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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Goethe, Kantund Lhamberlain

die Deutschen nur zur Folge gehabt, daß sich die Spaltungen unter ihren Par¬
teien erweiterten. Sobald aber dem Reichsrate keine Macht über die natio¬
nalen Kulturangelegenheiten mehr zustünde, würde auch die Nationalität nicht
mehr allein maßgebend für die Bildung der Parteien sein. Politische und
auch wirtschaftliche Erwägungen würden in den Vordergrund treten und mehr
und mehr die Gruppierung der Parteien bestimmen; kurz, es wäre die Mög¬
lichkeit eines Zusammengehns Deutscher und Nichtdeutscher und damit auch die
Möglichkeit einer Nalliierung der bürgerlichen und der bäuerlichen Elemente ohne
Unterschied der Nationalität gegen die Sozialdemokratie gegeben.

Gewiß würde das denen wenig Passen, die die Wahlrechtsbewegung in
Fluß gebracht haben. Weil der Mittelstand dem wirtschaftlichen Liberalismus
untreu geworden ist, weil sich Handwerker und Bauern in den letzten Jahren
zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen zusammengetan und dadurch
Einfluß auf die Gesetzgebung erlangt haben -- es sei nur auf die Gewerbe¬
novelle und das Verbot des Blankoterminhandels an der Fruchtbörse hin¬
gewiesen --, und weil der Einfluß des Mittelstandes auf Gesetzgebung und Ver¬
waltung in demselben Maße zu wachsen verspricht, in dem die sich durch die
wirtschaftspolitische Organisation des Mittelstandes immer stärker geltend machende
Neigung zu einer nationalen Verständigung die Spannung zwischen Deutschen
und Slawen mindert, versucht man es auf gegenteiliger Seite, durch Entfesselung
der Wahlreformfrage dem sich immer breitere Volksschichten erobernden Gedanken
einer Regelung der Nationalitütenfrage durch eine entsprechende Änderung der
Verfassung wieder in den Hintergrund zu drängen und durch Einführung des
allgemeinen, gleichen Wahlrechts den Mittelstand an die Wand zu drücken.

In seinem Mittelstande ruht aber die nationale Kraft des deutschen Volkes
in Österreich, und darum kann es einer weitern Demokratisierung des Wahl¬
rechts nur dann zustimmen, wenn ihr eine Revision der Verfassung voran¬
gegangen ist, die die Nationalitätenfrage aus dem Reichsrat ausschaltet und es
dadurch den Deutschen ermöglicht, ohne Preisgebung nationaler Interessen mit
nichtdeutschen Bündnisse einzugehn, um so auch als nationale Minorität ihr
intellektuelles und wirtschaftliches Übergewicht zur Geltung zu bringen.




Goethe, Kant und Lhamberlain

>ouston Stewart Chamberlcnn hat die Welt mit einem zweiten
monumentalen Werke überrascht: Immanuel Kant. Die Per¬
sönlichkeit als Einführung in das Werk. (München, F. Bruck-
mann, 1905; 12 Mark.) Er sieht unsre edle Kultur, "das von
! Germanen errichtete Weltreich des Geistes" von zwei Seiten be¬
droht. "Eine erstarkende römische Kirche auf der einen Seite, die schon die
Hand auf unsre Schulen ausstreckt, um das reine Gemüt der Kinder auf immer
mit ihrem jede Freiheit tötende" Gift zu impfen, unterstützt dabei von Katho¬
liken zweiter Güte, das heißt von Protestanten, die nicht mehr protestieren,


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die Deutschen nur zur Folge gehabt, daß sich die Spaltungen unter ihren Par¬
teien erweiterten. Sobald aber dem Reichsrate keine Macht über die natio¬
nalen Kulturangelegenheiten mehr zustünde, würde auch die Nationalität nicht
mehr allein maßgebend für die Bildung der Parteien sein. Politische und
auch wirtschaftliche Erwägungen würden in den Vordergrund treten und mehr
und mehr die Gruppierung der Parteien bestimmen; kurz, es wäre die Mög¬
lichkeit eines Zusammengehns Deutscher und Nichtdeutscher und damit auch die
Möglichkeit einer Nalliierung der bürgerlichen und der bäuerlichen Elemente ohne
Unterschied der Nationalität gegen die Sozialdemokratie gegeben.

Gewiß würde das denen wenig Passen, die die Wahlrechtsbewegung in
Fluß gebracht haben. Weil der Mittelstand dem wirtschaftlichen Liberalismus
untreu geworden ist, weil sich Handwerker und Bauern in den letzten Jahren
zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen zusammengetan und dadurch
Einfluß auf die Gesetzgebung erlangt haben — es sei nur auf die Gewerbe¬
novelle und das Verbot des Blankoterminhandels an der Fruchtbörse hin¬
gewiesen —, und weil der Einfluß des Mittelstandes auf Gesetzgebung und Ver¬
waltung in demselben Maße zu wachsen verspricht, in dem die sich durch die
wirtschaftspolitische Organisation des Mittelstandes immer stärker geltend machende
Neigung zu einer nationalen Verständigung die Spannung zwischen Deutschen
und Slawen mindert, versucht man es auf gegenteiliger Seite, durch Entfesselung
der Wahlreformfrage dem sich immer breitere Volksschichten erobernden Gedanken
einer Regelung der Nationalitütenfrage durch eine entsprechende Änderung der
Verfassung wieder in den Hintergrund zu drängen und durch Einführung des
allgemeinen, gleichen Wahlrechts den Mittelstand an die Wand zu drücken.

