Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Jetzt gleich packst du sie zusammen, oder ich werfe sie auf die Straße!

Vassilis begann nun, seine Kleider nacheinander zusanimenzupacke", während
aus seinen Augen dicke, brennende Trauer rollten. Dann schlug er, mit seinem
Bündelchen beladen, den Weg nach seinem Dorfe ein. Niemand sprach mit ihm,
niemand war zur Stelle, um sich von ihm zu verabschieden.

Es war ein trüber Frosttag. Der Nordwind schüttelte heftig die Blätter der
Bäume und verbreitete kalten Schauder. Wie er so gesenkten Kopfes dahinging,
zog die ganze Vergangenheit mit ihrer Trübsal und ihrer Bitternis vor ihm vorüber.
Ein gequältes Leben. Gebrandmarkt mit dem Stempel des Unglücks, war er in
die Welt getreten. Keine Freude hatte er gekostet. Er dachte an den Tod seines
Vaters, er dachte an den Tag, wo er in das Dorf ging, Almosen von seinem
Onkel zu erbetteln. Wie sollte er ihm jetzt vor Angen treten, was sollte er
ihm sagen?




Es verging einige Zeit. Eines Tages begegneten sich der alte Paul und
Frau Kvstcmtina auf dem Markte. Sie begrüßten sich und reichten sich die Hand.

Nun, was macht denn dein gescheiter Neffe? Und der alte Paul erwiderte
bekümmert:

Jetzt fragst du? Der hat ja schon vor zwei Monaten das Zeitliche gesegnet.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Die englischen Journalisten in Deutschland. Die Regenten¬
wahl in Braunschweig. Die Reform der Eisenbahntarife. Der konservativ-liberale
Block im Reichstage und die Reaktion in Preußen. Die neuernannten Kolonial¬
beamten.)

Seit Anfang dieser Woche sind die englischen Journalisten, die den Besuch
ihrer deutschen Kollegen erwidern wollen, auf deutschem Boden, und sie sind in
Bremen, Hamburg, Berlin, Dresden und München mit derselben glänzenden Gast¬
freundschaft aufgegenommen worden, die unsre Landsleute in England gefunden
haben; sie werden diese auch in Frankfurt und Köln erfahren Solche Massen-
reisen sind ein ganz modernes Mittel, die Völker einander innerlich naher zu bringen.
In diesem Falle handelt es sich uicht sowohl darum, die Engländer von unsern
raschen wirtschaftlichen Fortschritten zu überzeugen - die sind augenfällig ""d nicht
geeignet, ihre Sorgen um unsre Konkurrenz zu beschwichtigen -, als vielmehr
darum, ihnen zu beweisen, daß die Deutschen ein starkes aber ein fri^ durch¬
aus nicht angriffslustiges Volk sind, und daß die deutsche Politik nicht der Storeufr.ed
Europas ist. als der sie im Auslande so häufig aufgeschrien wird Programmatisch
war dabei vor allem die sorgfältig vorbereitete wohlüberlegte Rede des Unter¬
staatssekretärs im Auswärtigen Amt Dr. von Mühlberg, die dieses Thema besand^
Er wies nach, daß unsre gewaltige Landarmee nicht zum Angriff geschaffen e.
sondern den schlimmsten geschichtlichen Erfahrungen aus den Zeiten entsprungen sei
w° Deutschland jahr under M der bevorzugt- Kriegsschauplatz Europas war daß
sie zur Verteidigung bestimmt sei. und daß "nsre Flotte in den ihr gesteckten
"'°ßigen GrenzeZ niemand, am wenigsten England bedrohe, sondern nur unsre
K'ihter und unsern Handel schützen solle. Jeden Gedanken an "Expansion" lehnte


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Jetzt gleich packst du sie zusammen, oder ich werfe sie auf die Straße!

