Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegcl Kanzler und Konservative -- Zum nationalliberalen Parteitage -- Aus¬ sperrungen. "Unzufriedenheit, Mißtrauen und Mißmut erfüllen weite Kreise des deutschen Freilich wird der Partei so nebenher auch ein Bein gestellt durch die Be¬ Grenzboten III 1910 80
Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegcl Kanzler und Konservative — Zum nationalliberalen Parteitage — Aus¬ sperrungen. „Unzufriedenheit, Mißtrauen und Mißmut erfüllen weite Kreise des deutschen Freilich wird der Partei so nebenher auch ein Bein gestellt durch die Be¬ Grenzboten III 1910 80
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0645" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316930"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341891_316288/figures/grenzboten_341891_316288_316930_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> Reichsspiegcl</head><lb/> <note type="argument"> Kanzler und Konservative — Zum nationalliberalen Parteitage — Aus¬<lb/> sperrungen.</note><lb/> <p xml:id="ID_2747"> „Unzufriedenheit, Mißtrauen und Mißmut erfüllen weite Kreise des deutschen<lb/> Volkes." So leitete die „Kreuzzeitung" am 18. September ihre Wochenschau über<lb/> die innere Politik ein, um alsdann „die leitenden Regierungskreise" der Untätigkeit<lb/> anzuklagen und sie für einen guten Teil der herrschenden Zustände verantwortlich<lb/> zu machen. Dieser Ton gegen Herrn von Bethmann Hollweg ist neu und deutet<lb/> darauf hin, daß man im agrarischen Lager Anstoß am Verhalten des Reichs¬<lb/> kanzlers zu nehmen beginnt. Bemerkenswert ist nämlich, daß die Klage über<lb/> Untätigkeit gerade in dem Augenblick erhoben wird, wo urbi et orbi die erste<lb/> die Situation klärende Regierungsäußerung vorliegt. Freilich kann die Regierungs¬<lb/> äußerung nicht nach dem Herzen der Herren Agrarier sein, denn sie protestiert<lb/> gegen die Auffassung, als könne die Regierung einer einseitig-reaktionären Wirt¬<lb/> schaftspolitik zustimmen, mit andern Worten, als wolle der Reichskanzler sich in<lb/> das Schlepptau der Agrarier nehmen lassen. Noch mehr aber scheint es in jenen<lb/> Kreisen zu verstimmen, daß der Reichskanzler entschlossen ist, eine Politik ohne die<lb/> Nationalliberalen nicht zu machen. Das heißt nämlich, daß der Reichskanzler<lb/> bereit ist, den Wünschen der Nationalliberalen entgegenzukommen, sofern diese ihm<lb/> ihre Mitwirkung bei der Lösung der harrenden Aufgaben zusagen. Daß aber<lb/> zwischen den Wünschen der Nationalliberalen und Agrarkonservativen seit dem<lb/> letzten Versuch, die Finanzen des Reichs zu regeln, tiefe Widersprüche bestehen,<lb/> braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Es scheint somit als wahrscheinlich,<lb/> daß der Reichskanzler es mehr mit der idealistischen Strömung unter den Kon¬<lb/> servativen hält und daß diese auch innerhalb der deutschkonservativen Partei die<lb/> Oberhand über die materialistische, über die agrarische Strömung gewonnen hat.<lb/> Eine solche Wandlung innerhalb der deutschkonservativen Partei könnte nicht freudig<lb/> genug aufgenommen werden, denn sie allein ist die Voraussetzung für eine Aus¬<lb/> söhnung zwischen den staaterhaltenden Parteien. Wenn man die heutige Wochen¬<lb/> schau der „Kreuzzeitung" liest, könnte man tatsächlich glauben, die Wandlung habe<lb/> sich bereits vollzogen. Die Nationalliberalen werden darin mit so viel Hoch¬<lb/> achtung und Wertschätzung behandelt, wie seit den Zeiten des Blocks nicht mehr.</p><lb/> <p xml:id="ID_2748" next="#ID_2749"> Freilich wird der Partei so nebenher auch ein Bein gestellt durch die Be¬<lb/> hauptung, der nächste Parteitag zu Kassel werde sich mit der Frage zu befassen<lb/> haben, wie sich die Partei zu den kommenden Handelsvertragsverhandlnngen und<lb/> gegenüber der Sozialdemokratie zu verhalten habe! der werde darüber zu ent¬<lb/> scheiden haben, „ob die Partei noch eine liberale Mittelpartei sein oder eine</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1910 80</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0645]
[Abbildung]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegcl
Kanzler und Konservative — Zum nationalliberalen Parteitage — Aus¬
sperrungen.
