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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Kunstgenuß auf Reisen

MHW?/!es habe immer befürchtet, mein Kunstgenuß könnte auf Reisen
zu kurz kommen! Ungefähr 350 Museumszimmer habe ich in
jeder Stadt durchgerannt, hier waren es mehr, dort weniger, alle
meine Taschen sind vollgestopft mit Reisehandbüchern, unaufhörlich
! habe ich meine Nase ins Buch gesteckt, habe alle Katalognuinmern
gelesen, alle Anmerkungen, die im Baedeker, im Burckhardt, im Gsell-Fels usw.
stehn. In meinem Kopf gehts um wie ein Mühlenrad, und nun frage ich,
habe ich für meinen "Kunstgenuß" alles Nötige getan, oder gibt es vielleicht
noch ein Buch, noch ein Rezept, um mir noch eine stärkere Dosis Genuß zu
verschreiben? Ich schleppe ganze Bücherladungcn mit, die sollen mir, bitte, auf
Reisen alles bedeuten, oder sollten sie nicht?

Sie bedeuten nichts. Jahrzehntelang sind die Menschen mit den dicken
roten Büchern in der Hand den bekannten Sternchen nachgejagt, kunstblind und
naturblind, und sie sind schließlich von weiten Reisen ebenso kunstblind und
naturblind wieder heimgekehrt, wie sie ausgegangen waren. Erst jetzt fängt
man zu merken an, daß die Menschheit an zahllosen Schönheiten, die sich überall
auftun daheim und in der Ferne, auf allen Wanderungen im Dorf und in der
Stadt, ahnungslos vorübergehastet ist, an Schönheiten, die zwar wegen ihrer
Schlichtheit unauffällig und anspruchslos sind, aber für unser Leben, für unsre
Kunst unendlich mehr bedeuten als die atemlos durchrannten 350 Museums¬
zimmer jeder sogenannten Kunststadt. Volkstümliche Baukunst oder heimische
Baukunst ist die Entdeckung der jüngsten Jahre. Die Bewegung des Heimat-
schutzcs ist davon abgeleitet, und ein neuer Vaugedanke, die heimische Bauweise,
die schon durch das Wort den beabsichtigten Anschluß an die heimatliche Über¬
lieferung, die Rückkehr zu ausdrucksvoller Schlichtheit, zum Altbürgerlicheu,
Landkinder, Bauerkinder andeutet. Bewußt oder unbewußt folgt diese heilsame
Bewegung einem Anstoß, den England schon fünfzig Jahre vorher gegeben hatte,
und der durch die Lehren John Ruskins entstanden, in dem Schaffen eines
hochentwickelten Architekteugeschlechtes auf der Grundlage anglosüchsischcr Über¬
lieferung hervortritt. Die bürgerliche Bauweise auf dem offnen Lande ist in
England im wahren Sinne des Wortes volkstümlich. Auch in der Malerei
ist diese Bewegung maßgebend für die Lokalisierung der Landschaftskunst ge¬
worden, und wir haben ganze Schulen, die in der liebevollen Schilderung der
Heimat unermüdlich sind. Ja es ist uns sogar klar geworden, daß der Maler
von der Luft der Heimat und der Art des Lichtes in seinem Sehen wesentlich
bestimmt ist, und daß der Maler des Nordens, der sich einfallen ließe, Spanien




Kunstgenuß auf Reisen

MHW?/!es habe immer befürchtet, mein Kunstgenuß könnte auf Reisen
zu kurz kommen! Ungefähr 350 Museumszimmer habe ich in
jeder Stadt durchgerannt, hier waren es mehr, dort weniger, alle
meine Taschen sind vollgestopft mit Reisehandbüchern, unaufhörlich
! habe ich meine Nase ins Buch gesteckt, habe alle Katalognuinmern
gelesen, alle Anmerkungen, die im Baedeker, im Burckhardt, im Gsell-Fels usw.
stehn. In meinem Kopf gehts um wie ein Mühlenrad, und nun frage ich,
habe ich für meinen „Kunstgenuß" alles Nötige getan, oder gibt es vielleicht
noch ein Buch, noch ein Rezept, um mir noch eine stärkere Dosis Genuß zu
verschreiben? Ich schleppe ganze Bücherladungcn mit, die sollen mir, bitte, auf
Reisen alles bedeuten, oder sollten sie nicht?

