Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gische Züge, deren Strenge durch seelenvolle,
gütige Augen gemildert wird. In Glück und
Glanz, in Leid und Schmach ist sie ihrem
Gatten und vor allen? sich selbst treu geblieben.
Sie war ein ganzer Mensch, dessen ruhige,
selbstsichere Kraft wir Kinder des zwanzigsten
Jahrhunderts fast neidvoll bewundern müssen.
"Ich leide," schrieb sie an ihre Kinder, "weil
ich von einem tugendhaften Herrn und Gatten
geliebt worden bin, den ich im Unglück nicht
verlassen wollte;" und an einer anderen Stelle
sagt sie: "Wohl kann ich mit Hiob reden:
Wenn man meinen Jammer wöge und meine
Leiden zusammen auf eine Wage legte, so
würden sie schwerer sein denn der Sand am
Meere." Aber immer wieder erhebt sich ihr
Herz in unerschütterlichem Gottvertrauen; und
als nach der fast ein Menschenalter währenden
Haft sich die Tore des Kerkers für sie öffnen,
in dem sie so lange schuldlos geschmachtet, da
kann sie in ungebrochener Kraft, ja, mit einem
Scherzwort auf den Lippen, die Stätte ihrer
uns heute unmenschlich erscheinenden Qualen
verlassen. -- Aber nicht nur als persönliches
Erlebnis einer hochbegabten, edlen Frau, auch
als kulturhistorisches Dokument ist das Buch
von hohem Werte. Es läßt den Glanz der
Höfe zu der Zeit, da in Deutschland der
Dreißigjährige Krieg gerade beendet war, so¬
wie die furchtbare Grausamkeit der Gefan¬
genenbehandlung vor uns erstehen. Der
Herausgeberin, die zur Charakteristik des
Buches treffliche Worte fand, danken wir da¬
für, daß sie uns das Leidensgedächtnis wieder
zugänglich gemacht und, durch wohlangebrachte
Kürzungen die Darstellung straffer d les¬
unA. barer gestaltet hat.

Richard M. Meyer. Literarhistorische und
biographische Aufsätze. (Deutsche Bücherei.
Bd. 116 bis 119.) 2 M.

Sicher war es ein vortrefflicher Gedanke
des Herausgebers der deutschen Bücherei, in
seine Sammlung eine Reihe von Aufsätzen
des (auch den Lesern der Grenzboten) be¬
kannten Gelehrten aufzunehmen. Zeigen sie
doch gerade die Eigenschaften, die das größere
Publikum fast allein reizen, sich mit litera¬
turgeschichtlichen Untersuchungen bekannt zu
machen, ohne anderseits dem geschmackvollen
Leser durch das Phrasentum und die dilettan¬

[Spaltenumbruch]

tische Oberflächlichkeit mancher populärer so¬
genannten Literarhistoriker lästig zu fallen.
Meyers Geschicklichkeit, ein Thema so zu stellen,
daß es auch den Fernerstehenden interessiert,
seine anregende Art, die Früchte seiner großen
Belesenheit wie spielend und ohne im geringsten
damit zu prunken, auszubreiten, seine vor¬
nehme Zurückhaltung und Objektivität, sowohl
den Dingen wie den Persönlichkeiten gegen¬
über, seine Fähigkeit, überraschendeZusammen-
hänge zu schaffen und nicht zuletzt die Klar¬
heit und Natürlichkeit seines Stils werden
den beiden anspruchslosen Bändchen gewiß
viele Leser erwerben. Das erste enthält Ab¬
handlungen über allgemeinere Fragen, von
denen die interessanten Parodiestudien und
die überaus geistreiche Definition des Zufalls
im Drama besonders hervorgehoben seien,
das zweite behandelt einzelne Persönlichkeiten,
und hier verdienen der Aufsatz über Gerh.
Hauptmanns Entwicklung und der gut ge¬
sellte über Paul Heyse besondere Erwähnung.

--de.
Tagesfragen
Das Unglück von Binz.

Die Erzählung
folgt dem Bericht eines Augenzeugen. "Ich
stand auf dem oberen Teil der Landungs-
brücke und sah hinunter auf die dicht gedrängt
stehende Menschenmasse. Da mit einem Male
ein Krach: ein Stück der unteren Brücke,
etwa in Zimmergrößc, senkt sich trichterförmig
nach unten, und die Daraufstehenden stürzen
hinunter in das Wasser. Das Hilferufen,
Schreien war fürchterlich; es entstand ein
schreckliches Durcheinander, völlige Kopflosig¬
keit. Endlich kam Hilfe von den Mannschaften
der glücklicherweise vor Binz liegenden Kriegs¬
schiffe. Es vergingen natürlich bis dahin
kostbare Minuten. Viele waren ertrunken."

