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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz

Menschen hatten. Die Bedrückung der Christen stieg, als am Ende des
sechzehnten Jahrhunderts ein von Österreich zur Befreiung Bosniens unter-
nommner Krieg verloren ging, und zu derselben Zeit ein Aufstand der Christen
in Bosnien von den einheimischen Mohammedanern, den Begs, blutig unter¬
drückt wurde. Darauf pochend traten die Begs nun auch dem Statthalter
gegenüber immer selbstherrlicher auf, wie seinerzeit gegenüber ihren Schattcn-
königen, und machten es ihm sogar unmöglich, in Sarajewo zu residieren, sodaß
er seinen Sitz in dem kleinen Travnik nehmen mußte. Als im neunzehnten
Jahrhundert die Sultane teils aus eignem Antrieb, teils unter dem Druck
der Machte reformieren und den Christen, der überwiegenden Mehrzahl
ihrer Untertanen, Schutz gegen die willkürliche Ausbeutung durch die Beamten
und Erleichterung in der Ausübung ihrer Religion gewähren wollten, kam es
in Bosnien bei den fanatischen Alttürken, den Renegaten, die türkischer sein
wollten als der Sultan, zweinull zu einer förmlichen Revolution gegen den
"Ketzersultan." Das zweitemal wurde die Revolution im Jahre 1850 durch
einen ehemaligen österreichischen Feldwebel, den spätern Omar-Pascha, nieder¬
gerungen und im Blute der meuterischen Großen erstickt.

Trotzdem gelang es dem Padischcch nicht, die geplanten und versprochnen
Reformen durchzusetzen, ebensowenig den fälligen Tribut aus Bosnien einzu¬
treiben. Als er sich unter diesen Umständen im Jahre 1878 zur freiwilligen
Abtretung der beiden Provinzen entschließen mußte, verlor er zwar als Kauf
eine halbe Million fanatischer mohammedanischer Untertanen, als Sultan aber
war er nur eine nutzlose Last los.

(Schluß folgt)




Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz

j is vor Jahresfrist der Gedanke zuerst auftauchte, die Mcirokko-
! differenz auf dem Wege einer neuen internationalen Konferenz zu
I ordnen, war die europäische Situation nicht ohne Gefahr. Frank¬
reich hielt den Bissen Marokko, den ihm die Konvention mit
I England überreicht hatte, schon auf der Gabel, um ihn zu ver¬
speisen, Kaiser Wilhelm hatte in Tanger erklärt, daß er hinter Marokko stehe,
und daß sein Besuch dem souveränen Beherrscher eines freien Landes gelte.
Der Gedanke, Marokko einem großen französischen nordafrikanischen Reiche ein¬
zuverleiben, besteht in Frankreich nicht erst seit heute. Er stammt aus der Zeit,
wo Ludwig Philipp Algerien unterwarf. Freilich mußte der Wunsch vor vielen
andern Ereignissen, die die französische Geschichte seitdem bewegt haben, immer
wieder zurücktreten, bis er in der neuern, von einem dreißigjährigen Frieden
getragnen und geschaffnen Periode nationaler Expansionen Frankreichs von
neuem mit großer Energie aufgenommen wurde. Politische, militärische und
wirtschaftliche Maßnahmen vereinigten sich zu einem konzentrischen Vorgehn.


Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz

Menschen hatten. Die Bedrückung der Christen stieg, als am Ende des
sechzehnten Jahrhunderts ein von Österreich zur Befreiung Bosniens unter-
nommner Krieg verloren ging, und zu derselben Zeit ein Aufstand der Christen
in Bosnien von den einheimischen Mohammedanern, den Begs, blutig unter¬
drückt wurde. Darauf pochend traten die Begs nun auch dem Statthalter
gegenüber immer selbstherrlicher auf, wie seinerzeit gegenüber ihren Schattcn-
königen, und machten es ihm sogar unmöglich, in Sarajewo zu residieren, sodaß
er seinen Sitz in dem kleinen Travnik nehmen mußte. Als im neunzehnten
Jahrhundert die Sultane teils aus eignem Antrieb, teils unter dem Druck
der Machte reformieren und den Christen, der überwiegenden Mehrzahl
ihrer Untertanen, Schutz gegen die willkürliche Ausbeutung durch die Beamten
und Erleichterung in der Ausübung ihrer Religion gewähren wollten, kam es
in Bosnien bei den fanatischen Alttürken, den Renegaten, die türkischer sein
wollten als der Sultan, zweinull zu einer förmlichen Revolution gegen den
„Ketzersultan." Das zweitemal wurde die Revolution im Jahre 1850 durch
einen ehemaligen österreichischen Feldwebel, den spätern Omar-Pascha, nieder¬
gerungen und im Blute der meuterischen Großen erstickt.

