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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutschtum und Schweiz

namentlich in dem erst kürzlich veröffentlichten Mädchentagebuch entgegentritt!
Sie erscheint frühzeitig altklug, dazu sentimental-melancholisch und vor allem
leidenschaftlich heftig, darin eben dem Wesen Lenaus aufs engste verwandt.
Deshalb findet sie auch nicht die Kraft, dem leidenschaftlichen Ansturm des
geliebten Mannes Widerstand entgegenzusetzen und wie Lotte Mäßigung ins
heiße Blut ihres Dichters zu tropfen. Aber auch Goethe kämpft trotz der
stoßweisen Durchbrüche seiner Leidenschaft mit mehr Glück gegen sie an als
Lenau, der dem Sturm sein Herz ohne allen Rückhalt auftut und aus höchster
See fährt, wo sich kein Anker werfen läßt. So versucht Goethe z. B. das
Andenken an Lotte wegzuhalten und ihr Bild nicht allzu lebhaft werden zu
lassen. Die allmählich zunehmende Liebe macht ihn still und gesittigt. Bei
Lenau dagegen ist die Liebe gleich in ihrer ganzen Leidenschaft erwacht, er
verirrt sich in ihr unentwirrbares Labyrinth und stößt auf die eiserne Schranke
der Pflicht, die er nicht durchbrechen kann und will. Weil sich seine Gedanken
und Gefühle immer um den einen Punkt, seine Liebe, konzentrieren, wird er
unruhig, ein Sehnsuchtsfieber schüttelt ihn in der Ferne, er hat keinen Sinn
mehr für seinen Liebling, den holden Lenz, keinen Sinn mehr für seine Freunde.
Er wird unliebenswürdig gegen sie, ja überhaupt ungerecht gegen die Menschen.
Goethe dagegen nimmt die Menschen, wie sie sind; ihm wird es leicht, mit ihnen
zu handeln, da er infolge der Liebe, die ihn in Anspruch nimmt, mit ihnen
nicht umzugehen braucht.




Deutschtum und Schweiz

IN Jahre 1841 schrieb ein Züricher, namens Orelli"), in der
Vorrede eines Buches: "Und mit diesem kleinen Denkmale erfülle
ich eine heilige Pflicht gegen meine Nation, die deutsche; denn
in allein Geistigen, Wissenschaftlicher, Künstlerischen bildet Deutsch¬
land und die deutsche Schweiz nur ein Volk." Also fühlte sich
Orelli nicht bloß für seine Person als Deutscher, sondern glaubte auch durch
dies öffentliche Bekenntnis seinem Buch ein empfehlendes Geleitwort zu geben.

In den siebziger Jahren hörte ich einen andern, wegen seiner scharfen Zunge
gefürchteten, Züricher sagen: "Ja, sehen Sie, daß wir Schweizer Deutsche sind,



") I. K. Lavaters ausgewählte Schriften. Herausgegeben van I. K, Orelli, Zürich 1841.
Barwort S, 5.
Deutschtum und Schweiz

namentlich in dem erst kürzlich veröffentlichten Mädchentagebuch entgegentritt!
Sie erscheint frühzeitig altklug, dazu sentimental-melancholisch und vor allem
leidenschaftlich heftig, darin eben dem Wesen Lenaus aufs engste verwandt.
Deshalb findet sie auch nicht die Kraft, dem leidenschaftlichen Ansturm des
geliebten Mannes Widerstand entgegenzusetzen und wie Lotte Mäßigung ins
heiße Blut ihres Dichters zu tropfen. Aber auch Goethe kämpft trotz der
stoßweisen Durchbrüche seiner Leidenschaft mit mehr Glück gegen sie an als
Lenau, der dem Sturm sein Herz ohne allen Rückhalt auftut und aus höchster
See fährt, wo sich kein Anker werfen läßt. So versucht Goethe z. B. das
Andenken an Lotte wegzuhalten und ihr Bild nicht allzu lebhaft werden zu
lassen. Die allmählich zunehmende Liebe macht ihn still und gesittigt. Bei
Lenau dagegen ist die Liebe gleich in ihrer ganzen Leidenschaft erwacht, er
verirrt sich in ihr unentwirrbares Labyrinth und stößt auf die eiserne Schranke
der Pflicht, die er nicht durchbrechen kann und will. Weil sich seine Gedanken
und Gefühle immer um den einen Punkt, seine Liebe, konzentrieren, wird er
unruhig, ein Sehnsuchtsfieber schüttelt ihn in der Ferne, er hat keinen Sinn
mehr für seinen Liebling, den holden Lenz, keinen Sinn mehr für seine Freunde.
Er wird unliebenswürdig gegen sie, ja überhaupt ungerecht gegen die Menschen.
Goethe dagegen nimmt die Menschen, wie sie sind; ihm wird es leicht, mit ihnen
zu handeln, da er infolge der Liebe, die ihn in Anspruch nimmt, mit ihnen
nicht umzugehen braucht.




