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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Kein lebender ausländischer Autor dürfte
sich heute einer größeren Verbreitung in
Deutschland erfreuen als Shaw. Die Gründe
dafür sind leicht zu finden. Erstens traf seine
Satire bei uns ein durch Nietzsches Ideen
borbereitetes Publikum und gab dem Rausch¬
feuer der Nietzsthebegeisterung, das gerade zu
erlöschen drohte, neue Nahrung, und zweitens
wurde bekannt, daß Shaw Sozialist war
und da gegenwärtig, aus hier nicht näher zu
erörternden Ursachen, in unseren oberen Gesell¬
schaftsschichten Sozialismus nach dem Theater
unbedingt das beliebteste Gesprächsthema ist,
spielt man gerne auf ihn an. Die Folge ist,
daß Shaw deutschen Lesern, die nicht zwischen
journalistischer Technik und ideellen Gehalt
zu unterscheiden vermögen, vor allem als
Witzbold oder geistreicher Paradoxist (besonders
durch seine breit angelegte Don Juan-Komödie
"Mensch und Übermensch") gilt, den leicht
Verletzten aber, die jeden raschen Witz als
"Anpöbelung" tragisch nehmen, als einer von
jenen "Auch-Sozialisten", obwohl doch seine
sozialistische Bedeutung, wenn man von dem
sehr lesenswerten und nachdenklichen Essay
"Sozialismus für Millionäre" absieht, sicher
mehr in seiner Tätigkeit als Volksredner,
denn als Schriftsteller liegt. Das Beste an
Shaw, sein Künstlertum, wird dagegen fast
ganz übersehen oder doch zu wenig gewürdigt,
vielleicht gerade weil er als echter Künstler
sich wenig daraus zu machen scheint. Shaw
ist in allererster Linie Dramatiker, von jener
scharfen dialektischen Art, als deren Haupt¬
vertreter uns Deutschen mit Recht Hebbel
gilt. Seine dialektische Klarheit ermöglicht
es ihm, wie Hebbel, den Standpunkt beider
Parteien zu erfassen und als gleichberechtigt
darzustellen (nirgends unvergleichlicher als in
"Frau Warrens Gewerbe"), sie verleiht ihm
auch den unerhörten Glanz seines Dialogs,
der wieder in der neuesten Einzelpublikation
"Fannys erstes Stück" so sieghaft hervorbricht.
Was ihn aber von dem unversöhnlichen Hebbel
unterscheidet, ist sein erdentsprungener Humor,
der ihn von Abstraktionen fernhält und das
nllzumenschlich Bedingte menschlicher Hand¬
lungen und Anschauungen nicht nur erkennen,
sondern auch mit einem versöhnlichen Lächeln
anerkennen läßt. Wer nun aber seine feinen
Gegenüberstellungen des wahren und des

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PseudoHelden (in "Helden" oder in "Cäsar und
Cleopatra", der glänzendsten Historie seit
Hauptmanns "Florian Geyer") als bloße
Parodien oder gar grämelnd als Herab¬
würdigung des Ideals auffaßt, hat Shaw
nie verstanden und übersieht, daß z. B. unser
Theodor Mommsen, der sür den keltischen
"Ritter" Vercingetorix so tief charakterisierende
Worte fand, an Shaws Cäsar sicher große
und wahre Freude gehabt hätte. Nirgends
ist ferner die Tragödie des jungen Poeten
so tief erfaßt als in "Candida", einem der
feinsten und zartesten Stücke, die in den
letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Übrigens
warnt der Autor dabor, es von der deutschen
Bühne herab kennen zu lernen. Die vor¬
liegende dreibändige Ausgabe der dramatischen
Werke ist also aufs freudigste zu begrüßen,
sie vereinigt die drei englischen Originnl-
gruppen der ?Iossant?Is^s, der Unpleassnt
?Isys und der ?I^s lor puritans und wird
den früher erschienenen Einzelausgaben gegen¬
über besonders wichtig durch die glänzend
geschriebenen Vorreden, die auch den Menschen
Shaw von seiner liebenswürdigsten Seite
zeigen. Am bedeutsamsten für das Publikum
dürften die Abhandlungen über Shakespeare,
über die gegenwärtigen Theaterverhältnisse
und über die romantische Unmoral sein, für
unser Jungdeutschland sind die Ausführungen
über die VohLme und für den Literarhistoriker
die autobiographischen Bemerkungen besonders
L. wertvoll.

