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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Adele Schopenhauers Tagebücher

War; etwa so, wie man gern sein wollte. Intimere Tatsachen vertraute man sehr
häufig dem Papier nicht an. Der Graf Castiglione schreibt z.B. an seine Mutter!
"Ich schreibe so offenherzig, weil ich meinen zuverlässigen Boten habe, sonst würde
ich es nicht tun." Die sicheren Boten waren aber bei den beständigen Kleinkriegen
eine Seltenheit. Man muß also zwischen den Zeilen lesen können -- eine Kunst,
die letzten Endes freilich jedes literarische Erzeugnis herausfordert, denn was läßt
sich mit armseligen Worten allein auf dem Papier mitteilen?

Die Auswahl der Briefe ist ziemlich begrenzt: Petrarca, Boccaccio, Ariost,
Lorenzo Medici, Macchiavell, Castiglione, Federigo Gonzaga, Aretino, Tizian,
Caterina da Siena, Alessandra Strozzi -- das wären die bekannteren Namen.
Ich vermisse neben Poggio, dem wir u. a. eine überaus farbige Schilderung
deutschen Badelebens verdanken, den feinen Kopf Enea Silvio, der zu schlecht
wegkommt, ferner ein paar geistreiche Charakterköpfe aus dein römischen Klerus;
schließlich durfte auch Michelangelo nicht fehlen, mag er auch in eine spätere Zeit
hineingewachsen sein, als die Sammlung zu charakterisieren unternimmt. Im
ganzen charakterisiert sie, vom Verfasser klug ergänzt und zusammengehalten vor¬
,
Lügen Kalkschmidt trefflich.




Adele Schopenhauers Tagebücher

le Schwester des berühmten Philosophen war ausgesprochen häßlich.
Levin Schücking schreibt über sie in seinen Lebenserinnerungen
(II 41): "Die Grazien waren von ihrer Wiege in einer wahrhaft
empörenden Entfernung geblieben; die große, knochige Gestalt trug
einen Kopf von ungewöhnlicher Häßlichkeit, der nicht im mindesten
an den Philosophen erinnerte, sondern in ganz eigener Weise Viktor Hugos großes
Wort ,I^s laicl o's8t Is beau' zu bestätigen gewußt hatte. Er war rund wie ein
Apfel, er wäre vom Typus der Tataren gewesen, wenn er in seiner eigensinnigen
Originalität nicht jedes Typus gespottet hätte." "Aber," fügte er hinzu, "ein paar
ernste, treue Frauenaugen leuchteten aus diesem Kopf, und niemand konnte sie
kennen lernen, ohne sich bald von ihr angezogen zu fühlen, von einem Charakter
von seltener, anspruchsloser Tüchtigkeit und einer Bildung von ganz ungewöhnlicher
Gründlichkeit und überraschendem Umfang."

Eine gewaltige Tragik lastete auf ihrem Leben. Erst war sie häßlich und
kränklich, doch in äußerlich glänzenden Verhältnissen, später gesellte sich noch die
Armut hinzu, da alterte sie jung. Ihre Jugend verlief freudlos. Zwischen Bruder
und Schwester stand die Mutter mit ihrem Groll gegen den Sohn, und zwischen
Mutter und Tochter stand der böse Hausgeist Gerstenbergk, der Hausfreund der
Mutter, in dem Adele instinktiv einen Feind witterte. Nach außen hin machte Haus¬
und Familienleben einen großartigen Eindruck: Die geistvolle Reise- und Roman-


Adele Schopenhauers Tagebücher

War; etwa so, wie man gern sein wollte. Intimere Tatsachen vertraute man sehr
häufig dem Papier nicht an. Der Graf Castiglione schreibt z.B. an seine Mutter!
„Ich schreibe so offenherzig, weil ich meinen zuverlässigen Boten habe, sonst würde
ich es nicht tun." Die sicheren Boten waren aber bei den beständigen Kleinkriegen
eine Seltenheit. Man muß also zwischen den Zeilen lesen können — eine Kunst,
die letzten Endes freilich jedes literarische Erzeugnis herausfordert, denn was läßt
sich mit armseligen Worten allein auf dem Papier mitteilen?

Die Auswahl der Briefe ist ziemlich begrenzt: Petrarca, Boccaccio, Ariost,
Lorenzo Medici, Macchiavell, Castiglione, Federigo Gonzaga, Aretino, Tizian,
Caterina da Siena, Alessandra Strozzi — das wären die bekannteren Namen.
Ich vermisse neben Poggio, dem wir u. a. eine überaus farbige Schilderung
deutschen Badelebens verdanken, den feinen Kopf Enea Silvio, der zu schlecht
wegkommt, ferner ein paar geistreiche Charakterköpfe aus dein römischen Klerus;
schließlich durfte auch Michelangelo nicht fehlen, mag er auch in eine spätere Zeit
hineingewachsen sein, als die Sammlung zu charakterisieren unternimmt. Im
ganzen charakterisiert sie, vom Verfasser klug ergänzt und zusammengehalten vor¬
,
Lügen Kalkschmidt trefflich.