Deutschtum und Schweiz

IN Jahre 1841 schrieb ein Züricher, namens Orelli"), in der
Vorrede eines Buches: „Und mit diesem kleinen Denkmale erfülle
ich eine heilige Pflicht gegen meine Nation, die deutsche; denn
in allein Geistigen, Wissenschaftlicher, Künstlerischen bildet Deutsch¬
land und die deutsche Schweiz nur ein Volk." Also fühlte sich
Orelli nicht bloß für seine Person als Deutscher, sondern glaubte auch durch
dies öffentliche Bekenntnis seinem Buch ein empfehlendes Geleitwort zu geben.

In den siebziger Jahren hörte ich einen andern, wegen seiner scharfen Zunge
gefürchteten, Züricher sagen: „Ja, sehen Sie, daß wir Schweizer Deutsche sind,



") I. K. Lavaters ausgewählte Schriften. Herausgegeben van I. K, Orelli, Zürich 1841.
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[0510] Deutschtum und Schweiz namentlich in dem erst kürzlich veröffentlichten Mädchentagebuch entgegentritt! Sie erscheint frühzeitig altklug, dazu sentimental-melancholisch und vor allem leidenschaftlich heftig, darin eben dem Wesen Lenaus aufs engste verwandt. Deshalb findet sie auch nicht die Kraft, dem leidenschaftlichen Ansturm des geliebten Mannes Widerstand entgegenzusetzen und wie Lotte Mäßigung ins heiße Blut ihres Dichters zu tropfen. Aber auch Goethe kämpft trotz der stoßweisen Durchbrüche seiner Leidenschaft mit mehr Glück gegen sie an als Lenau, der dem Sturm sein Herz ohne allen Rückhalt auftut und aus höchster See fährt, wo sich kein Anker werfen läßt. So versucht Goethe z. B. das Andenken an Lotte wegzuhalten und ihr Bild nicht allzu lebhaft werden zu lassen. Die allmählich zunehmende Liebe macht ihn still und gesittigt. Bei Lenau dagegen ist die Liebe gleich in ihrer ganzen Leidenschaft erwacht, er verirrt sich in ihr unentwirrbares Labyrinth und stößt auf die eiserne Schranke der Pflicht, die er nicht durchbrechen kann und will. Weil sich seine Gedanken und Gefühle immer um den einen Punkt, seine Liebe, konzentrieren, wird er unruhig, ein Sehnsuchtsfieber schüttelt ihn in der Ferne, er hat keinen Sinn mehr für seinen Liebling, den holden Lenz, keinen Sinn mehr für seine Freunde. Er wird unliebenswürdig gegen sie, ja überhaupt ungerecht gegen die Menschen. Goethe dagegen nimmt die Menschen, wie sie sind; ihm wird es leicht, mit ihnen zu handeln, da er infolge der Liebe, die ihn in Anspruch nimmt, mit ihnen nicht umzugehen braucht. Deutschtum und Schweiz IN Jahre 1841 schrieb ein Züricher, namens Orelli"), in der Vorrede eines Buches: „Und mit diesem kleinen Denkmale erfülle ich eine heilige Pflicht gegen meine Nation, die deutsche; denn in allein Geistigen, Wissenschaftlicher, Künstlerischen bildet Deutsch¬ land und die deutsche Schweiz nur ein Volk." Also fühlte sich Orelli nicht bloß für seine Person als Deutscher, sondern glaubte auch durch dies öffentliche Bekenntnis seinem Buch ein empfehlendes Geleitwort zu geben. In den siebziger Jahren hörte ich einen andern, wegen seiner scharfen Zunge gefürchteten, Züricher sagen: „Ja, sehen Sie, daß wir Schweizer Deutsche sind, ") I. K. Lavaters ausgewählte Schriften. Herausgegeben van I. K, Orelli, Zürich 1841. Barwort S, 5.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/510>, abgerufen am 23.07.2024.