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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I. I. Rousseau als Erzieher
Zur 2(X)jährigen Wiederkehr seines Geburtstages
Friedrich Furie von

s muß ein tieferer Grund vorhanden fein, als etwa die bloße
soundsovielte Wiederkehr seines Geburtstages, wenn eines Mannes
von nicht nationaler Bedeutung in weiteren Kreisen gedacht wird.
Es müssen gewisse innere Beziehungen zwischen heut und damals
obwalten, durch die und mit denen zugleich auch die Gestalt und
das Wollen jenes Mannes wieder lebendig werden. Alsdann aber wird man
nicht nur an dem einen Zeitpunkte dies Lebendigwerden verspüren dürfen.
Und das ist bei Rousseau in der Gegenwart sicher der Fall. Zwar ist sein
Name, als der des großen "Beginners", gerade aus unserer Literatur niemals
ganz verschwunden gewesen, aber wir sind ihm doch etwa in den letzten zehn
Jahren wieder häufiger als zuvor begegnet, wenn auch in der Hauptsache nur
in pädagogischen Büchern und Abhandlungen und soweit die psychologische
Wissenschaft, die ja in der Gegenwart den größten Teil alles pädagogischen Denkens
gefangen nimmt, zu historischen Betrachtungen überhaupt Raum läßt. Und
diese Tatsache schon drängt einem das Vorhandensein jener Beziehungen ans.
Aus der Negation, oder wenigstens der bloßen Kritik sozialer Zustände ist man
gegenwärtig, wenn nicht alles trügt, zurückgekehrt zu positiver Arbeit. Und auf
keinem Gebiete unserer sozialen Arbeit ist man zurzeit so tätig, als auf dem
Gebiete der Erziehung, das Wort in seinem weitesten Sinne begriffen, daß nicht
eben viel historischer Sinn erforderlich erscheint, an die zweite Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts erinnert zu werden, wo man von der Erziehung nicht
viel weniger als schlechterdings alles erhoffte. Mögen nun in der Gegenwart
die Beweggründe dazu noch so mannigfaltiger Art sein: wieder hat man eine
Not der Zeit erkannt und versucht den Weg zu gehen, den einst ein Pestalozzi
als einzigen Weg zur Besserung erkannte und ihn beschritt, und den auch
Rousseau, um nur diese beiden zu nennen, die freilich von grundverschiedenen
Ausgangspunkten aus zu ihrem Erziehungswerke kamen, eines Tages blitzhell
vor sich liegen sah und den er in der Folgezeit wandeln mußte. Das unter¬
scheidet ja diese Männer der Erziehung, die doch vor allem eine Sache der Tat,
wenn auch, wie bei Rousseau, mehr der inneren ist, vor anderen, die in müh-




