
des Experimentes bedienen und die Probleme
des seelischen Gemeinschaftslebens sind ihm
garnicht zugänglich. Wer gerade diese Pro¬
bleme geben der Psychologie die Weite des
Horizontes und führen zu einem Kontakt mit
philosophischen Gebieten, etwa der Religions¬
philosophie, der Ethik usw. Und nur, wenn
die Psychologie in jene Zweiggebiete der
Philosophie mündet, kann sie, den Anspruch
erheben, eine Grundlage der Geisteswissen¬
schaften zu sein. Ihre vermittelnde Stellung
zwischen den empirischen Einzelwissenschaften
und der Philosophie vermag sie nur auszu¬
füllen, wenn sie empirische Geisteswissenschaft
und zugleich Teilwissenschaft der Philo¬
sophie ist.

Wenn Wundt aus den angeführten Gründen
eine Ausscheidung der Psychologie aus der
Philosophie durchaus nicht wünscht, so gibt er
doch zu, daß Mißstände bestehen, die behoben
werden müßten. Die Überbürdung der Do¬
zenten könnte entweder durch eine Vermehrung
der ordentlichen Professuren der Philosophie
oder durch Heranziehung von Extraordinarien
zu bestimmten Lehrfächern unter Teilnahme
an den Doktor- und Staatsprüfungen beseitigt
werde». Überdies wünscht Wundt, daß an
den einzelnen Universitäten durch eine ent¬
sprechende Ausgestaltung eine größere Viel¬

[Spaltenumbruch]

seitigkeit der „Richtungen" gepflegt werden
M. N. möge, als es jetzt der Fall ist.

Schöne Literatur
Der nackte Mann. Roman von Emil
Strauß. S. Fischers Verlag, Berlin. M.4.—.

Hätte ich ein Gärtelein und ein Häuslein
sein, ich tat es Wohl unizäunen und baute an
vier Ecken je einen festen Pfosten, viereckig,
behaglich; nicht hoch, — so daß man sich be¬
quem drauf lehnen könne zu einem Schwätz
mit dem Nachbar, wenn er vorbeigeht. Selbst¬
redend: ich innen — er draußen. Es ist
immer heiter für den, der innen steht, daß
ein anderer außen ist, selbst wenn es nichts zu
bedeuten hat. Die Pfosten müßten aus hell¬
grünem Sandstein sein, und dann zog ich
von einem zum andern aus rotbraunen
Reisern einen Staudenhaag; wenn dann der
Föhn seinen feuchten Pinsel übers Land streicht,
dann schlagen die warmen roten Farbenwellen
an das kalte Grün. Ich dächte dann an rot¬
blauen Flieder, der in einem kaltgrünen Glase
stünde. Auch würde ich an dem Haag Schling¬
bohnen Pflanzen, nur ganz wenige, damit
sie ihre launenhaften Windungen deutlich und
ungehinderthinzeichnen: hellgrün aufbraunrot,
und zum Maien glühten drinn der Bohnen¬
blust abenteuerlich geschwungene rote Lippen.

Oder man könnte sonst trautsüße Wünsche
haben, Wünsche, deren Erfüllung nicht glück¬
lich, sondern ernst-heiter machen soll, oder
vergnügt. An einem Juniabend durch eine
süddeutsche kleine Stadt schlendern. Es muß
nicht unbedingt Pforzheim sein, — wo in
schlechtbeleuchteten Straßen hohe Giebel zu
den Sternen ragen. Bei alledem hat eigent¬
lich bloß Pforzheim mit dem lieben Buch
von Emil Strauß etwas zu schaffen. Aber
das Buch ist nun einmal ganz ungeeignet
für eine richtig gehende Besprechung. Ein
Künstler von geradezu unheimlicher Kenntnis
der eigenen Mittel und seiner Möglichkeiten
führt uns müde Menschen liebevoll an tausend
großen Erschütterungen — worauf Hinz und
Kunz seit jeher verfallen — vorbeiz aber alle
Saiten, die er unangeschlagen läßt, hören wir
stets leise anklingen. Ein reicher Verzichter,
biegt er stets vor der Katastrophe ab. Die
Tragik aller Dinge ruft er in uns wach, —
ohne sie in den Ereignissen zum Bruch zu

