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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Am 6. November 1798 wurde dem Lande Lippe der ersehnte Thronerbe
geboren. Pauline ist überglücklich und berichtet dem Vetter schon nach sechs
Wochen mit Stolz, daß sie den Kleinen selbst nährt, und daß er gut zunimmt.
Auch später erzählt sie gern von den Fortschritten ihres Leopold, von seinem
"empfehlenden Äußern und seinem ganz anhaltinischen Gesicht" -- bekanntlich
haben sich die Askanier von jeher durch männliche Schönheit ausgezeichnet.
Dagegen scheint der zweite ein Jahr jüngere Sohn Fritz mehr nach dem
Vater zu arten. "Hübsch ist er nicht, schreibt die Mutter, aber rund und
possierlich."

Es ist wohl kein Zufall, daß unes Paulinens Vermählung der Brief¬
wechsel mit dem holsteinischen Vetter immer mehr ins Stocken gerät und bald
auf Jahre hinaus ganz abgebrochen wird. Diese Briefe waren ihr ein Be¬
dürfnis des Herzens gewesen und hatten eine Lücke ihres Wesens ausgefüllt.
Jetzt brauchte sie ihr reiches Empfindungsleben nicht mehr in toten Buchstaben
ausströmen zu lassen: sie hatte einen Gatten, dem sie alles war, Kinder, die
sie hegen und pflegen konnte. Man merkt es an dem Ton der spätern Briefe:
an die Stelle fast schwärmerischer Verehrung ist jetzt ruhige, gemessene Freund¬
schaft getreten. Wohl hat es für sie noch immer einen großen Reiz, sich mit
dem Vetter über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit zu unterhalten.
Aber sie ist nicht mehr die Schülerin, die von ihm Anregungen empfangen
will, sie ist über ihn hinausgewachsen, hat in: Leben etwas geleistet, und die
Sorge für das ihrer Obhut anvertraute Ländchen nimmt sie fast vollständig in
Anspruch.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Vierte Reihe
von der Natur und der Heugabel 2

lie Abend ums Dunkelwerden hielt Muttche ein Dämmerstündchen
auf dem Sofa sitzend. Die jungen Mädchen bildeten Gruppe um sie
herum und schwärmten, und die, die einen Platz rechts oder links von
Muttche einnehmen durften, waren selig. Und Erna war siebenmal
selig, wenn sie neben Muttche sitzen konnte. Alles Vertrauen und
alle Zärtlichkeit, die in ihrem bisherigen Leben in einem Winkel ihrer
Seele verkümmert war, gewann Leben und wandte sich Muttche zu.

Einmal war sie mit Muttche allein. Muttche hatte den Arm um Erna gelegt,
und Erna war ganz still, als fürchte sie, den schönen Traum zu zerstören.

Was denkst du jetzt, mein Kind? fragte Muttche. Wars nicht ein Wunsch?

Ja, Muttche.

Was wünschtest du dir denn?


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Am 6. November 1798 wurde dem Lande Lippe der ersehnte Thronerbe
geboren. Pauline ist überglücklich und berichtet dem Vetter schon nach sechs
Wochen mit Stolz, daß sie den Kleinen selbst nährt, und daß er gut zunimmt.
Auch später erzählt sie gern von den Fortschritten ihres Leopold, von seinem
„empfehlenden Äußern und seinem ganz anhaltinischen Gesicht" — bekanntlich
haben sich die Askanier von jeher durch männliche Schönheit ausgezeichnet.
Dagegen scheint der zweite ein Jahr jüngere Sohn Fritz mehr nach dem
Vater zu arten. „Hübsch ist er nicht, schreibt die Mutter, aber rund und
possierlich."

Es ist wohl kein Zufall, daß unes Paulinens Vermählung der Brief¬
wechsel mit dem holsteinischen Vetter immer mehr ins Stocken gerät und bald
auf Jahre hinaus ganz abgebrochen wird. Diese Briefe waren ihr ein Be¬
dürfnis des Herzens gewesen und hatten eine Lücke ihres Wesens ausgefüllt.
Jetzt brauchte sie ihr reiches Empfindungsleben nicht mehr in toten Buchstaben
ausströmen zu lassen: sie hatte einen Gatten, dem sie alles war, Kinder, die
sie hegen und pflegen konnte. Man merkt es an dem Ton der spätern Briefe:
an die Stelle fast schwärmerischer Verehrung ist jetzt ruhige, gemessene Freund¬
schaft getreten. Wohl hat es für sie noch immer einen großen Reiz, sich mit
dem Vetter über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit zu unterhalten.
Aber sie ist nicht mehr die Schülerin, die von ihm Anregungen empfangen
will, sie ist über ihn hinausgewachsen, hat in: Leben etwas geleistet, und die
Sorge für das ihrer Obhut anvertraute Ländchen nimmt sie fast vollständig in
Anspruch.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Vierte Reihe
von der Natur und der Heugabel 2