Adele Schopenhauers Tagebücher

le Schwester des berühmten Philosophen war ausgesprochen häßlich.
Levin Schücking schreibt über sie in seinen Lebenserinnerungen
(II 41): „Die Grazien waren von ihrer Wiege in einer wahrhaft
empörenden Entfernung geblieben; die große, knochige Gestalt trug
einen Kopf von ungewöhnlicher Häßlichkeit, der nicht im mindesten
an den Philosophen erinnerte, sondern in ganz eigener Weise Viktor Hugos großes
Wort ,I^s laicl o's8t Is beau' zu bestätigen gewußt hatte. Er war rund wie ein
Apfel, er wäre vom Typus der Tataren gewesen, wenn er in seiner eigensinnigen
Originalität nicht jedes Typus gespottet hätte." „Aber," fügte er hinzu, „ein paar
ernste, treue Frauenaugen leuchteten aus diesem Kopf, und niemand konnte sie
kennen lernen, ohne sich bald von ihr angezogen zu fühlen, von einem Charakter
von seltener, anspruchsloser Tüchtigkeit und einer Bildung von ganz ungewöhnlicher
Gründlichkeit und überraschendem Umfang."

Eine gewaltige Tragik lastete auf ihrem Leben. Erst war sie häßlich und
kränklich, doch in äußerlich glänzenden Verhältnissen, später gesellte sich noch die
Armut hinzu, da alterte sie jung. Ihre Jugend verlief freudlos. Zwischen Bruder
und Schwester stand die Mutter mit ihrem Groll gegen den Sohn, und zwischen
Mutter und Tochter stand der böse Hausgeist Gerstenbergk, der Hausfreund der
Mutter, in dem Adele instinktiv einen Feind witterte. Nach außen hin machte Haus¬
und Familienleben einen großartigen Eindruck: Die geistvolle Reise- und Roman-


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[0584] Adele Schopenhauers Tagebücher War; etwa so, wie man gern sein wollte. Intimere Tatsachen vertraute man sehr häufig dem Papier nicht an. Der Graf Castiglione schreibt z.B. an seine Mutter! „Ich schreibe so offenherzig, weil ich meinen zuverlässigen Boten habe, sonst würde ich es nicht tun." Die sicheren Boten waren aber bei den beständigen Kleinkriegen eine Seltenheit. Man muß also zwischen den Zeilen lesen können — eine Kunst, die letzten Endes freilich jedes literarische Erzeugnis herausfordert, denn was läßt sich mit armseligen Worten allein auf dem Papier mitteilen? Die Auswahl der Briefe ist ziemlich begrenzt: Petrarca, Boccaccio, Ariost, Lorenzo Medici, Macchiavell, Castiglione, Federigo Gonzaga, Aretino, Tizian, Caterina da Siena, Alessandra Strozzi — das wären die bekannteren Namen. Ich vermisse neben Poggio, dem wir u. a. eine überaus farbige Schilderung deutschen Badelebens verdanken, den feinen Kopf Enea Silvio, der zu schlecht wegkommt, ferner ein paar geistreiche Charakterköpfe aus dein römischen Klerus; schließlich durfte auch Michelangelo nicht fehlen, mag er auch in eine spätere Zeit hineingewachsen sein, als die Sammlung zu charakterisieren unternimmt. Im ganzen charakterisiert sie, vom Verfasser klug ergänzt und zusammengehalten vor¬ , Lügen Kalkschmidt trefflich. Adele Schopenhauers Tagebücher le Schwester des berühmten Philosophen war ausgesprochen häßlich. Levin Schücking schreibt über sie in seinen Lebenserinnerungen (II 41): „Die Grazien waren von ihrer Wiege in einer wahrhaft empörenden Entfernung geblieben; die große, knochige Gestalt trug einen Kopf von ungewöhnlicher Häßlichkeit, der nicht im mindesten an den Philosophen erinnerte, sondern in ganz eigener Weise Viktor Hugos großes Wort ,I^s laicl o's8t Is beau' zu bestätigen gewußt hatte. Er war rund wie ein Apfel, er wäre vom Typus der Tataren gewesen, wenn er in seiner eigensinnigen Originalität nicht jedes Typus gespottet hätte." „Aber," fügte er hinzu, „ein paar ernste, treue Frauenaugen leuchteten aus diesem Kopf, und niemand konnte sie kennen lernen, ohne sich bald von ihr angezogen zu fühlen, von einem Charakter von seltener, anspruchsloser Tüchtigkeit und einer Bildung von ganz ungewöhnlicher Gründlichkeit und überraschendem Umfang." Eine gewaltige Tragik lastete auf ihrem Leben. Erst war sie häßlich und kränklich, doch in äußerlich glänzenden Verhältnissen, später gesellte sich noch die Armut hinzu, da alterte sie jung. Ihre Jugend verlief freudlos. Zwischen Bruder und Schwester stand die Mutter mit ihrem Groll gegen den Sohn, und zwischen Mutter und Tochter stand der böse Hausgeist Gerstenbergk, der Hausfreund der Mutter, in dem Adele instinktiv einen Feind witterte. Nach außen hin machte Haus¬ und Familienleben einen großartigen Eindruck: Die geistvolle Reise- und Roman-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/584>, abgerufen am 04.07.2024.