Die Tageszeitungen berichteten alles
Nähere. Diese Zeilen sollen einen kleinen
Beitrag zur Verhütung derartiger Unglücks¬
fälle bringen.

Wieweit die Erbauer der Brücke und die
Aufsichtsbehörden für das Unglück verant¬
wortlich zu machen sind, das wird die Unter¬
suchung klar stellen. Aber eine Ursache des
furchtbaren Vorfalls ist jedermann bekannt, an
deren Abhilfe allerdings noch niemand gedacht
zu haben scheint.

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gische Züge, deren Strenge durch seelenvolle,
gütige Augen gemildert wird. In Glück und
Glanz, in Leid und Schmach ist sie ihrem
Gatten und vor allen? sich selbst treu geblieben.
Sie war ein ganzer Mensch, dessen ruhige,
selbstsichere Kraft wir Kinder des zwanzigsten
Jahrhunderts fast neidvoll bewundern müssen.
„Ich leide," schrieb sie an ihre Kinder, „weil
ich von einem tugendhaften Herrn und Gatten
geliebt worden bin, den ich im Unglück nicht
verlassen wollte;" und an einer anderen Stelle
sagt sie: „Wohl kann ich mit Hiob reden:
Wenn man meinen Jammer wöge und meine
Leiden zusammen auf eine Wage legte, so
würden sie schwerer sein denn der Sand am
Meere." Aber immer wieder erhebt sich ihr
Herz in unerschütterlichem Gottvertrauen; und
als nach der fast ein Menschenalter währenden
Haft sich die Tore des Kerkers für sie öffnen,
in dem sie so lange schuldlos geschmachtet, da
kann sie in ungebrochener Kraft, ja, mit einem
Scherzwort auf den Lippen, die Stätte ihrer
uns heute unmenschlich erscheinenden Qualen
verlassen. — Aber nicht nur als persönliches
Erlebnis einer hochbegabten, edlen Frau, auch
als kulturhistorisches Dokument ist das Buch
von hohem Werte. Es läßt den Glanz der
Höfe zu der Zeit, da in Deutschland der
Dreißigjährige Krieg gerade beendet war, so¬
wie die furchtbare Grausamkeit der Gefan¬
genenbehandlung vor uns erstehen. Der
Herausgeberin, die zur Charakteristik des
Buches treffliche Worte fand, danken wir da¬
für, daß sie uns das Leidensgedächtnis wieder
zugänglich gemacht und, durch wohlangebrachte
Kürzungen die Darstellung straffer d les¬
unA. barer gestaltet hat.

Richard M. Meyer. Literarhistorische und
biographische Aufsätze. (Deutsche Bücherei.
Bd. 116 bis 119.) 2 M.

Sicher war es ein vortrefflicher Gedanke
des Herausgebers der deutschen Bücherei, in
seine Sammlung eine Reihe von Aufsätzen
des (auch den Lesern der Grenzboten) be¬
kannten Gelehrten aufzunehmen. Zeigen sie
doch gerade die Eigenschaften, die das größere
Publikum fast allein reizen, sich mit litera¬
turgeschichtlichen Untersuchungen bekannt zu
machen, ohne anderseits dem geschmackvollen
Leser durch das Phrasentum und die dilettan¬

[Spaltenumbruch]

tische Oberflächlichkeit mancher populärer so¬
genannten Literarhistoriker lästig zu fallen.
Meyers Geschicklichkeit, ein Thema so zu stellen,
daß es auch den Fernerstehenden interessiert,
seine anregende Art, die Früchte seiner großen
Belesenheit wie spielend und ohne im geringsten
damit zu prunken, auszubreiten, seine vor¬
nehme Zurückhaltung und Objektivität, sowohl
den Dingen wie den Persönlichkeiten gegen¬
über, seine Fähigkeit, überraschendeZusammen-
hänge zu schaffen und nicht zuletzt die Klar¬
heit und Natürlichkeit seines Stils werden
den beiden anspruchslosen Bändchen gewiß
viele Leser erwerben. Das erste enthält Ab¬
handlungen über allgemeinere Fragen, von
denen die interessanten Parodiestudien und
die überaus geistreiche Definition des Zufalls
im Drama besonders hervorgehoben seien,
das zweite behandelt einzelne Persönlichkeiten,
und hier verdienen der Aufsatz über Gerh.
Hauptmanns Entwicklung und der gut ge¬
sellte über Paul Heyse besondere Erwähnung.