Philosophie

Arthur Borns: "Vom neuen Mythos."
Eine Prognose. (Zur religiösen Krisis, Bd. IV.)
Jena 1912, Eugen Diederichs.

Man könnte Arthur Borns einen christ¬
lichen Nietzsche nennen. DaS klingt Paradox,
aber Borns selbst würde kaum daran Anstoß
nehmen, denn er liebt das Paradoxe und er
liebt Nietzsche. Ohne Frage ist er geistes¬
verwandt mit ihm. Das Wort aus dem
Zarathustra: "Ihr habt noch Chaos in euch,
um einen tanzenden Stern gebären zu können"
gilt auch für ihn. An Nietzsche erinnert auch
seine Lust an? Paradoxen und daneben die
flammende Glut des Gefühls. Man mag
über seine Gedanken urteilen wie man will,
eine hinreißende Persönlichkeit ist dieser Mann

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Kein lebender ausländischer Autor dürfte
sich heute einer größeren Verbreitung in
Deutschland erfreuen als Shaw. Die Gründe
dafür sind leicht zu finden. Erstens traf seine
Satire bei uns ein durch Nietzsches Ideen
borbereitetes Publikum und gab dem Rausch¬
feuer der Nietzsthebegeisterung, das gerade zu
erlöschen drohte, neue Nahrung, und zweitens
wurde bekannt, daß Shaw Sozialist war
und da gegenwärtig, aus hier nicht näher zu
erörternden Ursachen, in unseren oberen Gesell¬
schaftsschichten Sozialismus nach dem Theater
unbedingt das beliebteste Gesprächsthema ist,
spielt man gerne auf ihn an. Die Folge ist,
daß Shaw deutschen Lesern, die nicht zwischen
journalistischer Technik und ideellen Gehalt
zu unterscheiden vermögen, vor allem als
Witzbold oder geistreicher Paradoxist (besonders
durch seine breit angelegte Don Juan-Komödie
„Mensch und Übermensch") gilt, den leicht
Verletzten aber, die jeden raschen Witz als
„Anpöbelung" tragisch nehmen, als einer von
jenen „Auch-Sozialisten", obwohl doch seine
sozialistische Bedeutung, wenn man von dem
sehr lesenswerten und nachdenklichen Essay
„Sozialismus für Millionäre" absieht, sicher
mehr in seiner Tätigkeit als Volksredner,
denn als Schriftsteller liegt. Das Beste an
Shaw, sein Künstlertum, wird dagegen fast
ganz übersehen oder doch zu wenig gewürdigt,
vielleicht gerade weil er als echter Künstler
sich wenig daraus zu machen scheint. Shaw
ist in allererster Linie Dramatiker, von jener
scharfen dialektischen Art, als deren Haupt¬
vertreter uns Deutschen mit Recht Hebbel
gilt. Seine dialektische Klarheit ermöglicht
es ihm, wie Hebbel, den Standpunkt beider
Parteien zu erfassen und als gleichberechtigt
darzustellen (nirgends unvergleichlicher als in
„Frau Warrens Gewerbe"), sie verleiht ihm
auch den unerhörten Glanz seines Dialogs,
der wieder in der neuesten Einzelpublikation
„Fannys erstes Stück" so sieghaft hervorbricht.
Was ihn aber von dem unversöhnlichen Hebbel
unterscheidet, ist sein erdentsprungener Humor,
der ihn von Abstraktionen fernhält und das
nllzumenschlich Bedingte menschlicher Hand¬
lungen und Anschauungen nicht nur erkennen,
sondern auch mit einem versöhnlichen Lächeln
anerkennen läßt. Wer nun aber seine feinen
Gegenüberstellungen des wahren und des

