Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Instinkt der Selbsterhciltung eingegebne "Flucht nach vorwärts" sei; vergeblich ist Maßgebliches und Unmaßgebliches Instinkt der Selbsterhciltung eingegebne „Flucht nach vorwärts" sei; vergeblich ist <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0444" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302432"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1887" prev="#ID_1886"> Instinkt der Selbsterhciltung eingegebne „Flucht nach vorwärts" sei; vergeblich ist<lb/> Dingleys Besuch auf dem Transportdampfer Vulture mit den heimwehkranken<lb/> Männern und den Pferden in ihren ekelerregenden Ständen: fangen doch dieselben<lb/> Männer an, seine eignen Kriegslieder zu singen! Daß Jerome und Jean Tharaud<lb/> Franzosen sind, merkt man an dem Einfluß, den in ihrem Roman ein Hindu-<lb/> mädchen, das Dingley früher aus einer Opiumhöhle aus Kalkutta weggenommen<lb/> hatte, auf den illustrs Sorivain ausübt; sie rezitiert ihm Legenden aus der Früh¬<lb/> zeit der Menschheit in hieratischen Posen und feierlichem Schmuck und facht damit<lb/> die ideale Flamme an, die die Schatten der Wirklichkeit auslöscht. Die Begegnung<lb/> mit einer großen englischen Schlachtschiffflotte macht Dingley vollständig zum Herold<lb/> von Englands Macht und Stärke. Von der Kapstadt eilt Dingley nach der Front,<lb/> während Frau und Söhnchen in einer Familie von Afrikandern bleiben, in der<lb/> die Großmutter, eine Kap-Pionierin, innerlich die eroberungssüchtigen Engländer<lb/> haßt, der Vater ein loyaler Untertan der Königin von England ist, während der<lb/> Sohn, der in Oxford studiert hat, auf der Seite der Buren kämpft. Der kleine<lb/> Dingley wird von den Miasmen der Konzentrationslager — wir hatten diese<lb/> Schreckenslager schon vergessen; sonst hätten wohl selbst die Sozialdemokraten den<lb/> Tod von 1200 Hottentotten in einem solchen nicht als Anklagepunkt aufnehmen<lb/> können, 5 1a ZuMi's ooillwiz ä 1a. Anerrs — schwer krank; und der Dichter kann dank<lb/> demi Afrikandersohn, der ihn zum Gefangnen gemacht hatte, rechtzeitig an das Kranken¬<lb/> lager seines Kindes zurückkehren. Ganz in Goncourtschem naturalistischem Stil ist die<lb/> furchtbare Nacht geschildert, in der Dingley in Todesängsten in Bloemfontein auf<lb/> Weiterbeförderung warten muß. Das Söhnchen stirbt, Dingley fällt noch tiefer in<lb/> die Arme des Imperialismus, während sein Weib untröstlich allein bleibt. Der<lb/> Afrikandersohn wird mit den Waffen in der Hand von den Engländern gefangen ge¬<lb/> nommen: aber nicht die flehentlichen Bitten der Großmutter und des Vaters noch<lb/> die des eignen Weibes, auch nicht die Erinnerung an die ihm im eignen Mißgeschick<lb/> erwiesne Wohltat können Dingley bewegen, für das Leben des Gefangnen seinen<lb/> Einfluß in die Schale zu werfen: der imperialistische Moloch darf feines Opfers<lb/> nicht beraubt werden. Dingley kehrt später nach London zurück; und vor dem<lb/> Kinematographen, der die Exekutionsszene zeigt, in der sein Wohltäter erschossen wird,<lb/> beweist der betäubende Applaus der Briten dem Imperialisten, daß er nun wirklich<lb/><note type="byline"> M.</note> der erste Romancier im und ganz nach dem Herzen seiner Landsleute ist. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> <div> <floatingText> <body> <div type="advertisement"> <p/> </div> </body> </floatingText> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0444]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Instinkt der Selbsterhciltung eingegebne „Flucht nach vorwärts" sei; vergeblich ist
Dingleys Besuch auf dem Transportdampfer Vulture mit den heimwehkranken
Männern und den Pferden in ihren ekelerregenden Ständen: fangen doch dieselben
Männer an, seine eignen Kriegslieder zu singen! Daß Jerome und Jean Tharaud
Franzosen sind, merkt man an dem Einfluß, den in ihrem Roman ein Hindu-
mädchen, das Dingley früher aus einer Opiumhöhle aus Kalkutta weggenommen
hatte, auf den illustrs Sorivain ausübt; sie rezitiert ihm Legenden aus der Früh¬
zeit der Menschheit in hieratischen Posen und feierlichem Schmuck und facht damit
die ideale Flamme an, die die Schatten der Wirklichkeit auslöscht. Die Begegnung
mit einer großen englischen Schlachtschiffflotte macht Dingley vollständig zum Herold
von Englands Macht und Stärke. Von der Kapstadt eilt Dingley nach der Front,
während Frau und Söhnchen in einer Familie von Afrikandern bleiben, in der
die Großmutter, eine Kap-Pionierin, innerlich die eroberungssüchtigen Engländer
haßt, der Vater ein loyaler Untertan der Königin von England ist, während der
Sohn, der in Oxford studiert hat, auf der Seite der Buren kämpft. Der kleine
Dingley wird von den Miasmen der Konzentrationslager — wir hatten diese
Schreckenslager schon vergessen; sonst hätten wohl selbst die Sozialdemokraten den
Tod von 1200 Hottentotten in einem solchen nicht als Anklagepunkt aufnehmen
können, 5 1a ZuMi's ooillwiz ä 1a. Anerrs — schwer krank; und der Dichter kann dank
demi Afrikandersohn, der ihn zum Gefangnen gemacht hatte, rechtzeitig an das Kranken¬
lager seines Kindes zurückkehren. Ganz in Goncourtschem naturalistischem Stil ist die
furchtbare Nacht geschildert, in der Dingley in Todesängsten in Bloemfontein auf
Weiterbeförderung warten muß. Das Söhnchen stirbt, Dingley fällt noch tiefer in
die Arme des Imperialismus, während sein Weib untröstlich allein bleibt. Der
Afrikandersohn wird mit den Waffen in der Hand von den Engländern gefangen ge¬
nommen: aber nicht die flehentlichen Bitten der Großmutter und des Vaters noch
die des eignen Weibes, auch nicht die Erinnerung an die ihm im eignen Mißgeschick
erwiesne Wohltat können Dingley bewegen, für das Leben des Gefangnen seinen
Einfluß in die Schale zu werfen: der imperialistische Moloch darf feines Opfers
nicht beraubt werden. Dingley kehrt später nach London zurück; und vor dem
Kinematographen, der die Exekutionsszene zeigt, in der sein Wohltäter erschossen wird,
beweist der betäubende Applaus der Briten dem Imperialisten, daß er nun wirklich
M. der erste Romancier im und ganz nach dem Herzen seiner Landsleute ist.
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