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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Gefängnisdualisinus

Robespierre als Oberpriester in wahrer Begeisterung: "Überlassen wir uns
heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue
die Laster und die Tyrannen!" Das heißt: morgen fallen die Köpfe derer
zu Dutzenden, die nicht unsre Ansicht vom besten Staat haben. Der Fanatismus
Robespierres war nicht andrer Art als der der heutigen Radikalsozialisten, nur
ist das Schafott aus der Mode gekommen, und die Flehen, die Polizeischikanen
und die Parteiächtung siud an seine Stelle getreten. Die Mystiker des Konvents
führten die Dekadenfeste der Gerechtigkeit, der Keuschheit, der Freundschaft
und dergleichen ein. Die heutige Republik nennt ihre Panzerschiffe Wahrheit,
Demokratie, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit usw. und begeht damit eine ähnliche
Geschmacklosigkeit. Das Jakobinertum mit allen diesen lächerlichen Äußerlichkeiten
wird erst zur vollen Reife kommen, wenn sich die Sozialdemokratie an die Stelle
des Combismus gesetzt haben wird. Zwischen diesem politischen Sekteutum und
dem Liberalismus ist keine Versöhnung, sondern nur Kampf möglich, und
dieser Kampf wird heute auf wirtschaftlichem Gebiet ausgefochten, wie er gestern
auf kirchlichem geführt wurde. Ans der Streikfrciheit wird Streikzwang, die
Arbeitsfreiheit existiert nicht mehr, der einzelne Arbeiter hat nicht mehr das
Recht, selbständig zu entscheiden. Das Syndikat tritt an die Stelle des
Individuums. Damit beginnt man, und bei der Aufhebung des Privateigentums,
der Beseitigung der Familie, der Niederlegung der nationalen Grenzen endet
man. Der Absolutismus der Gesamtheit ist da. Die Fronvögte der neuen
Gesellschaft passen mit der Uhr in der Hand auf, daß wir ja nicht zur un¬
rechten Zeit schlafen, essen, arbeiten, lachen, singen oder weinen.

Wir werden diese Idylle nicht mehr erleben, und Frankreich wird einst¬
weilen von ihr verschont bleiben. Aber ohne ernste Kämpfe wird es nicht
abgehn, und wir werden die weitere Entwicklung dieses Ringens der Freiheit
und Selbstbestimmung mit der wachsenden Tyrannei der Masse mit Interesse
beobachten. Wie wird es in Frankreich aussehen, wenn nach abermals vier
Jahren das Volk seine Vertrauensmänner wählt? Hoffen wir, daß wenigstens
der äußere Friede diesem schönen Lande in dieser Zeit erhalten bleibe; hoffen
wir das in unserm eignen Interesse und dem unsrer Nachbarn.


Franz Ivugk


Gefängnisdualismus

in Abgeordnetenhause ist ein von zahlreichen Mitgliedern der ver¬
schiedensten Parteien unterzeichneter Antrag eingebracht worden,
den Dualismus im preußischen Gefängniswesen möglichst bald zu
beseitigen. Damit ist wieder einmal eine Frage aufgeworfen worden,
die in Preußen seit hundert Jahren erörtert wird, mit der sich
der Landtag seit seinem Bestehen fast in jeder Tagung beschäftigt hat. Wenn
sie bis heute nicht gelöst worden ist, so findet das seine Erklärung darin, daß
die Erledigung der großen politischen und sozialen Aufgaben, die das vorige


Gefängnisdualisinus

Robespierre als Oberpriester in wahrer Begeisterung: „Überlassen wir uns
heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue
die Laster und die Tyrannen!" Das heißt: morgen fallen die Köpfe derer
zu Dutzenden, die nicht unsre Ansicht vom besten Staat haben. Der Fanatismus
Robespierres war nicht andrer Art als der der heutigen Radikalsozialisten, nur
ist das Schafott aus der Mode gekommen, und die Flehen, die Polizeischikanen
und die Parteiächtung siud an seine Stelle getreten. Die Mystiker des Konvents
führten die Dekadenfeste der Gerechtigkeit, der Keuschheit, der Freundschaft
und dergleichen ein. Die heutige Republik nennt ihre Panzerschiffe Wahrheit,
Demokratie, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit usw. und begeht damit eine ähnliche
Geschmacklosigkeit. Das Jakobinertum mit allen diesen lächerlichen Äußerlichkeiten
wird erst zur vollen Reife kommen, wenn sich die Sozialdemokratie an die Stelle
des Combismus gesetzt haben wird. Zwischen diesem politischen Sekteutum und
dem Liberalismus ist keine Versöhnung, sondern nur Kampf möglich, und
dieser Kampf wird heute auf wirtschaftlichem Gebiet ausgefochten, wie er gestern
auf kirchlichem geführt wurde. Ans der Streikfrciheit wird Streikzwang, die
Arbeitsfreiheit existiert nicht mehr, der einzelne Arbeiter hat nicht mehr das
Recht, selbständig zu entscheiden. Das Syndikat tritt an die Stelle des
Individuums. Damit beginnt man, und bei der Aufhebung des Privateigentums,
der Beseitigung der Familie, der Niederlegung der nationalen Grenzen endet
man. Der Absolutismus der Gesamtheit ist da. Die Fronvögte der neuen
Gesellschaft passen mit der Uhr in der Hand auf, daß wir ja nicht zur un¬
rechten Zeit schlafen, essen, arbeiten, lachen, singen oder weinen.