Vassilis begann nun, seine Kleider nacheinander zusanimenzupacke», während
aus seinen Augen dicke, brennende Trauer rollten. Dann schlug er, mit seinem
Bündelchen beladen, den Weg nach seinem Dorfe ein. Niemand sprach mit ihm,
niemand war zur Stelle, um sich von ihm zu verabschieden.

Es war ein trüber Frosttag. Der Nordwind schüttelte heftig die Blätter der
Bäume und verbreitete kalten Schauder. Wie er so gesenkten Kopfes dahinging,
zog die ganze Vergangenheit mit ihrer Trübsal und ihrer Bitternis vor ihm vorüber.
Ein gequältes Leben. Gebrandmarkt mit dem Stempel des Unglücks, war er in
die Welt getreten. Keine Freude hatte er gekostet. Er dachte an den Tod seines
Vaters, er dachte an den Tag, wo er in das Dorf ging, Almosen von seinem
Onkel zu erbetteln. Wie sollte er ihm jetzt vor Angen treten, was sollte er
ihm sagen?




Es verging einige Zeit. Eines Tages begegneten sich der alte Paul und
Frau Kvstcmtina auf dem Markte. Sie begrüßten sich und reichten sich die Hand.

Nun, was macht denn dein gescheiter Neffe? Und der alte Paul erwiderte
bekümmert:

Jetzt fragst du? Der hat ja schon vor zwei Monaten das Zeitliche gesegnet.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Die englischen Journalisten in Deutschland. Die Regenten¬
wahl in Braunschweig. Die Reform der Eisenbahntarife. Der konservativ-liberale
Block im Reichstage und die Reaktion in Preußen. Die neuernannten Kolonial¬
beamten.)