—de.
Tagesfragen
Das Unglück von Binz.

Die Erzählung
folgt dem Bericht eines Augenzeugen. „Ich
stand auf dem oberen Teil der Landungs-
brücke und sah hinunter auf die dicht gedrängt
stehende Menschenmasse. Da mit einem Male
ein Krach: ein Stück der unteren Brücke,
etwa in Zimmergrößc, senkt sich trichterförmig
nach unten, und die Daraufstehenden stürzen
hinunter in das Wasser. Das Hilferufen,
Schreien war fürchterlich; es entstand ein
schreckliches Durcheinander, völlige Kopflosig¬
keit. Endlich kam Hilfe von den Mannschaften
der glücklicherweise vor Binz liegenden Kriegs¬
schiffe. Es vergingen natürlich bis dahin
kostbare Minuten. Viele waren ertrunken."

Die Tageszeitungen berichteten alles
Nähere. Diese Zeilen sollen einen kleinen
Beitrag zur Verhütung derartiger Unglücks¬
fälle bringen.

Wieweit die Erbauer der Brücke und die
Aufsichtsbehörden für das Unglück verant¬
wortlich zu machen sind, das wird die Unter¬
suchung klar stellen. Aber eine Ursache des
furchtbaren Vorfalls ist jedermann bekannt, an
deren Abhilfe allerdings noch niemand gedacht
zu haben scheint.