In seinem Mittelstande ruht aber die nationale Kraft des deutschen Volkes
in Österreich, und darum kann es einer weitern Demokratisierung des Wahl¬
rechts nur dann zustimmen, wenn ihr eine Revision der Verfassung voran¬
gegangen ist, die die Nationalitätenfrage aus dem Reichsrat ausschaltet und es
dadurch den Deutschen ermöglicht, ohne Preisgebung nationaler Interessen mit
nichtdeutschen Bündnisse einzugehn, um so auch als nationale Minorität ihr
intellektuelles und wirtschaftliches Übergewicht zur Geltung zu bringen.




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>ouston Stewart Chamberlcnn hat die Welt mit einem zweiten
monumentalen Werke überrascht: Immanuel Kant. Die Per¬
sönlichkeit als Einführung in das Werk. (München, F. Bruck-
mann, 1905; 12 Mark.) Er sieht unsre edle Kultur, „das von
! Germanen errichtete Weltreich des Geistes" von zwei Seiten be¬
droht. „Eine erstarkende römische Kirche auf der einen Seite, die schon die
Hand auf unsre Schulen ausstreckt, um das reine Gemüt der Kinder auf immer
mit ihrem jede Freiheit tötende» Gift zu impfen, unterstützt dabei von Katho¬
liken zweiter Güte, das heißt von Protestanten, die nicht mehr protestieren,


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[0424] Goethe, Kantund Lhamberlain die Deutschen nur zur Folge gehabt, daß sich die Spaltungen unter ihren Par¬ teien erweiterten. Sobald aber dem Reichsrate keine Macht über die natio¬ nalen Kulturangelegenheiten mehr zustünde, würde auch die Nationalität nicht mehr allein maßgebend für die Bildung der Parteien sein. Politische und auch wirtschaftliche Erwägungen würden in den Vordergrund treten und mehr und mehr die Gruppierung der Parteien bestimmen; kurz, es wäre die Mög¬ lichkeit eines Zusammengehns Deutscher und Nichtdeutscher und damit auch die Möglichkeit einer Nalliierung der bürgerlichen und der bäuerlichen Elemente ohne Unterschied der Nationalität gegen die Sozialdemokratie gegeben. Gewiß würde das denen wenig Passen, die die Wahlrechtsbewegung in Fluß gebracht haben. Weil der Mittelstand dem wirtschaftlichen Liberalismus untreu geworden ist, weil sich Handwerker und Bauern in den letzten Jahren zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen zusammengetan und dadurch Einfluß auf die Gesetzgebung erlangt haben — es sei nur auf die Gewerbe¬ novelle und das Verbot des Blankoterminhandels an der Fruchtbörse hin¬ gewiesen —, und weil der Einfluß des Mittelstandes auf Gesetzgebung und Ver¬ waltung in demselben Maße zu wachsen verspricht, in dem die sich durch die wirtschaftspolitische Organisation des Mittelstandes immer stärker geltend machende Neigung zu einer nationalen Verständigung die Spannung zwischen Deutschen und Slawen mindert, versucht man es auf gegenteiliger Seite, durch Entfesselung der Wahlreformfrage dem sich immer breitere Volksschichten erobernden Gedanken einer Regelung der Nationalitütenfrage durch eine entsprechende Änderung der Verfassung wieder in den Hintergrund zu drängen und durch Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts den Mittelstand an die Wand zu drücken. In seinem Mittelstande ruht aber die nationale Kraft des deutschen Volkes in Österreich, und darum kann es einer weitern Demokratisierung des Wahl¬ rechts nur dann zustimmen, wenn ihr eine Revision der Verfassung voran¬ gegangen ist, die die Nationalitätenfrage aus dem Reichsrat ausschaltet und es dadurch den Deutschen ermöglicht, ohne Preisgebung nationaler Interessen mit nichtdeutschen Bündnisse einzugehn, um so auch als nationale Minorität ihr intellektuelles und wirtschaftliches Übergewicht zur Geltung zu bringen. Goethe, Kant und Lhamberlain >ouston Stewart Chamberlcnn hat die Welt mit einem zweiten monumentalen Werke überrascht: Immanuel Kant. Die Per¬ sönlichkeit als Einführung in das Werk. (München, F. Bruck- mann, 1905; 12 Mark.) Er sieht unsre edle Kultur, „das von ! Germanen errichtete Weltreich des Geistes" von zwei Seiten be¬ droht. „Eine erstarkende römische Kirche auf der einen Seite, die schon die Hand auf unsre Schulen ausstreckt, um das reine Gemüt der Kinder auf immer mit ihrem jede Freiheit tötende» Gift zu impfen, unterstützt dabei von Katho¬ liken zweiter Güte, das heißt von Protestanten, die nicht mehr protestieren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/424>, abgerufen am 26.12.2024.