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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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ein ganzer, wichtiger Abschnitt der Kunst
der Renaissance wissenschaftlich abgeschlossen
sein, und unsere Erkenntnis dieser großen Zeit
durch die klare Darstellung eines Einzelfalles
mehr bereichert als durch manche Kompilation,
die dickes geben will und damit oft wenig gibt.

Dr. Robert Lorwegh
Tagesfragen

Die deutsche Erzieherin in England. Bei
dem heutzutage starkausgesprochenenBildungs-
dmng derweiblichmJugend und dem so lebhaft
gerade bei Damen der sogenannten "besseren
Gesellschaft" hervortrctendenWunsche, möglichst
viel zu lernen, um auf eigenen Füßen stehen
zu können, geht alljährlich eine große Anzahl
deutscher Mädchen ins Ausland, um durch
Erwerbung genauer Sprachkenntnisse später
bessere Berufsaussichten zu haben. Viele suchen
als Erzieherin oder auch "an pai," ihren Zweck
zu erreichen. Denjenigen, die auf diese Weise
die englische Sprache erlernen möchten, will
ich hier einige Ratschläge geben, deren Nütz¬
lichkeit ich in eigener Erfahrung erprobt habe.

Zur Vermittlung solcher Stellungen (gegen
eine Probision von meistens zehn Prozent des
JahresgehalteS) gibt es in London eine große
Anzahl bon Agenturen, die stets eine Menge
von Angeboten bereit haben. Die englische
Dame hat nämlich ausprobiert, daß eine
"Deutsche" billiger, praktischer und vielseitiger
sei als die Engländerin, Niemand ahnt, waS
solch eine deutsche "Erzieherin" hinter den
Kulissen alles schafft, das eigentlich nicht zu
ihren Pflichten gehört.

In den meisten Stellenangeboten wird
etwas "neeäle-port?" verlangt. Das ist aber
ein sehr dehnbarer Begriff, und ich rate allen
Damen, die sich nicht als Schneiderin aus¬
nutzen lassen wollen, das gleich bei den schrift¬
lichen Unterhandlungen zu betonen. Die
Deutsche gilt in England als so Praktisch, daß
ihr ohne Bedenken jede, selbst die schwierigste
Schneidernrbeit zugetraut wird. Häufig wird
"etwas Mithilfe im Haushalt" erwartet, und
auch dieser Punkt muß genau festgelegt werden.
Der englische Dienstbote tut nur das, was in
sein Fach gehört: die Köchin kocht, das Zimmer¬
mädchen besorgt die Zimmer. Da ist es nun
sehr bequem, die "Zemmn" für alle zwischen
diesen beiden Feldern liegende Tätigkeit zu

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verwenden. Selbstverständlich spreche ich hier
nicht von den unglaublich reichen Familien
mit zwanzigköpfigcr Dienerschaft, denn die
meisten Damen müssen sich mit zwei bis drei
Dienstboten begnügen, was unserm Haus¬
halt mit einem "Mädchen für alles" entspricht.
Auch in England und vor allem in Irland
gibt es einen Mittelstand, von dessen Existenz
wir Deutschen meist keine Ahnung haben, einen
Mittelstand, in dem die Hausfrau sich selbst
um ihren Haushalt kümmert und froh ist,
Wenn ihr Persönlich eine Arbeit abgenommen
wird. Ich rate Hilfeleistung im Haushalt
von vornherein abzulehnen, dann wird jedes
gelegentliche Eingreifen als besondere Liebens¬
würdigkeit empfunden und nicht als selbst¬
verständlich beansprucht. Da die Engländer
gerade Wert darauf legen, Damen aus guten
Familien in ihre Häuser zu ziehen, sollen sie
lernen, daß mich bei uns "deutschen Barbaren"
ein Unterschied zwischen Erzieherin und Dienst¬
mädchen besteht.

Bei der Wahl einer Stellung hat man sich
zunächst zu entscheiden, ob man Pensionat oder
Familie vorzieht. In ersterem hat man meist
mehr Unterricht zu erteilen, dafür aber auch
seine festgesetzte Arbeits- und Erholungszeit.
Jeder Dame, die in einer Familie tätig sein
möchte, empfehle ich, sich zwei bis drei Stunden
des Tages für die eigene Nutznießung zu
sichern, denn ein Aufenthalt im Ausland hat
nur dann Zweck, wenn man privatim fleißig
arbeitet.

Irgendwelche Examina werden in den
meisten Stellenangeboten nicht verlangt. Da¬
gegen ist die Fähigkeit, Musik- manchmal auch
Zeichen- und Malnnterricht zu erteilen, fast
überall Bedingung. Im allgemeinen wird
aber in der Musik nicht mehr verlangt, als
der Durchschnitt unserer jungen Mädchen leistet,
auch wenn sie keine besondere musikalische Aus¬
bildung genossen haben. Selbstverständlich ist
das Beherrschen der französischen Sprache sehr
wertvoll und berechtigt zu höheren Ansprüchen.

Es ist nicht ratsam, eine Stellung ohne
vorherige Erkundigung bei einem deutschen
Konsulate in England anzunehmen. Letztere
sind zu möglichst ausführlicher Auskunft stets
bereit. Immer sollte man kontraktlich freie
Rückfahrt nach einem Jahre ausbedingen. Ist
große Erzieherinnennot, wird Wohl gar freie

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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ein ganzer, wichtiger Abschnitt der Kunst
der Renaissance wissenschaftlich abgeschlossen
sein, und unsere Erkenntnis dieser großen Zeit
durch die klare Darstellung eines Einzelfalles
mehr bereichert als durch manche Kompilation,
die dickes geben will und damit oft wenig gibt.