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322041"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_1224" prev="#ID_1223"> gische Züge, deren Strenge durch seelenvolle,<lb/>
gütige Augen gemildert wird. In Glück und<lb/>
Glanz, in Leid und Schmach ist sie ihrem<lb/>
Gatten und vor allen? sich selbst treu geblieben.<lb/>
Sie war ein ganzer Mensch, dessen ruhige,<lb/>
selbstsichere Kraft wir Kinder des zwanzigsten<lb/>
Jahrhunderts fast neidvoll bewundern müssen.<lb/>
&#x201E;Ich leide," schrieb sie an ihre Kinder, &#x201E;weil<lb/>
ich von einem tugendhaften Herrn und Gatten<lb/>
geliebt worden bin, den ich im Unglück nicht<lb/>
verlassen wollte;" und an einer anderen Stelle<lb/>
sagt sie: &#x201E;Wohl kann ich mit Hiob reden:<lb/>
Wenn man meinen Jammer wöge und meine<lb/>
Leiden zusammen auf eine Wage legte, so<lb/>
würden sie schwerer sein denn der Sand am<lb/>
Meere." Aber immer wieder erhebt sich ihr<lb/>
Herz in unerschütterlichem Gottvertrauen; und<lb/>
als nach der fast ein Menschenalter währenden<lb/>
Haft sich die Tore des Kerkers für sie öffnen,<lb/>
in dem sie so lange schuldlos geschmachtet, da<lb/>
kann sie in ungebrochener Kraft, ja, mit einem<lb/>
Scherzwort auf den Lippen, die Stätte ihrer<lb/>
uns heute unmenschlich erscheinenden Qualen<lb/>
verlassen. &#x2014; Aber nicht nur als persönliches<lb/>
Erlebnis einer hochbegabten, edlen Frau, auch<lb/>
als kulturhistorisches Dokument ist das Buch<lb/>
von hohem Werte. Es läßt den Glanz der<lb/>
Höfe zu der Zeit, da in Deutschland der<lb/>
Dreißigjährige Krieg gerade beendet war, so¬<lb/>
wie die furchtbare Grausamkeit der Gefan¬<lb/>
genenbehandlung vor uns erstehen. Der<lb/>
Herausgeberin, die zur Charakteristik des<lb/>
Buches treffliche Worte fand, danken wir da¬<lb/>
für, daß sie uns das Leidensgedächtnis wieder<lb/>
zugänglich gemacht und, durch wohlangebrachte<lb/>
Kürzungen die Darstellung straffer d les¬<lb/><note type="byline"> unA.</note> barer gestaltet hat. </p>
            </div>
            <div n="3">
              <head> Richard M. Meyer. Literarhistorische und<lb/>
biographische Aufsätze. (Deutsche Bücherei.<lb/>
Bd. 116 bis 119.) 2 M.</head>
              <p xml:id="ID_1225" next="#ID_1226"> Sicher war es ein vortrefflicher Gedanke<lb/>
des Herausgebers der deutschen Bücherei, in<lb/>
seine Sammlung eine Reihe von Aufsätzen<lb/>
des (auch den Lesern der Grenzboten) be¬<lb/>
kannten Gelehrten aufzunehmen. Zeigen sie<lb/>
doch gerade die Eigenschaften, die das größere<lb/>
Publikum fast allein reizen, sich mit litera¬<lb/>
turgeschichtlichen Untersuchungen bekannt zu<lb/>
machen, ohne anderseits dem geschmackvollen<lb/>
Leser durch das Phrasentum und die dilettan¬</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_1226" prev="#ID_1225"> tische Oberflächlichkeit mancher populärer so¬<lb/>
genannten Literarhistoriker lästig zu fallen.<lb/>
Meyers Geschicklichkeit, ein Thema so zu stellen,<lb/>
daß es auch den Fernerstehenden interessiert,<lb/>
seine anregende Art, die Früchte seiner großen<lb/>
Belesenheit wie spielend und ohne im geringsten<lb/>
damit zu prunken, auszubreiten, seine vor¬<lb/>
nehme Zurückhaltung und Objektivität, sowohl<lb/>
den Dingen wie den Persönlichkeiten gegen¬<lb/>
über, seine Fähigkeit, überraschendeZusammen-<lb/>
hänge zu schaffen und nicht zuletzt die Klar¬<lb/>
heit und Natürlichkeit seines Stils werden<lb/>
den beiden anspruchslosen Bändchen gewiß<lb/>
viele Leser erwerben. Das erste enthält Ab¬<lb/>
handlungen über allgemeinere Fragen, von<lb/>
denen die interessanten Parodiestudien und<lb/>
die überaus geistreiche Definition des Zufalls<lb/>
im Drama besonders hervorgehoben seien,<lb/>
das zweite behandelt einzelne Persönlichkeiten,<lb/>
und hier verdienen der Aufsatz über Gerh.<lb/>
Hauptmanns Entwicklung und der gut ge¬<lb/>
sellte über Paul Heyse besondere Erwähnung.</p>
              <note type="byline"> &#x2014;de.</note>
            </div>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Tagesfragen</head>
            <div n="3">
              <head> Das Unglück von Binz.</head>
              <p xml:id="ID_1227"> Die Erzählung<lb/>
folgt dem Bericht eines Augenzeugen. &#x201E;Ich<lb/>
stand auf dem oberen Teil der Landungs-<lb/>
brücke und sah hinunter auf die dicht gedrängt<lb/>
stehende Menschenmasse. Da mit einem Male<lb/>
ein Krach: ein Stück der unteren Brücke,<lb/>
etwa in Zimmergrößc, senkt sich trichterförmig<lb/>
nach unten, und die Daraufstehenden stürzen<lb/>
hinunter in das Wasser. Das Hilferufen,<lb/>
Schreien war fürchterlich; es entstand ein<lb/>
schreckliches Durcheinander, völlige Kopflosig¬<lb/>
keit. Endlich kam Hilfe von den Mannschaften<lb/>
der glücklicherweise vor Binz liegenden Kriegs¬<lb/>
schiffe. Es vergingen natürlich bis dahin<lb/>
kostbare Minuten. Viele waren ertrunken."</p>
              <p xml:id="ID_1228"> Die Tageszeitungen berichteten alles<lb/>