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PseudoHelden (in „Helden" oder in „Cäsar und
Cleopatra", der glänzendsten Historie seit
Hauptmanns „Florian Geyer") als bloße
Parodien oder gar grämelnd als Herab¬
würdigung des Ideals auffaßt, hat Shaw
nie verstanden und übersieht, daß z. B. unser
Theodor Mommsen, der sür den keltischen
„Ritter" Vercingetorix so tief charakterisierende
Worte fand, an Shaws Cäsar sicher große
und wahre Freude gehabt hätte. Nirgends
ist ferner die Tragödie des jungen Poeten
so tief erfaßt als in „Candida", einem der
feinsten und zartesten Stücke, die in den
letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Übrigens
warnt der Autor dabor, es von der deutschen
Bühne herab kennen zu lernen. Die vor¬
liegende dreibändige Ausgabe der dramatischen
Werke ist also aufs freudigste zu begrüßen,
sie vereinigt die drei englischen Originnl-
gruppen der ?Iossant?Is^s, der Unpleassnt
?Isys und der ?I^s lor puritans und wird
den früher erschienenen Einzelausgaben gegen¬
über besonders wichtig durch die glänzend
geschriebenen Vorreden, die auch den Menschen
Shaw von seiner liebenswürdigsten Seite
zeigen. Am bedeutsamsten für das Publikum
dürften die Abhandlungen über Shakespeare,
über die gegenwärtigen Theaterverhältnisse
und über die romantische Unmoral sein, für
unser Jungdeutschland sind die Ausführungen
über die VohLme und für den Literarhistoriker
die autobiographischen Bemerkungen besonders
L. wertvoll.

Philosophie

Arthur Borns: „Vom neuen Mythos."
Eine Prognose. (Zur religiösen Krisis, Bd. IV.)
Jena 1912, Eugen Diederichs.

Man könnte Arthur Borns einen christ¬
lichen Nietzsche nennen. DaS klingt Paradox,
aber Borns selbst würde kaum daran Anstoß
nehmen, denn er liebt das Paradoxe und er
liebt Nietzsche. Ohne Frage ist er geistes¬
verwandt mit ihm. Das Wort aus dem
Zarathustra: „Ihr habt noch Chaos in euch,
um einen tanzenden Stern gebären zu können"
gilt auch für ihn. An Nietzsche erinnert auch
seine Lust an? Paradoxen und daneben die
flammende Glut des Gefühls. Man mag
über seine Gedanken urteilen wie man will,
eine hinreißende Persönlichkeit ist dieser Mann