„Unzufriedenheit, Mißtrauen und Mißmut erfüllen weite Kreise des deutschen
Volkes." So leitete die „Kreuzzeitung" am 18. September ihre Wochenschau über
die innere Politik ein, um alsdann „die leitenden Regierungskreise" der Untätigkeit
anzuklagen und sie für einen guten Teil der herrschenden Zustände verantwortlich
zu machen. Dieser Ton gegen Herrn von Bethmann Hollweg ist neu und deutet
darauf hin, daß man im agrarischen Lager Anstoß am Verhalten des Reichs¬
kanzlers zu nehmen beginnt. Bemerkenswert ist nämlich, daß die Klage über
Untätigkeit gerade in dem Augenblick erhoben wird, wo urbi et orbi die erste
die Situation klärende Regierungsäußerung vorliegt. Freilich kann die Regierungs¬
äußerung nicht nach dem Herzen der Herren Agrarier sein, denn sie protestiert
gegen die Auffassung, als könne die Regierung einer einseitig-reaktionären Wirt¬
schaftspolitik zustimmen, mit andern Worten, als wolle der Reichskanzler sich in
das Schlepptau der Agrarier nehmen lassen. Noch mehr aber scheint es in jenen
Kreisen zu verstimmen, daß der Reichskanzler entschlossen ist, eine Politik ohne die
Nationalliberalen nicht zu machen. Das heißt nämlich, daß der Reichskanzler
bereit ist, den Wünschen der Nationalliberalen entgegenzukommen, sofern diese ihm
ihre Mitwirkung bei der Lösung der harrenden Aufgaben zusagen. Daß aber
zwischen den Wünschen der Nationalliberalen und Agrarkonservativen seit dem
letzten Versuch, die Finanzen des Reichs zu regeln, tiefe Widersprüche bestehen,
braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Es scheint somit als wahrscheinlich,
daß der Reichskanzler es mehr mit der idealistischen Strömung unter den Kon¬
servativen hält und daß diese auch innerhalb der deutschkonservativen Partei die
Oberhand über die materialistische, über die agrarische Strömung gewonnen hat.
Eine solche Wandlung innerhalb der deutschkonservativen Partei könnte nicht freudig
genug aufgenommen werden, denn sie allein ist die Voraussetzung für eine Aus¬
söhnung zwischen den staaterhaltenden Parteien. Wenn man die heutige Wochen¬
schau der „Kreuzzeitung" liest, könnte man tatsächlich glauben, die Wandlung habe
sich bereits vollzogen. Die Nationalliberalen werden darin mit so viel Hoch¬
achtung und Wertschätzung behandelt, wie seit den Zeiten des Blocks nicht mehr.
Freilich wird der Partei so nebenher auch ein Bein gestellt durch die Be¬
hauptung, der nächste Parteitag zu Kassel werde sich mit der Frage zu befassen
haben, wie sich die Partei zu den kommenden Handelsvertragsverhandlnngen und
gegenüber der Sozialdemokratie zu verhalten habe! der werde darüber zu ent¬
scheiden haben, „ob die Partei noch eine liberale Mittelpartei sein oder eine
Grenzboten III 1910 80
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