Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches im eignen Lager zu beschwichtigen, und die Freikonservativen sagen sich vielleicht, Ein Dichter in der Bluse. Von dem Arbeiter Fischer, dem vor drei Maßgebliches und Unmaßgebliches im eignen Lager zu beschwichtigen, und die Freikonservativen sagen sich vielleicht, Ein Dichter in der Bluse. Von dem Arbeiter Fischer, dem vor drei <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302264"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1228" prev="#ID_1227"> im eignen Lager zu beschwichtigen, und die Freikonservativen sagen sich vielleicht,<lb/> daß sie bei ihrer bekannten Stellung zur Schulfrage gut tun, die Liberalen nicht<lb/> allein zu lassen, um etwaige Folgen für den nationalen Block im Reichstage nicht<lb/> zu verschärfen. Immerhin würde das ganze Vorgehen wirksamer sein, wenn man<lb/> sich noch etwas geduldete. Herr von Stube hat die feste Absicht, sich bald zurück¬<lb/> zuziehen. Einem neuen Kultusminister gegenüber würde man die Frage nachdrück¬<lb/> licher und aussichtsvoller behandeln können. Und bis dahin würde auch die Reichs¬<lb/> politik bereits besser konsolidiert sein. Doch über diese Frage wird später noch<lb/> häufiger zu reden sein</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="2"> <head> Ein Dichter in der Bluse.</head> <p xml:id="ID_1229"> Von dem Arbeiter Fischer, dem vor drei<lb/> Jahren Paul Göhre in die Öffentlichkeit geholfen hat, sagten wir, daß er sich des<lb/> ersten Erfordernisses eines Dichters erfreue; sein Hirn sei ein guter photographischer<lb/> Apparat, der alle Eindrücke scharf aufnehme und treu festhalte. In ungelenken<lb/> Worten vermöge er diese dann wiederzugeben Dem Deutschamerikaner Hugo<lb/> Bertsch ist außer der Eindrucksfähigkeit auch schöpferische Phantasie verliehen.<lb/> Zudem hat er viel gelesen, viel gedacht und ist im Schreiben gewandt genug,<lb/> sodaß er eines Verbesserers seines Stils nicht bedürfte. Adolf Wilbrandt, der sich<lb/> seiner liebevoll angenommen hat, konnte sich auf Beurteilung seiner ersten, verun¬<lb/> glückten Manuskripte — nicht Lebenserinnerungen waren diese, sondern Schauer¬<lb/> dramen — und auf gute Ratschläge beschränken. Bertsch ist der Sohn eines blut¬<lb/> armen Dorfschullehrers im württembergischen Schwarzwalde, erlernte die Kürschnerei,<lb/> wanderte als Gesell bis London, trat 1871 beim Militär ein und hatte das Glück,<lb/> nach Frankreich zur Okkupationsarmee kommandiert zu werden, abenteuerte hierauf,<lb/> bald als Arbeiter, bald als Matrose, bald als Strömer, in England, Neuseeland und<lb/> Amerika herum, so manches verübend, was nach seiner eignen Meinung nicht schön<lb/> war, und beschloß endlich, als echter Schwabe, im vierzigsten Lebensjahre vernünftig zu<lb/> werden. Er kehrte zur Kürschnerei zurück, die er aufs neue erlernen mußte, heiratete<lb/> in Newyork, wurde Vater zweier Kinder und versuchte es in einer Zeit unver¬<lb/> schuldeter Arbeitlosigkeit aus reiner Verzweiflung, doch des innern Dranges nicht<lb/> ermangelnd, mit der Schriftstellerei. Nach mehreren mißglückter Anläufen hatte<lb/> er mit dem Roman „Die Geschwister", den Wilbrandt/ bevorwortete, glänzenden<lb/> Erfolg, ließ ihm einen zweiten folgen: „Bob, der Sonderling" und dann Lebens¬<lb/> erinnerungen, die er Bilderbogen aus meinem Leben betitelt hat (Stuttgart<lb/> und Berlin, I. G. Cotta Nachfolger, 1906), weil das Buch nicht eine zusammen¬<lb/> hängende Geschichte seines Lebens ist, sondern nur einzelne Erlebnisse mitteilt. Sehr<lb/> wohltuend berühren die zärtliche Gatten- und Kinderliebe, der starke Familiensinn<lb/> des frühern Vagabunden, die sich darin kundgeben, ferner das innige Naturgefühl,<lb/> der ideale Schwung seiner Seele und seine sozusagen philosophische Frömmigkeit.<lb/> Die lebendigen Schilderungen sind vielfach mit sinnigen Betrachtungen durchflochten.<lb/> Er versteht den Leser durch die Darstellung zu fesseln, und an packenden Stoff<lb/> festes natürlich auch nicht im Leben eines Abenteurers. So haben wir, dank<lb/> Wilbrandt und dem interessanten Schwaben, ein unterhaltendes Buch bekommen<lb/> und zugleich einen schätzbaren Beitrag zur Psychologie zweier interessanter Menschen¬<lb/> klassen, die der Verfasser in seiner Person vereinigt, des Stromers und des von<lb/><note type="byline"> <L. I-</note> der Wissenschaft und Bildung unsrer Zeit angeflognen Handarbeiters. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0276]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