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[0106] Maßgebliches und Unmaßgebliches eine gründliche philosophische Bildung ver¬ fügen, liegt die Gefahr vor, daß die Psycho¬ logie auf unreifen metaphysischen Anschauungen aufgebaut werden könnte. Auch wäre es durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie zu einer mehr technischen als wissenschaftlichen Disziplin würde, die in immer weiter fortschreitender Spezialisierung schließlich handwerksmäßig be¬ trieben werden könnte. Der ganze Charakter der psychologischen Literatur der Gegenwart widerlegt die Behauptung, daß die vollständige Trennung der Psychologie von der Philosophie in der Wissenschaft selbst bereits eingetreten sei oder bald eintreten werde und demgemäß auch äußerlich ihren Ausdruck finden müsse. Zum Schluß wendet sich Wundt dagegen, daß die gesamte Psychologie „experimentell" genanntwerde,weil die PsychologischeForschung durchaus nicht dort aufhört, wo die Anwend¬ barkeit experimenteller Methoden ihr Ende erreicht. Die Erforschung der Kinder- und Tierseele kann sich nur in beschränktem Maße des Experimentes bedienen und die Probleme des seelischen Gemeinschaftslebens sind ihm garnicht zugänglich. Wer gerade diese Pro¬ bleme geben der Psychologie die Weite des Horizontes und führen zu einem Kontakt mit philosophischen Gebieten, etwa der Religions¬ philosophie, der Ethik usw. Und nur, wenn die Psychologie in jene Zweiggebiete der Philosophie mündet, kann sie, den Anspruch erheben, eine Grundlage der Geisteswissen¬ schaften zu sein. Ihre vermittelnde Stellung zwischen den empirischen Einzelwissenschaften und der Philosophie vermag sie nur auszu¬ füllen, wenn sie empirische Geisteswissenschaft und zugleich Teilwissenschaft der Philo¬ sophie ist. Wenn Wundt aus den angeführten Gründen eine Ausscheidung der Psychologie aus der Philosophie durchaus nicht wünscht, so gibt er doch zu, daß Mißstände bestehen, die behoben werden müßten. Die Überbürdung der Do¬ zenten könnte entweder durch eine Vermehrung der ordentlichen Professuren der Philosophie oder durch Heranziehung von Extraordinarien zu bestimmten Lehrfächern unter Teilnahme an den Doktor- und Staatsprüfungen beseitigt werde». Überdies wünscht Wundt, daß an den einzelnen Universitäten durch eine ent¬ sprechende Ausgestaltung eine größere Viel¬ seitigkeit der „Richtungen" gepflegt werden M. N. möge, als es jetzt der Fall ist. Schöne Literatur Der nackte Mann. Roman von Emil Strauß. S. Fischers Verlag, Berlin. M.4.—. Hätte ich ein Gärtelein und ein Häuslein sein, ich tat es Wohl unizäunen und baute an vier Ecken je einen festen Pfosten, viereckig, behaglich; nicht hoch, — so daß man sich be¬ quem drauf lehnen könne zu einem Schwätz mit dem Nachbar, wenn er vorbeigeht. Selbst¬ redend: ich innen — er draußen. Es ist immer heiter für den, der innen steht, daß ein anderer außen ist, selbst wenn es nichts zu bedeuten hat. Die Pfosten müßten aus hell¬ grünem Sandstein sein, und dann zog ich von einem zum andern aus rotbraunen Reisern einen Staudenhaag; wenn dann der Föhn seinen feuchten Pinsel übers Land streicht, dann schlagen die warmen roten Farbenwellen an das kalte Grün. Ich dächte dann an rot¬ blauen Flieder, der in einem kaltgrünen Glase stünde. Auch würde ich an dem Haag Schling¬ bohnen Pflanzen, nur ganz wenige, damit sie ihre launenhaften Windungen deutlich und ungehinderthinzeichnen: hellgrün aufbraunrot, und zum Maien glühten drinn der Bohnen¬ blust abenteuerlich geschwungene rote Lippen. Oder man könnte sonst trautsüße Wünsche haben, Wünsche, deren Erfüllung nicht glück¬ lich, sondern ernst-heiter machen soll, oder vergnügt. An einem Juniabend durch eine süddeutsche kleine Stadt schlendern. Es muß nicht unbedingt Pforzheim sein, — wo in schlechtbeleuchteten Straßen hohe Giebel zu den Sternen ragen. Bei alledem hat eigent¬ lich bloß Pforzheim mit dem lieben Buch von Emil Strauß etwas zu schaffen. Aber das Buch ist nun einmal ganz ungeeignet für eine richtig gehende Besprechung. Ein Künstler von geradezu unheimlicher Kenntnis der eigenen Mittel und seiner Möglichkeiten führt uns müde Menschen liebevoll an tausend großen Erschütterungen — worauf Hinz und Kunz seit jeher verfallen — vorbeiz aber alle Saiten, die er unangeschlagen läßt, hören wir stets leise anklingen. Ein reicher Verzichter, biegt er stets vor der Katastrophe ab. Die Tragik aller Dinge ruft er in uns wach, — ohne sie in den Ereignissen zum Bruch zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/106>, abgerufen am 27.07.2024.