Trotzdem gelang es dem Padischcch nicht, die geplanten und versprochnen
Reformen durchzusetzen, ebensowenig den fälligen Tribut aus Bosnien einzu¬
treiben. Als er sich unter diesen Umständen im Jahre 1878 zur freiwilligen
Abtretung der beiden Provinzen entschließen mußte, verlor er zwar als Kauf
eine halbe Million fanatischer mohammedanischer Untertanen, als Sultan aber
war er nur eine nutzlose Last los.

(Schluß folgt)




Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz

j is vor Jahresfrist der Gedanke zuerst auftauchte, die Mcirokko-
! differenz auf dem Wege einer neuen internationalen Konferenz zu
I ordnen, war die europäische Situation nicht ohne Gefahr. Frank¬
reich hielt den Bissen Marokko, den ihm die Konvention mit
I England überreicht hatte, schon auf der Gabel, um ihn zu ver¬
speisen, Kaiser Wilhelm hatte in Tanger erklärt, daß er hinter Marokko stehe,
und daß sein Besuch dem souveränen Beherrscher eines freien Landes gelte.
Der Gedanke, Marokko einem großen französischen nordafrikanischen Reiche ein¬
zuverleiben, besteht in Frankreich nicht erst seit heute. Er stammt aus der Zeit,
wo Ludwig Philipp Algerien unterwarf. Freilich mußte der Wunsch vor vielen
andern Ereignissen, die die französische Geschichte seitdem bewegt haben, immer
wieder zurücktreten, bis er in der neuern, von einem dreißigjährigen Frieden
getragnen und geschaffnen Periode nationaler Expansionen Frankreichs von
neuem mit großer Energie aufgenommen wurde. Politische, militärische und
wirtschaftliche Maßnahmen vereinigten sich zu einem konzentrischen Vorgehn.


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[0039] Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz Menschen hatten. Die Bedrückung der Christen stieg, als am Ende des sechzehnten Jahrhunderts ein von Österreich zur Befreiung Bosniens unter- nommner Krieg verloren ging, und zu derselben Zeit ein Aufstand der Christen in Bosnien von den einheimischen Mohammedanern, den Begs, blutig unter¬ drückt wurde. Darauf pochend traten die Begs nun auch dem Statthalter gegenüber immer selbstherrlicher auf, wie seinerzeit gegenüber ihren Schattcn- königen, und machten es ihm sogar unmöglich, in Sarajewo zu residieren, sodaß er seinen Sitz in dem kleinen Travnik nehmen mußte. Als im neunzehnten Jahrhundert die Sultane teils aus eignem Antrieb, teils unter dem Druck der Machte reformieren und den Christen, der überwiegenden Mehrzahl ihrer Untertanen, Schutz gegen die willkürliche Ausbeutung durch die Beamten und Erleichterung in der Ausübung ihrer Religion gewähren wollten, kam es in Bosnien bei den fanatischen Alttürken, den Renegaten, die türkischer sein wollten als der Sultan, zweinull zu einer förmlichen Revolution gegen den „Ketzersultan." Das zweitemal wurde die Revolution im Jahre 1850 durch einen ehemaligen österreichischen Feldwebel, den spätern Omar-Pascha, nieder¬ gerungen und im Blute der meuterischen Großen erstickt. Trotzdem gelang es dem Padischcch nicht, die geplanten und versprochnen Reformen durchzusetzen, ebensowenig den fälligen Tribut aus Bosnien einzu¬ treiben. Als er sich unter diesen Umständen im Jahre 1878 zur freiwilligen Abtretung der beiden Provinzen entschließen mußte, verlor er zwar als Kauf eine halbe Million fanatischer mohammedanischer Untertanen, als Sultan aber war er nur eine nutzlose Last los. (Schluß folgt) Die Weltlage nach dem Schluß der Algeciras-Konferenz j is vor Jahresfrist der Gedanke zuerst auftauchte, die Mcirokko- ! differenz auf dem Wege einer neuen internationalen Konferenz zu I ordnen, war die europäische Situation nicht ohne Gefahr. Frank¬ reich hielt den Bissen Marokko, den ihm die Konvention mit I England überreicht hatte, schon auf der Gabel, um ihn zu ver¬ speisen, Kaiser Wilhelm hatte in Tanger erklärt, daß er hinter Marokko stehe, und daß sein Besuch dem souveränen Beherrscher eines freien Landes gelte. Der Gedanke, Marokko einem großen französischen nordafrikanischen Reiche ein¬ zuverleiben, besteht in Frankreich nicht erst seit heute. Er stammt aus der Zeit, wo Ludwig Philipp Algerien unterwarf. Freilich mußte der Wunsch vor vielen andern Ereignissen, die die französische Geschichte seitdem bewegt haben, immer wieder zurücktreten, bis er in der neuern, von einem dreißigjährigen Frieden getragnen und geschaffnen Periode nationaler Expansionen Frankreichs von neuem mit großer Energie aufgenommen wurde. Politische, militärische und wirtschaftliche Maßnahmen vereinigten sich zu einem konzentrischen Vorgehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/39>, abgerufen am 26.12.2024.