im eignen Lager zu beschwichtigen, und die Freikonservativen sagen sich vielleicht,
daß sie bei ihrer bekannten Stellung zur Schulfrage gut tun, die Liberalen nicht
allein zu lassen, um etwaige Folgen für den nationalen Block im Reichstage nicht
zu verschärfen. Immerhin würde das ganze Vorgehen wirksamer sein, wenn man
sich noch etwas geduldete. Herr von Stube hat die feste Absicht, sich bald zurück¬
zuziehen. Einem neuen Kultusminister gegenüber würde man die Frage nachdrück¬
licher und aussichtsvoller behandeln können. Und bis dahin würde auch die Reichs¬
politik bereits besser konsolidiert sein. Doch über diese Frage wird später noch
häufiger zu reden sein
Ein Dichter in der Bluse. Von dem Arbeiter Fischer, dem vor drei
Jahren Paul Göhre in die Öffentlichkeit geholfen hat, sagten wir, daß er sich des
ersten Erfordernisses eines Dichters erfreue; sein Hirn sei ein guter photographischer
Apparat, der alle Eindrücke scharf aufnehme und treu festhalte. In ungelenken
Worten vermöge er diese dann wiederzugeben Dem Deutschamerikaner Hugo
Bertsch ist außer der Eindrucksfähigkeit auch schöpferische Phantasie verliehen.
Zudem hat er viel gelesen, viel gedacht und ist im Schreiben gewandt genug,
sodaß er eines Verbesserers seines Stils nicht bedürfte. Adolf Wilbrandt, der sich
seiner liebevoll angenommen hat, konnte sich auf Beurteilung seiner ersten, verun¬
glückten Manuskripte — nicht Lebenserinnerungen waren diese, sondern Schauer¬
dramen — und auf gute Ratschläge beschränken. Bertsch ist der Sohn eines blut¬
armen Dorfschullehrers im württembergischen Schwarzwalde, erlernte die Kürschnerei,
wanderte als Gesell bis London, trat 1871 beim Militär ein und hatte das Glück,
nach Frankreich zur Okkupationsarmee kommandiert zu werden, abenteuerte hierauf,
bald als Arbeiter, bald als Matrose, bald als Strömer, in England, Neuseeland und
Amerika herum, so manches verübend, was nach seiner eignen Meinung nicht schön
war, und beschloß endlich, als echter Schwabe, im vierzigsten Lebensjahre vernünftig zu
werden. Er kehrte zur Kürschnerei zurück, die er aufs neue erlernen mußte, heiratete
in Newyork, wurde Vater zweier Kinder und versuchte es in einer Zeit unver¬
schuldeter Arbeitlosigkeit aus reiner Verzweiflung, doch des innern Dranges nicht
ermangelnd, mit der Schriftstellerei. Nach mehreren mißglückter Anläufen hatte
er mit dem Roman „Die Geschwister", den Wilbrandt/ bevorwortete, glänzenden
Erfolg, ließ ihm einen zweiten folgen: „Bob, der Sonderling" und dann Lebens¬
erinnerungen, die er Bilderbogen aus meinem Leben betitelt hat (Stuttgart
und Berlin, I. G. Cotta Nachfolger, 1906), weil das Buch nicht eine zusammen¬
hängende Geschichte seines Lebens ist, sondern nur einzelne Erlebnisse mitteilt. Sehr
wohltuend berühren die zärtliche Gatten- und Kinderliebe, der starke Familiensinn
des frühern Vagabunden, die sich darin kundgeben, ferner das innige Naturgefühl,
der ideale Schwung seiner Seele und seine sozusagen philosophische Frömmigkeit.
Die lebendigen Schilderungen sind vielfach mit sinnigen Betrachtungen durchflochten.
Er versteht den Leser durch die Darstellung zu fesseln, und an packenden Stoff
festes natürlich auch nicht im Leben eines Abenteurers. So haben wir, dank
Wilbrandt und dem interessanten Schwaben, ein unterhaltendes Buch bekommen
und zugleich einen schätzbaren Beitrag zur Psychologie zweier interessanter Menschen¬
klassen, die der Verfasser in seiner Person vereinigt, des Stromers und des von
<L. I- der Wissenschaft und Bildung unsrer Zeit angeflognen Handarbeiters.
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