Dr. Robert Lorwegh
Tagesfragen

Die deutsche Erzieherin in England. Bei
dem heutzutage starkausgesprochenenBildungs-
dmng derweiblichmJugend und dem so lebhaft
gerade bei Damen der sogenannten „besseren
Gesellschaft" hervortrctendenWunsche, möglichst
viel zu lernen, um auf eigenen Füßen stehen
zu können, geht alljährlich eine große Anzahl
deutscher Mädchen ins Ausland, um durch
Erwerbung genauer Sprachkenntnisse später
bessere Berufsaussichten zu haben. Viele suchen
als Erzieherin oder auch „an pai," ihren Zweck
zu erreichen. Denjenigen, die auf diese Weise
die englische Sprache erlernen möchten, will
ich hier einige Ratschläge geben, deren Nütz¬
lichkeit ich in eigener Erfahrung erprobt habe.

Zur Vermittlung solcher Stellungen (gegen
eine Probision von meistens zehn Prozent des
JahresgehalteS) gibt es in London eine große
Anzahl bon Agenturen, die stets eine Menge
von Angeboten bereit haben. Die englische
Dame hat nämlich ausprobiert, daß eine
„Deutsche" billiger, praktischer und vielseitiger
sei als die Engländerin, Niemand ahnt, waS
solch eine deutsche „Erzieherin" hinter den
Kulissen alles schafft, das eigentlich nicht zu
ihren Pflichten gehört.

In den meisten Stellenangeboten wird
etwas „neeäle-port?" verlangt. Das ist aber
ein sehr dehnbarer Begriff, und ich rate allen
Damen, die sich nicht als Schneiderin aus¬
nutzen lassen wollen, das gleich bei den schrift¬
lichen Unterhandlungen zu betonen. Die
Deutsche gilt in England als so Praktisch, daß
ihr ohne Bedenken jede, selbst die schwierigste
Schneidernrbeit zugetraut wird. Häufig wird
„etwas Mithilfe im Haushalt" erwartet, und
auch dieser Punkt muß genau festgelegt werden.
Der englische Dienstbote tut nur das, was in
sein Fach gehört: die Köchin kocht, das Zimmer¬
mädchen besorgt die Zimmer. Da ist es nun
sehr bequem, die „Zemmn" für alle zwischen
diesen beiden Feldern liegende Tätigkeit zu

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verwenden. Selbstverständlich spreche ich hier
nicht von den unglaublich reichen Familien
mit zwanzigköpfigcr Dienerschaft, denn die
meisten Damen müssen sich mit zwei bis drei
Dienstboten begnügen, was unserm Haus¬
halt mit einem „Mädchen für alles" entspricht.
Auch in England und vor allem in Irland
gibt es einen Mittelstand, von dessen Existenz
wir Deutschen meist keine Ahnung haben, einen
Mittelstand, in dem die Hausfrau sich selbst
um ihren Haushalt kümmert und froh ist,
Wenn ihr Persönlich eine Arbeit abgenommen
wird. Ich rate Hilfeleistung im Haushalt
von vornherein abzulehnen, dann wird jedes
gelegentliche Eingreifen als besondere Liebens¬
würdigkeit empfunden und nicht als selbst¬
verständlich beansprucht. Da die Engländer
gerade Wert darauf legen, Damen aus guten
Familien in ihre Häuser zu ziehen, sollen sie
lernen, daß mich bei uns „deutschen Barbaren"
ein Unterschied zwischen Erzieherin und Dienst¬
mädchen besteht.

Bei der Wahl einer Stellung hat man sich
zunächst zu entscheiden, ob man Pensionat oder
Familie vorzieht. In ersterem hat man meist
mehr Unterricht zu erteilen, dafür aber auch
seine festgesetzte Arbeits- und Erholungszeit.
Jeder Dame, die in einer Familie tätig sein
möchte, empfehle ich, sich zwei bis drei Stunden
des Tages für die eigene Nutznießung zu
sichern, denn ein Aufenthalt im Ausland hat
nur dann Zweck, wenn man privatim fleißig
arbeitet.

Irgendwelche Examina werden in den
meisten Stellenangeboten nicht verlangt. Da¬
gegen ist die Fähigkeit, Musik- manchmal auch
Zeichen- und Malnnterricht zu erteilen, fast
überall Bedingung. Im allgemeinen wird
aber in der Musik nicht mehr verlangt, als
der Durchschnitt unserer jungen Mädchen leistet,
auch wenn sie keine besondere musikalische Aus¬
bildung genossen haben. Selbstverständlich ist
das Beherrschen der französischen Sprache sehr
wertvoll und berechtigt zu höheren Ansprüchen.

Es ist nicht ratsam, eine Stellung ohne
vorherige Erkundigung bei einem deutschen
Konsulate in England anzunehmen. Letztere
sind zu möglichst ausführlicher Auskunft stets
bereit. Immer sollte man kontraktlich freie
Rückfahrt nach einem Jahre ausbedingen. Ist
große Erzieherinnennot, wird Wohl gar freie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/241>, abgerufen am 29.12.2024.