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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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T>le Sperlinge auf dem Naschmarkt
Julius R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von

aß die Witwe Bunick aus Pulsnil) mit ihren Pfefferkuchen und der
alte Eberhard Zinngräber ans Schneeberg mit seinem Olitätenbüdchcn
in jeder Messe auf dem Naschmarkt nebeneinander standen, das war
für alle Leipziger seit langen Jahren selbstverständlich. Wäre es
einmal anders gewesen, hätten sich zum Beispiel Iwan Michalowskis
Kavtarfdßchen eines Tags zwischen die Bnnickjchen Lebkuchenpakete
und die Zinngräberschen Balsambüchsen und Mncherpulverfläschcheu eingeschoben, so
würden die Bürger der alten Meßstadt erstauntere Gesichter gemacht haben, als
wenn eines schönen Morgens die Alte Wage zwischen Kochs Hof und dem Griechen¬
hause gestanden hätte.

Wenn erfahrne Leute darüber klagten, daß alles auf dieser Welt dem Wechsel
unterworfen sei, daß das erprobte Alte immer wieder vom zweifelhaften Neuen ver¬
drängt werde, und daß die Fiernnten, bei denen man früher für sein gutes Geld
"und wirklich gute Ware erhalten habe, nach und nach wegblieben oder ausstürben,
w brauchte man sie nur an die Unzertrennlichen ans dem Naschmarkte zu erinnern,
um sie zu einer Einschränkung ihres harten Urteils über die neue Zeit zu veran¬
lasse". In der Tat, Mutter Bunick und Vater Zinngräber schienen jedem Wandel
Zu spotten, als lebende Allegorien der Beständigkeit trafen sie jahraus jahrein zwei
Tage vor Beginn jeder Messe in Leipzig ein, bezogen genau dieselben Buden,
ordneten ihre Waren genau in derselben Weise und forderten, unbekümmert um das
Schwanken des Geldwertes, genau dieselben Preise, die sie seit Menschengedenken
genommen hatten.

Die ältesten Kunden der Witwe Bnnick wußten sich zu entsinnen, daß sie einmal
^ne schlanke junge Frau gewesen war. Die Zeit war freilich längst vorüber, die
Schlankheit hatte einer stattlichen Fülle weichen müssen, aber in dem vollen, runden
Gesicht, dessen Farben so frisch waren wie der weiße und rote Zuckerguß auf ihren
feinsten Lebtnchenherzcn, konnte man von Falten und Runzeln noch nicht viel be¬
merken. Sie war eine Frau in den besten Jahren und schien sich vorgenommen
zu beiden. es zu bleiben. Freilich, wer ihr die Zahl ihrer Lenze hätte nachrechnen
wollen, der hätte einen Anhalt gehabt in ihren Töchtern, von denen sie zu ihrer
Unterstützung im Geschäft der Reihe nach immer eine mitbrachte, bis diese dann
nach ein paar Jahren heiratete und durch die nächste ersetzt werden mußte. Die
Leipziger hatten schon eine ganze Anzahl Bunickscher Mädchen an sich vorüberziehen
sehen, die semmelblonde Sophie, die traite Anna mit den langen braunen Zöpfen,
°>e schwarzäugige Sidonie, die rotwangige Katharina, die ernste Antonie und die
fröhliche Dorothea, aber immer noch schien der Töchtervorrat der braven Witwe
nicht erschöpft zu sein, und kein Mensch wußte, ob die kleine rundliche Christine,
°le seit einigen Jahren die Mutter zur Messe begleitete, nun wirklich die letzte
kein würde.


Grenzboten IV 1906 78


T>le Sperlinge auf dem Naschmarkt
Julius R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von

aß die Witwe Bunick aus Pulsnil) mit ihren Pfefferkuchen und der
alte Eberhard Zinngräber ans Schneeberg mit seinem Olitätenbüdchcn
in jeder Messe auf dem Naschmarkt nebeneinander standen, das war
für alle Leipziger seit langen Jahren selbstverständlich. Wäre es
einmal anders gewesen, hätten sich zum Beispiel Iwan Michalowskis
Kavtarfdßchen eines Tags zwischen die Bnnickjchen Lebkuchenpakete
und die Zinngräberschen Balsambüchsen und Mncherpulverfläschcheu eingeschoben, so
würden die Bürger der alten Meßstadt erstauntere Gesichter gemacht haben, als
wenn eines schönen Morgens die Alte Wage zwischen Kochs Hof und dem Griechen¬
hause gestanden hätte.

Wenn erfahrne Leute darüber klagten, daß alles auf dieser Welt dem Wechsel
unterworfen sei, daß das erprobte Alte immer wieder vom zweifelhaften Neuen ver¬
drängt werde, und daß die Fiernnten, bei denen man früher für sein gutes Geld
"und wirklich gute Ware erhalten habe, nach und nach wegblieben oder ausstürben,
w brauchte man sie nur an die Unzertrennlichen ans dem Naschmarkte zu erinnern,
um sie zu einer Einschränkung ihres harten Urteils über die neue Zeit zu veran¬
lasse». In der Tat, Mutter Bunick und Vater Zinngräber schienen jedem Wandel
Zu spotten, als lebende Allegorien der Beständigkeit trafen sie jahraus jahrein zwei
Tage vor Beginn jeder Messe in Leipzig ein, bezogen genau dieselben Buden,
ordneten ihre Waren genau in derselben Weise und forderten, unbekümmert um das
Schwanken des Geldwertes, genau dieselben Preise, die sie seit Menschengedenken
genommen hatten.