Sie bedeuten nichts. Jahrzehntelang sind die Menschen mit den dicken
roten Büchern in der Hand den bekannten Sternchen nachgejagt, kunstblind und
naturblind, und sie sind schließlich von weiten Reisen ebenso kunstblind und
naturblind wieder heimgekehrt, wie sie ausgegangen waren. Erst jetzt fängt
man zu merken an, daß die Menschheit an zahllosen Schönheiten, die sich überall
auftun daheim und in der Ferne, auf allen Wanderungen im Dorf und in der
Stadt, ahnungslos vorübergehastet ist, an Schönheiten, die zwar wegen ihrer
Schlichtheit unauffällig und anspruchslos sind, aber für unser Leben, für unsre
Kunst unendlich mehr bedeuten als die atemlos durchrannten 350 Museums¬
zimmer jeder sogenannten Kunststadt. Volkstümliche Baukunst oder heimische
Baukunst ist die Entdeckung der jüngsten Jahre. Die Bewegung des Heimat-
schutzcs ist davon abgeleitet, und ein neuer Vaugedanke, die heimische Bauweise,
die schon durch das Wort den beabsichtigten Anschluß an die heimatliche Über¬
lieferung, die Rückkehr zu ausdrucksvoller Schlichtheit, zum Altbürgerlicheu,
Landkinder, Bauerkinder andeutet. Bewußt oder unbewußt folgt diese heilsame
Bewegung einem Anstoß, den England schon fünfzig Jahre vorher gegeben hatte,
und der durch die Lehren John Ruskins entstanden, in dem Schaffen eines
hochentwickelten Architekteugeschlechtes auf der Grundlage anglosüchsischcr Über¬
lieferung hervortritt. Die bürgerliche Bauweise auf dem offnen Lande ist in
England im wahren Sinne des Wortes volkstümlich. Auch in der Malerei
ist diese Bewegung maßgebend für die Lokalisierung der Landschaftskunst ge¬
worden, und wir haben ganze Schulen, die in der liebevollen Schilderung der
Heimat unermüdlich sind. Ja es ist uns sogar klar geworden, daß der Maler
von der Luft der Heimat und der Art des Lichtes in seinem Sehen wesentlich
bestimmt ist, und daß der Maler des Nordens, der sich einfallen ließe, Spanien


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[0562] [Abbildung] Kunstgenuß auf Reisen MHW?/!es habe immer befürchtet, mein Kunstgenuß könnte auf Reisen zu kurz kommen! Ungefähr 350 Museumszimmer habe ich in jeder Stadt durchgerannt, hier waren es mehr, dort weniger, alle meine Taschen sind vollgestopft mit Reisehandbüchern, unaufhörlich ! habe ich meine Nase ins Buch gesteckt, habe alle Katalognuinmern gelesen, alle Anmerkungen, die im Baedeker, im Burckhardt, im Gsell-Fels usw. stehn. In meinem Kopf gehts um wie ein Mühlenrad, und nun frage ich, habe ich für meinen „Kunstgenuß" alles Nötige getan, oder gibt es vielleicht noch ein Buch, noch ein Rezept, um mir noch eine stärkere Dosis Genuß zu verschreiben? Ich schleppe ganze Bücherladungcn mit, die sollen mir, bitte, auf Reisen alles bedeuten, oder sollten sie nicht? Sie bedeuten nichts. Jahrzehntelang sind die Menschen mit den dicken roten Büchern in der Hand den bekannten Sternchen nachgejagt, kunstblind und naturblind, und sie sind schließlich von weiten Reisen ebenso kunstblind und naturblind wieder heimgekehrt, wie sie ausgegangen waren. Erst jetzt fängt man zu merken an, daß die Menschheit an zahllosen Schönheiten, die sich überall auftun daheim und in der Ferne, auf allen Wanderungen im Dorf und in der Stadt, ahnungslos vorübergehastet ist, an Schönheiten, die zwar wegen ihrer Schlichtheit unauffällig und anspruchslos sind, aber für unser Leben, für unsre Kunst unendlich mehr bedeuten als die atemlos durchrannten 350 Museums¬ zimmer jeder sogenannten Kunststadt. Volkstümliche Baukunst oder heimische Baukunst ist die Entdeckung der jüngsten Jahre. Die Bewegung des Heimat- schutzcs ist davon abgeleitet, und ein neuer Vaugedanke, die heimische Bauweise, die schon durch das Wort den beabsichtigten Anschluß an die heimatliche Über¬ lieferung, die Rückkehr zu ausdrucksvoller Schlichtheit, zum Altbürgerlicheu, Landkinder, Bauerkinder andeutet. Bewußt oder unbewußt folgt diese heilsame Bewegung einem Anstoß, den England schon fünfzig Jahre vorher gegeben hatte, und der durch die Lehren John Ruskins entstanden, in dem Schaffen eines hochentwickelten Architekteugeschlechtes auf der Grundlage anglosüchsischcr Über¬ lieferung hervortritt. Die bürgerliche Bauweise auf dem offnen Lande ist in England im wahren Sinne des Wortes volkstümlich. Auch in der Malerei ist diese Bewegung maßgebend für die Lokalisierung der Landschaftskunst ge¬ worden, und wir haben ganze Schulen, die in der liebevollen Schilderung der Heimat unermüdlich sind. Ja es ist uns sogar klar geworden, daß der Maler von der Luft der Heimat und der Art des Lichtes in seinem Sehen wesentlich bestimmt ist, und daß der Maler des Nordens, der sich einfallen ließe, Spanien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/562>, abgerufen am 05.02.2025.