Seit Anfang dieser Woche sind die englischen Journalisten, die den Besuch
ihrer deutschen Kollegen erwidern wollen, auf deutschem Boden, und sie sind in
Bremen, Hamburg, Berlin, Dresden und München mit derselben glänzenden Gast¬
freundschaft aufgegenommen worden, die unsre Landsleute in England gefunden
haben; sie werden diese auch in Frankfurt und Köln erfahren Solche Massen-
reisen sind ein ganz modernes Mittel, die Völker einander innerlich naher zu bringen.
In diesem Falle handelt es sich uicht sowohl darum, die Engländer von unsern
raschen wirtschaftlichen Fortschritten zu überzeugen - die sind augenfällig »"d nicht
geeignet, ihre Sorgen um unsre Konkurrenz zu beschwichtigen -, als vielmehr
darum, ihnen zu beweisen, daß die Deutschen ein starkes aber ein fri^ durch¬
aus nicht angriffslustiges Volk sind, und daß die deutsche Politik nicht der Storeufr.ed
Europas ist. als der sie im Auslande so häufig aufgeschrien wird Programmatisch
war dabei vor allem die sorgfältig vorbereitete wohlüberlegte Rede des Unter¬
staatssekretärs im Auswärtigen Amt Dr. von Mühlberg, die dieses Thema besand^
Er wies nach, daß unsre gewaltige Landarmee nicht zum Angriff geschaffen e.
sondern den schlimmsten geschichtlichen Erfahrungen aus den Zeiten entsprungen sei
w° Deutschland jahr under M der bevorzugt- Kriegsschauplatz Europas war daß
sie zur Verteidigung bestimmt sei. und daß »nsre Flotte in den ihr gesteckten
"'°ßigen GrenzeZ niemand, am wenigsten England bedrohe, sondern nur unsre
K'ihter und unsern Handel schützen solle. Jeden Gedanken an „Expansion" lehnte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0539" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302527"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2351"> Jetzt gleich packst du sie zusammen, oder ich werfe sie auf die Straße!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2352"> Vassilis begann nun, seine Kleider nacheinander zusanimenzupacke», während<lb/>
aus seinen Augen dicke, brennende Trauer rollten. Dann schlug er, mit seinem<lb/>
Bündelchen beladen, den Weg nach seinem Dorfe ein. Niemand sprach mit ihm,<lb/>
niemand war zur Stelle, um sich von ihm zu verabschieden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2353"> Es war ein trüber Frosttag. Der Nordwind schüttelte heftig die Blätter der<lb/>
Bäume und verbreitete kalten Schauder. Wie er so gesenkten Kopfes dahinging,<lb/>
zog die ganze Vergangenheit mit ihrer Trübsal und ihrer Bitternis vor ihm vorüber.<lb/>
Ein gequältes Leben. Gebrandmarkt mit dem Stempel des Unglücks, war er in<lb/>
die Welt getreten. Keine Freude hatte er gekostet. Er dachte an den Tod seines<lb/>
Vaters, er dachte an den Tag, wo er in das Dorf ging, Almosen von seinem<lb/>
Onkel zu erbetteln. Wie sollte er ihm jetzt vor Angen treten, was sollte er<lb/>
ihm sagen?</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2354"> Es verging einige Zeit. Eines Tages begegneten sich der alte Paul und<lb/>
Frau Kvstcmtina auf dem Markte. Sie begrüßten sich und reichten sich die Hand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2355"> Nun, was macht denn dein gescheiter Neffe? Und der alte Paul erwiderte<lb/>
bekümmert:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2356"> Jetzt fragst du? Der hat ja schon vor zwei Monaten das Zeitliche gesegnet.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Reichsspiegel.</head><lb/>
            <note type="argument"> (Die englischen Journalisten in Deutschland. Die Regenten¬</note><lb/>
            <note type="argument"> wahl in Braunschweig. Die Reform der Eisenbahntarife. Der konservativ-liberale<lb/>
Block im Reichstage und die Reaktion in Preußen. Die neuernannten Kolonial¬<lb/>
beamten.)</note><lb/>
            <p xml:id="ID_2357" next="#ID_2358"> Seit Anfang dieser Woche sind die englischen Journalisten, die den Besuch<lb/>
ihrer deutschen Kollegen erwidern wollen, auf deutschem Boden, und sie sind in<lb/>
Bremen, Hamburg, Berlin, Dresden und München mit derselben glänzenden Gast¬<lb/>
freundschaft aufgegenommen worden, die unsre Landsleute in England gefunden<lb/>
haben; sie werden diese auch in Frankfurt und Köln erfahren  Solche Massen-<lb/>
reisen sind ein ganz modernes Mittel, die Völker einander innerlich naher zu bringen.<lb/>
In diesem Falle handelt es sich uicht sowohl darum, die Engländer von unsern<lb/>