I. I. Rousseau als Erzieher
Zur 2(X)jährigen Wiederkehr seines Geburtstages
Friedrich Furie von

s muß ein tieferer Grund vorhanden fein, als etwa die bloße
soundsovielte Wiederkehr seines Geburtstages, wenn eines Mannes
von nicht nationaler Bedeutung in weiteren Kreisen gedacht wird.
Es müssen gewisse innere Beziehungen zwischen heut und damals
obwalten, durch die und mit denen zugleich auch die Gestalt und
das Wollen jenes Mannes wieder lebendig werden. Alsdann aber wird man
nicht nur an dem einen Zeitpunkte dies Lebendigwerden verspüren dürfen.
Und das ist bei Rousseau in der Gegenwart sicher der Fall. Zwar ist sein
Name, als der des großen „Beginners", gerade aus unserer Literatur niemals
ganz verschwunden gewesen, aber wir sind ihm doch etwa in den letzten zehn
Jahren wieder häufiger als zuvor begegnet, wenn auch in der Hauptsache nur
in pädagogischen Büchern und Abhandlungen und soweit die psychologische
Wissenschaft, die ja in der Gegenwart den größten Teil alles pädagogischen Denkens
gefangen nimmt, zu historischen Betrachtungen überhaupt Raum läßt. Und
diese Tatsache schon drängt einem das Vorhandensein jener Beziehungen ans.
Aus der Negation, oder wenigstens der bloßen Kritik sozialer Zustände ist man
gegenwärtig, wenn nicht alles trügt, zurückgekehrt zu positiver Arbeit. Und auf
keinem Gebiete unserer sozialen Arbeit ist man zurzeit so tätig, als auf dem
Gebiete der Erziehung, das Wort in seinem weitesten Sinne begriffen, daß nicht
eben viel historischer Sinn erforderlich erscheint, an die zweite Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts erinnert zu werden, wo man von der Erziehung nicht
viel weniger als schlechterdings alles erhoffte. Mögen nun in der Gegenwart
die Beweggründe dazu noch so mannigfaltiger Art sein: wieder hat man eine
Not der Zeit erkannt und versucht den Weg zu gehen, den einst ein Pestalozzi
als einzigen Weg zur Besserung erkannte und ihn beschritt, und den auch
Rousseau, um nur diese beiden zu nennen, die freilich von grundverschiedenen
Ausgangspunkten aus zu ihrem Erziehungswerke kamen, eines Tages blitzhell
vor sich liegen sah und den er in der Folgezeit wandeln mußte. Das unter¬
scheidet ja diese Männer der Erziehung, die doch vor allem eine Sache der Tat,
wenn auch, wie bei Rousseau, mehr der inneren ist, vor anderen, die in müh-


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[0615] [Abbildung] I. I. Rousseau als Erzieher Zur 2(X)jährigen Wiederkehr seines Geburtstages Friedrich Furie von s muß ein tieferer Grund vorhanden fein, als etwa die bloße soundsovielte Wiederkehr seines Geburtstages, wenn eines Mannes von nicht nationaler Bedeutung in weiteren Kreisen gedacht wird. Es müssen gewisse innere Beziehungen zwischen heut und damals obwalten, durch die und mit denen zugleich auch die Gestalt und das Wollen jenes Mannes wieder lebendig werden. Alsdann aber wird man nicht nur an dem einen Zeitpunkte dies Lebendigwerden verspüren dürfen. Und das ist bei Rousseau in der Gegenwart sicher der Fall. Zwar ist sein Name, als der des großen „Beginners", gerade aus unserer Literatur niemals ganz verschwunden gewesen, aber wir sind ihm doch etwa in den letzten zehn Jahren wieder häufiger als zuvor begegnet, wenn auch in der Hauptsache nur in pädagogischen Büchern und Abhandlungen und soweit die psychologische Wissenschaft, die ja in der Gegenwart den größten Teil alles pädagogischen Denkens gefangen nimmt, zu historischen Betrachtungen überhaupt Raum läßt. Und diese Tatsache schon drängt einem das Vorhandensein jener Beziehungen ans. Aus der Negation, oder wenigstens der bloßen Kritik sozialer Zustände ist man gegenwärtig, wenn nicht alles trügt, zurückgekehrt zu positiver Arbeit. Und auf keinem Gebiete unserer sozialen Arbeit ist man zurzeit so tätig, als auf dem Gebiete der Erziehung, das Wort in seinem weitesten Sinne begriffen, daß nicht eben viel historischer Sinn erforderlich erscheint, an die zweite Hälfte des acht¬ zehnten Jahrhunderts erinnert zu werden, wo man von der Erziehung nicht viel weniger als schlechterdings alles erhoffte. Mögen nun in der Gegenwart die Beweggründe dazu noch so mannigfaltiger Art sein: wieder hat man eine Not der Zeit erkannt und versucht den Weg zu gehen, den einst ein Pestalozzi als einzigen Weg zur Besserung erkannte und ihn beschritt, und den auch Rousseau, um nur diese beiden zu nennen, die freilich von grundverschiedenen Ausgangspunkten aus zu ihrem Erziehungswerke kamen, eines Tages blitzhell vor sich liegen sah und den er in der Folgezeit wandeln mußte. Das unter¬ scheidet ja diese Männer der Erziehung, die doch vor allem eine Sache der Tat, wenn auch, wie bei Rousseau, mehr der inneren ist, vor anderen, die in müh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/615>, abgerufen am 03.07.2024.