lie Abend ums Dunkelwerden hielt Muttche ein Dämmerstündchen
auf dem Sofa sitzend. Die jungen Mädchen bildeten Gruppe um sie
herum und schwärmten, und die, die einen Platz rechts oder links von
Muttche einnehmen durften, waren selig. Und Erna war siebenmal
selig, wenn sie neben Muttche sitzen konnte. Alles Vertrauen und
alle Zärtlichkeit, die in ihrem bisherigen Leben in einem Winkel ihrer
Seele verkümmert war, gewann Leben und wandte sich Muttche zu.

Einmal war sie mit Muttche allein. Muttche hatte den Arm um Erna gelegt,
und Erna war ganz still, als fürchte sie, den schönen Traum zu zerstören.

Was denkst du jetzt, mein Kind? fragte Muttche. Wars nicht ein Wunsch?

Ja, Muttche.

Was wünschtest du dir denn?


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[0244] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Am 6. November 1798 wurde dem Lande Lippe der ersehnte Thronerbe geboren. Pauline ist überglücklich und berichtet dem Vetter schon nach sechs Wochen mit Stolz, daß sie den Kleinen selbst nährt, und daß er gut zunimmt. Auch später erzählt sie gern von den Fortschritten ihres Leopold, von seinem „empfehlenden Äußern und seinem ganz anhaltinischen Gesicht" — bekanntlich haben sich die Askanier von jeher durch männliche Schönheit ausgezeichnet. Dagegen scheint der zweite ein Jahr jüngere Sohn Fritz mehr nach dem Vater zu arten. „Hübsch ist er nicht, schreibt die Mutter, aber rund und possierlich." Es ist wohl kein Zufall, daß unes Paulinens Vermählung der Brief¬ wechsel mit dem holsteinischen Vetter immer mehr ins Stocken gerät und bald auf Jahre hinaus ganz abgebrochen wird. Diese Briefe waren ihr ein Be¬ dürfnis des Herzens gewesen und hatten eine Lücke ihres Wesens ausgefüllt. Jetzt brauchte sie ihr reiches Empfindungsleben nicht mehr in toten Buchstaben ausströmen zu lassen: sie hatte einen Gatten, dem sie alles war, Kinder, die sie hegen und pflegen konnte. Man merkt es an dem Ton der spätern Briefe: an die Stelle fast schwärmerischer Verehrung ist jetzt ruhige, gemessene Freund¬ schaft getreten. Wohl hat es für sie noch immer einen großen Reiz, sich mit dem Vetter über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit zu unterhalten. Aber sie ist nicht mehr die Schülerin, die von ihm Anregungen empfangen will, sie ist über ihn hinausgewachsen, hat in: Leben etwas geleistet, und die Sorge für das ihrer Obhut anvertraute Ländchen nimmt sie fast vollständig in Anspruch. Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Fritz Anders von Vierte Reihe von der Natur und der Heugabel 2 lie Abend ums Dunkelwerden hielt Muttche ein Dämmerstündchen auf dem Sofa sitzend. Die jungen Mädchen bildeten Gruppe um sie herum und schwärmten, und die, die einen Platz rechts oder links von Muttche einnehmen durften, waren selig. Und Erna war siebenmal selig, wenn sie neben Muttche sitzen konnte. Alles Vertrauen und alle Zärtlichkeit, die in ihrem bisherigen Leben in einem Winkel ihrer Seele verkümmert war, gewann Leben und wandte sich Muttche zu. Einmal war sie mit Muttche allein. Muttche hatte den Arm um Erna gelegt, und Erna war ganz still, als fürchte sie, den schönen Traum zu zerstören. Was denkst du jetzt, mein Kind? fragte Muttche. Wars nicht ein Wunsch? Ja, Muttche. Was wünschtest du dir denn?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/244>, abgerufen am 24.07.2024.