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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der Marquis von (Larabas
Palle Rosenkrantz Roman von
Zweites Kapitel

(worin das Leben und die Menschen von einer andern Seite gesehen werden und der Verfasser
als schlichter Geist, der er ist -- ebenso wie Kalt -- wiederum wortreich wird)

Mährend der Marquis im Festsaale tcinzte, brachten Kalt und Pips den
Abend in einem Arbeitertheater in der Vorstadt zu. Pips hatte trüb¬
selig den Kopf hangen lassen, und deshalb war es Kalt passend er¬
schienen, sie durch eine Naturkomödie, über deren Inhalt er in einem
Arbeiterblatte gelesen hatte, aufzuheitern. Die Vorstellung wurde in
einem Versaminlungshanse gegeben, dessen eine Seite den Standplatz
für einen Thespiskarren abgab. Bedient wurde dieser von achtbaren Arbeitern und
Arbeiterinnen aus der obersten Hälfte dieses Standes, wohlgestellten, zufriedner und
organisierten Leuten, die die Zeit gelehrt hatte, das Leben nach Kräften auszunutzen,
wie es das Recht und die Pflicht der Menschen ist.

Das Lokal war hell und freundlich, und die meisten der Zuschauer wäre"
vergnügt und wohlgekleidet: Männer mit ihren Frauen, häufig auch Frauen mit
ihren Männern, Fabrikarbeiterinnen und Nähterinnen mit ihren Liebsten, dazwischen
bleiche und müde weibliche Wesen, aber mich frische und gesunde junge Mädchen,
die alles sahen und fühlten und sich auch nicht scheuten zu reden.

Das Licht des Kronleuchters an der Decke ergoß sich über vielfarbige Binsen
und Taillen, über Haarkamme und Haargekräusel, es fiel auf gebeugte Kopfe mit
spärlichem, armseligem Haarwuchs, auf abgenutzte schwarze Kleider und bescheidne
Halskransen; hier und dort traf es auch auf gefurchte und von der Sorge gekenn¬
zeichnete Stirnen, doch wenn man die ganze Menge als eine Einheit auffaßte und
Befiehl für Gesicht zu einem einzigen großen, vielköpfigen Wesen vereinigte, so fand
wan alle Furchen ausgeglättet und als gemeinsamen Charakter eine sinnige Ruhe,
eine gefaßte Erwartung und das Gefühl, Schulter an Schulter unter gemeinsamer
Aagge zu stehn.

Kalt und Pips saßen etwas nach hinten, einsam, weil sie niemand kannten,
und unbeachtet, weil die Menschen der Großstadt niemals den einzelnen sehn. Der
Vorhang wurde nach links gezogen, und über den Saal, der nun in Finsternis lag,
breitete die Andächtigkeit ihre Flügel des Schweigens. Es war ein modernes Volks¬
schauspiel, das gegeben wurde, von einem Mitgliede des Zirkels geschrieben und für
denselben Zirkel zur Aufführung berechnet. Die Szenerie stellte ein stilles Arbeiter¬
heim im Hinterhause dar, in das die Sonne selten hineinscheint, und in dem die
Genügsamkeit durch die Öldrucke an den Wänden und die wenigen steifen Möbel
eine deutliche Sprache redet. Auch die halb zerbrochnen Glasvasen, deren Blumen
getrocknetes Gras sind, bekunden die Bescheidenheit der Bewohner. Es ist ein Heim,
dessen Fenster mit Kattungardinen behängt sind, und worin viele Menschen in wenigen
und engen Räumen wohnen müssen.


Grenzboten I 1908 5"


Der Marquis von (Larabas
Palle Rosenkrantz Roman von
Zweites Kapitel

(worin das Leben und die Menschen von einer andern Seite gesehen werden und der Verfasser
als schlichter Geist, der er ist — ebenso wie Kalt — wiederum wortreich wird)

Mährend der Marquis im Festsaale tcinzte, brachten Kalt und Pips den
Abend in einem Arbeitertheater in der Vorstadt zu. Pips hatte trüb¬
selig den Kopf hangen lassen, und deshalb war es Kalt passend er¬
schienen, sie durch eine Naturkomödie, über deren Inhalt er in einem
Arbeiterblatte gelesen hatte, aufzuheitern. Die Vorstellung wurde in
einem Versaminlungshanse gegeben, dessen eine Seite den Standplatz
für einen Thespiskarren abgab. Bedient wurde dieser von achtbaren Arbeitern und
Arbeiterinnen aus der obersten Hälfte dieses Standes, wohlgestellten, zufriedner und
organisierten Leuten, die die Zeit gelehrt hatte, das Leben nach Kräften auszunutzen,
wie es das Recht und die Pflicht der Menschen ist.

Das Lokal war hell und freundlich, und die meisten der Zuschauer wäre»
vergnügt und wohlgekleidet: Männer mit ihren Frauen, häufig auch Frauen mit
ihren Männern, Fabrikarbeiterinnen und Nähterinnen mit ihren Liebsten, dazwischen
bleiche und müde weibliche Wesen, aber mich frische und gesunde junge Mädchen,
die alles sahen und fühlten und sich auch nicht scheuten zu reden.

Das Licht des Kronleuchters an der Decke ergoß sich über vielfarbige Binsen
und Taillen, über Haarkamme und Haargekräusel, es fiel auf gebeugte Kopfe mit
spärlichem, armseligem Haarwuchs, auf abgenutzte schwarze Kleider und bescheidne
Halskransen; hier und dort traf es auch auf gefurchte und von der Sorge gekenn¬
zeichnete Stirnen, doch wenn man die ganze Menge als eine Einheit auffaßte und
Befiehl für Gesicht zu einem einzigen großen, vielköpfigen Wesen vereinigte, so fand
wan alle Furchen ausgeglättet und als gemeinsamen Charakter eine sinnige Ruhe,
eine gefaßte Erwartung und das Gefühl, Schulter an Schulter unter gemeinsamer
Aagge zu stehn.

Kalt und Pips saßen etwas nach hinten, einsam, weil sie niemand kannten,
und unbeachtet, weil die Menschen der Großstadt niemals den einzelnen sehn. Der
Vorhang wurde nach links gezogen, und über den Saal, der nun in Finsternis lag,
breitete die Andächtigkeit ihre Flügel des Schweigens. Es war ein modernes Volks¬
schauspiel, das gegeben wurde, von einem Mitgliede des Zirkels geschrieben und für
denselben Zirkel zur Aufführung berechnet. Die Szenerie stellte ein stilles Arbeiter¬
heim im Hinterhause dar, in das die Sonne selten hineinscheint, und in dem die
Genügsamkeit durch die Öldrucke an den Wänden und die wenigen steifen Möbel
eine deutliche Sprache redet. Auch die halb zerbrochnen Glasvasen, deren Blumen
getrocknetes Gras sind, bekunden die Bescheidenheit der Bewohner. Es ist ein Heim,
dessen Fenster mit Kattungardinen behängt sind, und worin viele Menschen in wenigen
und engen Räumen wohnen müssen.


Grenzboten I 1908 5«
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/437>, abgerufen am 22.07.2024.