raschen wirtschaftlichen Fortschritten zu überzeugen - die sind augenfällig »"d nicht<lb/>
geeignet, ihre Sorgen um unsre Konkurrenz zu beschwichtigen -, als vielmehr<lb/>
darum, ihnen zu beweisen, daß die Deutschen ein starkes aber ein fri^ durch¬<lb/>
aus nicht angriffslustiges Volk sind, und daß die deutsche Politik nicht der Storeufr.ed<lb/>
Europas ist. als der sie im Auslande so häufig aufgeschrien wird Programmatisch<lb/>
war dabei vor allem die sorgfältig vorbereitete wohlüberlegte Rede des Unter¬<lb/>
staatssekretärs im Auswärtigen Amt Dr. von Mühlberg, die dieses Thema besand^<lb/>
Er wies nach, daß unsre gewaltige Landarmee nicht zum Angriff geschaffen e.<lb/>
sondern den schlimmsten geschichtlichen Erfahrungen aus den Zeiten entsprungen sei<lb/>
w° Deutschland jahr under M  der bevorzugt- Kriegsschauplatz Europas war daß<lb/>
sie zur Verteidigung bestimmt sei. und daß »nsre Flotte in den ihr gesteckten<lb/>
"'°ßigen GrenzeZ niemand, am wenigsten England bedrohe, sondern nur unsre<lb/>
K'ihter und unsern Handel schützen solle. Jeden Gedanken an &#x201E;Expansion" lehnte</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0539] Maßgebliches und Unmaßgebliches Jetzt gleich packst du sie zusammen, oder ich werfe sie auf die Straße! Vassilis begann nun, seine Kleider nacheinander zusanimenzupacke», während aus seinen Augen dicke, brennende Trauer rollten. Dann schlug er, mit seinem Bündelchen beladen, den Weg nach seinem Dorfe ein. Niemand sprach mit ihm, niemand war zur Stelle, um sich von ihm zu verabschieden. Es war ein trüber Frosttag. Der Nordwind schüttelte heftig die Blätter der Bäume und verbreitete kalten Schauder. Wie er so gesenkten Kopfes dahinging, zog die ganze Vergangenheit mit ihrer Trübsal und ihrer Bitternis vor ihm vorüber. Ein gequältes Leben. Gebrandmarkt mit dem Stempel des Unglücks, war er in die Welt getreten. Keine Freude hatte er gekostet. Er dachte an den Tod seines Vaters, er dachte an den Tag, wo er in das Dorf ging, Almosen von seinem Onkel zu erbetteln. Wie sollte er ihm jetzt vor Angen treten, was sollte er ihm sagen? Es verging einige Zeit. Eines Tages begegneten sich der alte Paul und Frau Kvstcmtina auf dem Markte. Sie begrüßten sich und reichten sich die Hand. Nun, was macht denn dein gescheiter Neffe? Und der alte Paul erwiderte bekümmert: Jetzt fragst du? Der hat ja schon vor zwei Monaten das Zeitliche gesegnet. Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Die englischen Journalisten in Deutschland. Die Regenten¬ wahl in Braunschweig. Die Reform der Eisenbahntarife. Der konservativ-liberale Block im Reichstage und die Reaktion in Preußen. Die neuernannten Kolonial¬ beamten.) Seit Anfang dieser Woche sind die englischen Journalisten, die den Besuch ihrer deutschen Kollegen erwidern wollen, auf deutschem Boden, und sie sind in Bremen, Hamburg, Berlin, Dresden und München mit derselben glänzenden Gast¬ freundschaft aufgegenommen worden, die unsre Landsleute in England gefunden haben; sie werden diese auch in Frankfurt und Köln erfahren Solche Massen- reisen sind ein ganz modernes Mittel, die Völker einander innerlich naher zu bringen. In diesem Falle handelt es sich uicht sowohl darum, die Engländer von unsern raschen wirtschaftlichen Fortschritten zu überzeugen - die sind augenfällig »"d nicht geeignet, ihre Sorgen um unsre Konkurrenz zu beschwichtigen -, als vielmehr darum, ihnen zu beweisen, daß die Deutschen ein starkes aber ein fri^ durch¬ aus nicht angriffslustiges Volk sind, und daß die deutsche Politik nicht der Storeufr.ed Europas ist. als der sie im Auslande so häufig aufgeschrien wird Programmatisch war dabei vor allem die sorgfältig vorbereitete wohlüberlegte Rede des Unter¬ staatssekretärs im Auswärtigen Amt Dr. von Mühlberg, die dieses Thema besand^ Er wies nach, daß unsre gewaltige Landarmee nicht zum Angriff geschaffen e. sondern den schlimmsten geschichtlichen Erfahrungen aus den Zeiten entsprungen sei w° Deutschland jahr under M der bevorzugt- Kriegsschauplatz Europas war daß sie zur Verteidigung bestimmt sei. und daß »nsre Flotte in den ihr gesteckten "'°ßigen GrenzeZ niemand, am wenigsten England bedrohe, sondern nur unsre K'ihter und unsern Handel schützen solle. Jeden Gedanken an „Expansion" lehnte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/539
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/539>, abgerufen am 05.02.2025.