Die ältesten Kunden der Witwe Bnnick wußten sich zu entsinnen, daß sie einmal
^ne schlanke junge Frau gewesen war. Die Zeit war freilich längst vorüber, die
Schlankheit hatte einer stattlichen Fülle weichen müssen, aber in dem vollen, runden
Gesicht, dessen Farben so frisch waren wie der weiße und rote Zuckerguß auf ihren
feinsten Lebtnchenherzcn, konnte man von Falten und Runzeln noch nicht viel be¬
merken. Sie war eine Frau in den besten Jahren und schien sich vorgenommen
zu beiden. es zu bleiben. Freilich, wer ihr die Zahl ihrer Lenze hätte nachrechnen
wollen, der hätte einen Anhalt gehabt in ihren Töchtern, von denen sie zu ihrer
Unterstützung im Geschäft der Reihe nach immer eine mitbrachte, bis diese dann
nach ein paar Jahren heiratete und durch die nächste ersetzt werden mußte. Die
Leipziger hatten schon eine ganze Anzahl Bunickscher Mädchen an sich vorüberziehen
sehen, die semmelblonde Sophie, die traite Anna mit den langen braunen Zöpfen,
°>e schwarzäugige Sidonie, die rotwangige Katharina, die ernste Antonie und die
fröhliche Dorothea, aber immer noch schien der Töchtervorrat der braven Witwe
nicht erschöpft zu sein, und kein Mensch wußte, ob die kleine rundliche Christine,
°le seit einigen Jahren die Mutter zur Messe begleitete, nun wirklich die letzte
kein würde.


Grenzboten IV 1906 78
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[0615] [Abbildung] T>le Sperlinge auf dem Naschmarkt Julius R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von aß die Witwe Bunick aus Pulsnil) mit ihren Pfefferkuchen und der alte Eberhard Zinngräber ans Schneeberg mit seinem Olitätenbüdchcn in jeder Messe auf dem Naschmarkt nebeneinander standen, das war für alle Leipziger seit langen Jahren selbstverständlich. Wäre es einmal anders gewesen, hätten sich zum Beispiel Iwan Michalowskis Kavtarfdßchen eines Tags zwischen die Bnnickjchen Lebkuchenpakete und die Zinngräberschen Balsambüchsen und Mncherpulverfläschcheu eingeschoben, so würden die Bürger der alten Meßstadt erstauntere Gesichter gemacht haben, als wenn eines schönen Morgens die Alte Wage zwischen Kochs Hof und dem Griechen¬ hause gestanden hätte. Wenn erfahrne Leute darüber klagten, daß alles auf dieser Welt dem Wechsel unterworfen sei, daß das erprobte Alte immer wieder vom zweifelhaften Neuen ver¬ drängt werde, und daß die Fiernnten, bei denen man früher für sein gutes Geld "und wirklich gute Ware erhalten habe, nach und nach wegblieben oder ausstürben, w brauchte man sie nur an die Unzertrennlichen ans dem Naschmarkte zu erinnern, um sie zu einer Einschränkung ihres harten Urteils über die neue Zeit zu veran¬ lasse». In der Tat, Mutter Bunick und Vater Zinngräber schienen jedem Wandel Zu spotten, als lebende Allegorien der Beständigkeit trafen sie jahraus jahrein zwei Tage vor Beginn jeder Messe in Leipzig ein, bezogen genau dieselben Buden, ordneten ihre Waren genau in derselben Weise und forderten, unbekümmert um das Schwanken des Geldwertes, genau dieselben Preise, die sie seit Menschengedenken genommen hatten. Die ältesten Kunden der Witwe Bnnick wußten sich zu entsinnen, daß sie einmal ^ne schlanke junge Frau gewesen war. Die Zeit war freilich längst vorüber, die Schlankheit hatte einer stattlichen Fülle weichen müssen, aber in dem vollen, runden Gesicht, dessen Farben so frisch waren wie der weiße und rote Zuckerguß auf ihren feinsten Lebtnchenherzcn, konnte man von Falten und Runzeln noch nicht viel be¬ merken. Sie war eine Frau in den besten Jahren und schien sich vorgenommen zu beiden. es zu bleiben. Freilich, wer ihr die Zahl ihrer Lenze hätte nachrechnen wollen, der hätte einen Anhalt gehabt in ihren Töchtern, von denen sie zu ihrer Unterstützung im Geschäft der Reihe nach immer eine mitbrachte, bis diese dann nach ein paar Jahren heiratete und durch die nächste ersetzt werden mußte. Die Leipziger hatten schon eine ganze Anzahl Bunickscher Mädchen an sich vorüberziehen sehen, die semmelblonde Sophie, die traite Anna mit den langen braunen Zöpfen, °>e schwarzäugige Sidonie, die rotwangige Katharina, die ernste Antonie und die fröhliche Dorothea, aber immer noch schien der Töchtervorrat der braven Witwe nicht erschöpft zu sein, und kein Mensch wußte, ob die kleine rundliche Christine, °le seit einigen Jahren die Mutter zur Messe begleitete, nun wirklich die letzte kein würde. Grenzboten IV 1906 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/615>, abgerufen am 23.07.2024.