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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

!le Tagesblätter eilen mit Berichten über die Begebenheiten
voraus. Der Vorzug einer Wochenschrift ist, daß sie mit Ruhe
nachholen kann, was jenen in ihrer Hast unmöglich ist. Was
man seit beinahe einem Jahrhundert die orientalische Frage
I nennt, das hat seinen Ursprung in dem unendlich mannigfaltig
verschlungnen Netz des geschichtlichen Werdegangs, wobei die ethnographischen,
die nationalen und die religiösen Verhältnisse einen mächtigen und wechsel¬
vollen Einschlag bilden. Selbstverständlich kann es hier nicht die Aufgabe
sein, die Geschichte der Balkanhalbinsel zu erzählen. Es genügt, daran zu
erinnern, daß wir von den ethnographischen Verhältnissen des Altertums nicht
allzuviel wissen. In voller Klarheit hebt sich das Griechenvolk von dem dunkeln
Hintergrunde ab. Schon von den Mazedoniern fühlte es sich deutlich ge¬
sondert. Wie weit diese mit Thrakern und andern zwischen der Donau und
dem Ägüischen Meere wohnenden Völkern in Blutsverwandtschaft standen, ist
nicht sicher. Indogermanen sind sie nach neuerer Annahme gewesen. Sogar
von den Jllyrikern ist dies jetzt nachgewiesen, zugleich aber auch, daß sie ein
ganz besondrer Ast der großen Völkerfamilie sind und mit Gräkoitalikern,
Kelten, Germanen, Slawen nichts gemein haben. Alle ältern Balkanvölker
hat die griechische Kultur aus der Nacht der Barbarei emporgezogen. Aber
während Alexanders Heere die griechische Bildung bis an den Tigris trugen,
kam seine eigne Heimat nicht dazu, sich völlig zu grcizisieren. Noch weniger
verschmolzen sich die übrigen Völker mit dem Griechentum. Die Römer
kolonisierten und romanisierten später Dakien, das heutige Rumänien. Wie
eigentlich der Wildling beschaffen war, auf den das romanische Reis gepfropft
wurde, ist noch wenig geklärt. Am nächsten liegt es, an Verwandtschaft mit
Thrakern zu denken.

Die germanische Flut ist nur über das Land dahin gebraust; erkennbare
Spuren haben die Goten usw. nicht zurückgelassen. Desto mehr die Slawe".


Grenzboten IV 1908 22


Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

!le Tagesblätter eilen mit Berichten über die Begebenheiten
voraus. Der Vorzug einer Wochenschrift ist, daß sie mit Ruhe
nachholen kann, was jenen in ihrer Hast unmöglich ist. Was
man seit beinahe einem Jahrhundert die orientalische Frage
I nennt, das hat seinen Ursprung in dem unendlich mannigfaltig
verschlungnen Netz des geschichtlichen Werdegangs, wobei die ethnographischen,
die nationalen und die religiösen Verhältnisse einen mächtigen und wechsel¬
vollen Einschlag bilden. Selbstverständlich kann es hier nicht die Aufgabe
sein, die Geschichte der Balkanhalbinsel zu erzählen. Es genügt, daran zu
erinnern, daß wir von den ethnographischen Verhältnissen des Altertums nicht
allzuviel wissen. In voller Klarheit hebt sich das Griechenvolk von dem dunkeln
Hintergrunde ab. Schon von den Mazedoniern fühlte es sich deutlich ge¬
sondert. Wie weit diese mit Thrakern und andern zwischen der Donau und
dem Ägüischen Meere wohnenden Völkern in Blutsverwandtschaft standen, ist
nicht sicher. Indogermanen sind sie nach neuerer Annahme gewesen. Sogar
von den Jllyrikern ist dies jetzt nachgewiesen, zugleich aber auch, daß sie ein
ganz besondrer Ast der großen Völkerfamilie sind und mit Gräkoitalikern,
Kelten, Germanen, Slawen nichts gemein haben. Alle ältern Balkanvölker
hat die griechische Kultur aus der Nacht der Barbarei emporgezogen. Aber
während Alexanders Heere die griechische Bildung bis an den Tigris trugen,
kam seine eigne Heimat nicht dazu, sich völlig zu grcizisieren. Noch weniger
verschmolzen sich die übrigen Völker mit dem Griechentum. Die Römer
kolonisierten und romanisierten später Dakien, das heutige Rumänien. Wie
eigentlich der Wildling beschaffen war, auf den das romanische Reis gepfropft
wurde, ist noch wenig geklärt. Am nächsten liegt es, an Verwandtschaft mit
Thrakern zu denken.

Die germanische Flut ist nur über das Land dahin gebraust; erkennbare
Spuren haben die Goten usw. nicht zurückgelassen. Desto mehr die Slawe».


Grenzboten IV 1908 22
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[0165] [Abbildung] Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt !le Tagesblätter eilen mit Berichten über die Begebenheiten voraus. Der Vorzug einer Wochenschrift ist, daß sie mit Ruhe nachholen kann, was jenen in ihrer Hast unmöglich ist. Was man seit beinahe einem Jahrhundert die orientalische Frage I nennt, das hat seinen Ursprung in dem unendlich mannigfaltig verschlungnen Netz des geschichtlichen Werdegangs, wobei die ethnographischen, die nationalen und die religiösen Verhältnisse einen mächtigen und wechsel¬ vollen Einschlag bilden. Selbstverständlich kann es hier nicht die Aufgabe sein, die Geschichte der Balkanhalbinsel zu erzählen. Es genügt, daran zu erinnern, daß wir von den ethnographischen Verhältnissen des Altertums nicht allzuviel wissen. In voller Klarheit hebt sich das Griechenvolk von dem dunkeln Hintergrunde ab. Schon von den Mazedoniern fühlte es sich deutlich ge¬ sondert. Wie weit diese mit Thrakern und andern zwischen der Donau und dem Ägüischen Meere wohnenden Völkern in Blutsverwandtschaft standen, ist nicht sicher. Indogermanen sind sie nach neuerer Annahme gewesen. Sogar von den Jllyrikern ist dies jetzt nachgewiesen, zugleich aber auch, daß sie ein ganz besondrer Ast der großen Völkerfamilie sind und mit Gräkoitalikern, Kelten, Germanen, Slawen nichts gemein haben. Alle ältern Balkanvölker hat die griechische Kultur aus der Nacht der Barbarei emporgezogen. Aber während Alexanders Heere die griechische Bildung bis an den Tigris trugen, kam seine eigne Heimat nicht dazu, sich völlig zu grcizisieren. Noch weniger verschmolzen sich die übrigen Völker mit dem Griechentum. Die Römer kolonisierten und romanisierten später Dakien, das heutige Rumänien. Wie eigentlich der Wildling beschaffen war, auf den das romanische Reis gepfropft wurde, ist noch wenig geklärt. Am nächsten liegt es, an Verwandtschaft mit Thrakern zu denken. Die germanische Flut ist nur über das Land dahin gebraust; erkennbare Spuren haben die Goten usw. nicht zurückgelassen. Desto mehr die Slawe». Grenzboten IV 1908 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/165>, abgerufen am 24.08.2024.