Wir werden diese Idylle nicht mehr erleben, und Frankreich wird einst¬
weilen von ihr verschont bleiben. Aber ohne ernste Kämpfe wird es nicht
abgehn, und wir werden die weitere Entwicklung dieses Ringens der Freiheit
und Selbstbestimmung mit der wachsenden Tyrannei der Masse mit Interesse
beobachten. Wie wird es in Frankreich aussehen, wenn nach abermals vier
Jahren das Volk seine Vertrauensmänner wählt? Hoffen wir, daß wenigstens
der äußere Friede diesem schönen Lande in dieser Zeit erhalten bleibe; hoffen
wir das in unserm eignen Interesse und dem unsrer Nachbarn.


Franz Ivugk


Gefängnisdualismus

in Abgeordnetenhause ist ein von zahlreichen Mitgliedern der ver¬
schiedensten Parteien unterzeichneter Antrag eingebracht worden,
den Dualismus im preußischen Gefängniswesen möglichst bald zu
beseitigen. Damit ist wieder einmal eine Frage aufgeworfen worden,
die in Preußen seit hundert Jahren erörtert wird, mit der sich
der Landtag seit seinem Bestehen fast in jeder Tagung beschäftigt hat. Wenn
sie bis heute nicht gelöst worden ist, so findet das seine Erklärung darin, daß
die Erledigung der großen politischen und sozialen Aufgaben, die das vorige


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[0470] Gefängnisdualisinus Robespierre als Oberpriester in wahrer Begeisterung: „Überlassen wir uns heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die Laster und die Tyrannen!" Das heißt: morgen fallen die Köpfe derer zu Dutzenden, die nicht unsre Ansicht vom besten Staat haben. Der Fanatismus Robespierres war nicht andrer Art als der der heutigen Radikalsozialisten, nur ist das Schafott aus der Mode gekommen, und die Flehen, die Polizeischikanen und die Parteiächtung siud an seine Stelle getreten. Die Mystiker des Konvents führten die Dekadenfeste der Gerechtigkeit, der Keuschheit, der Freundschaft und dergleichen ein. Die heutige Republik nennt ihre Panzerschiffe Wahrheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit usw. und begeht damit eine ähnliche Geschmacklosigkeit. Das Jakobinertum mit allen diesen lächerlichen Äußerlichkeiten wird erst zur vollen Reife kommen, wenn sich die Sozialdemokratie an die Stelle des Combismus gesetzt haben wird. Zwischen diesem politischen Sekteutum und dem Liberalismus ist keine Versöhnung, sondern nur Kampf möglich, und dieser Kampf wird heute auf wirtschaftlichem Gebiet ausgefochten, wie er gestern auf kirchlichem geführt wurde. Ans der Streikfrciheit wird Streikzwang, die Arbeitsfreiheit existiert nicht mehr, der einzelne Arbeiter hat nicht mehr das Recht, selbständig zu entscheiden. Das Syndikat tritt an die Stelle des Individuums. Damit beginnt man, und bei der Aufhebung des Privateigentums, der Beseitigung der Familie, der Niederlegung der nationalen Grenzen endet man. Der Absolutismus der Gesamtheit ist da. Die Fronvögte der neuen Gesellschaft passen mit der Uhr in der Hand auf, daß wir ja nicht zur un¬ rechten Zeit schlafen, essen, arbeiten, lachen, singen oder weinen. Wir werden diese Idylle nicht mehr erleben, und Frankreich wird einst¬ weilen von ihr verschont bleiben. Aber ohne ernste Kämpfe wird es nicht abgehn, und wir werden die weitere Entwicklung dieses Ringens der Freiheit und Selbstbestimmung mit der wachsenden Tyrannei der Masse mit Interesse beobachten. Wie wird es in Frankreich aussehen, wenn nach abermals vier Jahren das Volk seine Vertrauensmänner wählt? Hoffen wir, daß wenigstens der äußere Friede diesem schönen Lande in dieser Zeit erhalten bleibe; hoffen wir das in unserm eignen Interesse und dem unsrer Nachbarn. Franz Ivugk Gefängnisdualismus in Abgeordnetenhause ist ein von zahlreichen Mitgliedern der ver¬ schiedensten Parteien unterzeichneter Antrag eingebracht worden, den Dualismus im preußischen Gefängniswesen möglichst bald zu beseitigen. Damit ist wieder einmal eine Frage aufgeworfen worden, die in Preußen seit hundert Jahren erörtert wird, mit der sich der Landtag seit seinem Bestehen fast in jeder Tagung beschäftigt hat. Wenn sie bis heute nicht gelöst worden ist, so findet das seine Erklärung darin, daß die Erledigung der großen politischen und sozialen Aufgaben, die das vorige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/470>, abgerufen am 26.12.2024.