Nähere. Diese Zeilen sollen einen kleinen<lb/>
Beitrag zur Verhütung derartiger Unglücks¬<lb/>
fälle bringen.</p>
              <p xml:id="ID_1229"> Wieweit die Erbauer der Brücke und die<lb/>
Aufsichtsbehörden für das Unglück verant¬<lb/>
wortlich zu machen sind, das wird die Unter¬<lb/>
suchung klar stellen. Aber eine Ursache des<lb/>
furchtbaren Vorfalls ist jedermann bekannt, an<lb/>
deren Abhilfe allerdings noch niemand gedacht<lb/>
zu haben scheint.</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0294] Maßgebliches und Unmaßgebliches gische Züge, deren Strenge durch seelenvolle, gütige Augen gemildert wird. In Glück und Glanz, in Leid und Schmach ist sie ihrem Gatten und vor allen? sich selbst treu geblieben. Sie war ein ganzer Mensch, dessen ruhige, selbstsichere Kraft wir Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts fast neidvoll bewundern müssen. „Ich leide," schrieb sie an ihre Kinder, „weil ich von einem tugendhaften Herrn und Gatten geliebt worden bin, den ich im Unglück nicht verlassen wollte;" und an einer anderen Stelle sagt sie: „Wohl kann ich mit Hiob reden: Wenn man meinen Jammer wöge und meine Leiden zusammen auf eine Wage legte, so würden sie schwerer sein denn der Sand am Meere." Aber immer wieder erhebt sich ihr Herz in unerschütterlichem Gottvertrauen; und als nach der fast ein Menschenalter währenden Haft sich die Tore des Kerkers für sie öffnen, in dem sie so lange schuldlos geschmachtet, da kann sie in ungebrochener Kraft, ja, mit einem Scherzwort auf den Lippen, die Stätte ihrer uns heute unmenschlich erscheinenden Qualen verlassen. — Aber nicht nur als persönliches Erlebnis einer hochbegabten, edlen Frau, auch als kulturhistorisches Dokument ist das Buch von hohem Werte. Es läßt den Glanz der Höfe zu der Zeit, da in Deutschland der Dreißigjährige Krieg gerade beendet war, so¬ wie die furchtbare Grausamkeit der Gefan¬ genenbehandlung vor uns erstehen. Der Herausgeberin, die zur Charakteristik des Buches treffliche Worte fand, danken wir da¬ für, daß sie uns das Leidensgedächtnis wieder zugänglich gemacht und, durch wohlangebrachte Kürzungen die Darstellung straffer d les¬ unA. barer gestaltet hat. Richard M. Meyer. Literarhistorische und biographische Aufsätze. (Deutsche Bücherei. Bd. 116 bis 119.) 2 M. Sicher war es ein vortrefflicher Gedanke des Herausgebers der deutschen Bücherei, in seine Sammlung eine Reihe von Aufsätzen des (auch den Lesern der Grenzboten) be¬ kannten Gelehrten aufzunehmen. Zeigen sie doch gerade die Eigenschaften, die das größere Publikum fast allein reizen, sich mit litera¬ turgeschichtlichen Untersuchungen bekannt zu machen, ohne anderseits dem geschmackvollen Leser durch das Phrasentum und die dilettan¬ tische Oberflächlichkeit mancher populärer so¬ genannten Literarhistoriker lästig zu fallen. Meyers Geschicklichkeit, ein Thema so zu stellen, daß es auch den Fernerstehenden interessiert, seine anregende Art, die Früchte seiner großen Belesenheit wie spielend und ohne im geringsten damit zu prunken, auszubreiten, seine vor¬ nehme Zurückhaltung und Objektivität, sowohl den Dingen wie den Persönlichkeiten gegen¬ über, seine Fähigkeit, überraschendeZusammen- hänge zu schaffen und nicht zuletzt die Klar¬ heit und Natürlichkeit seines Stils werden den beiden anspruchslosen Bändchen gewiß viele Leser erwerben. Das erste enthält Ab¬ handlungen über allgemeinere Fragen, von denen die interessanten Parodiestudien und die überaus geistreiche Definition des Zufalls im Drama besonders hervorgehoben seien, das zweite behandelt einzelne Persönlichkeiten, und hier verdienen der Aufsatz über Gerh. Hauptmanns Entwicklung und der gut ge¬ sellte über Paul Heyse besondere Erwähnung. —de. Tagesfragen Das Unglück von Binz. Die Erzählung folgt dem Bericht eines Augenzeugen. „Ich stand auf dem oberen Teil der Landungs- brücke und sah hinunter auf die dicht gedrängt stehende Menschenmasse. Da mit einem Male ein Krach: ein Stück der unteren Brücke, etwa in Zimmergrößc, senkt sich trichterförmig nach unten, und die Daraufstehenden stürzen hinunter in das Wasser. Das Hilferufen, Schreien war fürchterlich; es entstand ein schreckliches Durcheinander, völlige Kopflosig¬ keit. Endlich kam Hilfe von den Mannschaften der glücklicherweise vor Binz liegenden Kriegs¬ schiffe. Es vergingen natürlich bis dahin kostbare Minuten. Viele waren ertrunken." Die Tageszeitungen berichteten alles Nähere. Diese Zeilen sollen einen kleinen Beitrag zur Verhütung derartiger Unglücks¬ fälle bringen. Wieweit die Erbauer der Brücke und die Aufsichtsbehörden für das Unglück verant¬ wortlich zu machen sind, das wird die Unter¬ suchung klar stellen. Aber eine Ursache des furchtbaren Vorfalls ist jedermann bekannt, an deren Abhilfe allerdings noch niemand gedacht zu haben scheint.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/294
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/294>, abgerufen am 03.07.2024.