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[0539] Maßgebliches und Unmaßgebliches Kein lebender ausländischer Autor dürfte sich heute einer größeren Verbreitung in Deutschland erfreuen als Shaw. Die Gründe dafür sind leicht zu finden. Erstens traf seine Satire bei uns ein durch Nietzsches Ideen borbereitetes Publikum und gab dem Rausch¬ feuer der Nietzsthebegeisterung, das gerade zu erlöschen drohte, neue Nahrung, und zweitens wurde bekannt, daß Shaw Sozialist war und da gegenwärtig, aus hier nicht näher zu erörternden Ursachen, in unseren oberen Gesell¬ schaftsschichten Sozialismus nach dem Theater unbedingt das beliebteste Gesprächsthema ist, spielt man gerne auf ihn an. Die Folge ist, daß Shaw deutschen Lesern, die nicht zwischen journalistischer Technik und ideellen Gehalt zu unterscheiden vermögen, vor allem als Witzbold oder geistreicher Paradoxist (besonders durch seine breit angelegte Don Juan-Komödie „Mensch und Übermensch") gilt, den leicht Verletzten aber, die jeden raschen Witz als „Anpöbelung" tragisch nehmen, als einer von jenen „Auch-Sozialisten", obwohl doch seine sozialistische Bedeutung, wenn man von dem sehr lesenswerten und nachdenklichen Essay „Sozialismus für Millionäre" absieht, sicher mehr in seiner Tätigkeit als Volksredner, denn als Schriftsteller liegt. Das Beste an Shaw, sein Künstlertum, wird dagegen fast ganz übersehen oder doch zu wenig gewürdigt, vielleicht gerade weil er als echter Künstler sich wenig daraus zu machen scheint. Shaw ist in allererster Linie Dramatiker, von jener scharfen dialektischen Art, als deren Haupt¬ vertreter uns Deutschen mit Recht Hebbel gilt. Seine dialektische Klarheit ermöglicht es ihm, wie Hebbel, den Standpunkt beider Parteien zu erfassen und als gleichberechtigt darzustellen (nirgends unvergleichlicher als in „Frau Warrens Gewerbe"), sie verleiht ihm auch den unerhörten Glanz seines Dialogs, der wieder in der neuesten Einzelpublikation „Fannys erstes Stück" so sieghaft hervorbricht. Was ihn aber von dem unversöhnlichen Hebbel unterscheidet, ist sein erdentsprungener Humor, der ihn von Abstraktionen fernhält und das nllzumenschlich Bedingte menschlicher Hand¬ lungen und Anschauungen nicht nur erkennen, sondern auch mit einem versöhnlichen Lächeln anerkennen läßt. Wer nun aber seine feinen Gegenüberstellungen des wahren und des PseudoHelden (in „Helden" oder in „Cäsar und Cleopatra", der glänzendsten Historie seit Hauptmanns „Florian Geyer") als bloße Parodien oder gar grämelnd als Herab¬ würdigung des Ideals auffaßt, hat Shaw nie verstanden und übersieht, daß z. B. unser Theodor Mommsen, der sür den keltischen „Ritter" Vercingetorix so tief charakterisierende Worte fand, an Shaws Cäsar sicher große und wahre Freude gehabt hätte. Nirgends ist ferner die Tragödie des jungen Poeten so tief erfaßt als in „Candida", einem der feinsten und zartesten Stücke, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Übrigens warnt der Autor dabor, es von der deutschen Bühne herab kennen zu lernen. Die vor¬ liegende dreibändige Ausgabe der dramatischen Werke ist also aufs freudigste zu begrüßen, sie vereinigt die drei englischen Originnl- gruppen der ?Iossant?Is^s, der Unpleassnt ?Isys und der ?I^s lor puritans und wird den früher erschienenen Einzelausgaben gegen¬ über besonders wichtig durch die glänzend geschriebenen Vorreden, die auch den Menschen Shaw von seiner liebenswürdigsten Seite zeigen. Am bedeutsamsten für das Publikum dürften die Abhandlungen über Shakespeare, über die gegenwärtigen Theaterverhältnisse und über die romantische Unmoral sein, für unser Jungdeutschland sind die Ausführungen über die VohLme und für den Literarhistoriker die autobiographischen Bemerkungen besonders L. wertvoll. Philosophie Arthur Borns: „Vom neuen Mythos." Eine Prognose. (Zur religiösen Krisis, Bd. IV.) Jena 1912, Eugen Diederichs. Man könnte Arthur Borns einen christ¬ lichen Nietzsche nennen. DaS klingt Paradox, aber Borns selbst würde kaum daran Anstoß nehmen, denn er liebt das Paradoxe und er liebt Nietzsche. Ohne Frage ist er geistes¬ verwandt mit ihm. Das Wort aus dem Zarathustra: „Ihr habt noch Chaos in euch, um einen tanzenden Stern gebären zu können" gilt auch für ihn. An Nietzsche erinnert auch seine Lust an? Paradoxen und daneben die flammende Glut des Gefühls. Man mag über seine Gedanken urteilen wie man will, eine hinreißende Persönlichkeit ist dieser Mann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/539>, abgerufen am 29.06.2024.