Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.lNenschenfrühling 6 Dieses Erlebnis im Kaffeekränzchen der jungen Mädchen machte von fich reden. Auch die Herren im Wirtshaus sprachen über diese Sache, und obgleich sie Auf diese Art verlor der Bürgermeister sein Kostgeld von sechshundert Mark Es erging also vom Magistrat an Doktor Sudeck die Weisung, jene Holz¬ Frau Doktor Sudeck tat keinem Menschen etwas zuleide, und vor den heran¬ Nur Anneli hatte keinen Vorteil von ihrer Selbstverteidigung. Tante Fritze Onkel Aurelius, der von Tante Fritze sofort die entsetzliche Geschichte hörte Ärgere dich nicht so sehr, Fritze, sagte er zu seiner Cousine, hier in diesem Fred Roland ist dabei gewesen? Tante Fritze stöhnte noch mehr. Natürlich, lNenschenfrühling 6 Dieses Erlebnis im Kaffeekränzchen der jungen Mädchen machte von fich reden. Auch die Herren im Wirtshaus sprachen über diese Sache, und obgleich sie Auf diese Art verlor der Bürgermeister sein Kostgeld von sechshundert Mark Es erging also vom Magistrat an Doktor Sudeck die Weisung, jene Holz¬ Frau Doktor Sudeck tat keinem Menschen etwas zuleide, und vor den heran¬ Nur Anneli hatte keinen Vorteil von ihrer Selbstverteidigung. Tante Fritze Onkel Aurelius, der von Tante Fritze sofort die entsetzliche Geschichte hörte Ärgere dich nicht so sehr, Fritze, sagte er zu seiner Cousine, hier in diesem Fred Roland ist dabei gewesen? Tante Fritze stöhnte noch mehr. Natürlich, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299154"/> <fw type="header" place="top"> lNenschenfrühling</fw><lb/> <div n="2"> <head> 6</head><lb/> <p xml:id="ID_453"> Dieses Erlebnis im Kaffeekränzchen der jungen Mädchen machte von fich reden.<lb/> Im Städtchen war lange nichts besonderes passiert; nun konnten einige Damen¬<lb/> gesellschaften gegeben werden, bei denen jede Teilnehmerin versichern konnte, daß<lb/> zu ihren Zeiten so etwas nicht vorgekommen wäre.</p><lb/> <p xml:id="ID_454"> Auch die Herren im Wirtshaus sprachen über diese Sache, und obgleich sie<lb/> bis auf den Bürgermeister etwas milder urteilten und alles nicht so arg fanden,<lb/> so war doch einer unter ihnen, der die Geschichte mit einiger Ausschmückung in<lb/> eine größere Zeitung brachte. Der Bürgermeister war ganz besonders zornig, was<lb/> seinen Grund darin hatte, daß Rita Makler nicht nur Krämpfe, sonder» auch<lb/> heftiges Heimweh nach ihrer Vaterstadt bekommen hatte. Obgleich sie dieser gerade<lb/> fern bleiben sollte, da sie, wie ihre Mutter sagte, zu weit fortgeschritten in der<lb/> Kultur war, so setzte sie es doch durch, daß sie das Städtchen mit einem andern<lb/> Ort der Umgegend vertauschte.</p><lb/> <p xml:id="ID_455"> Auf diese Art verlor der Bürgermeister sein Kostgeld von sechshundert Mark<lb/> nur, weil Anneli unartig gewesen war, und weil Doktor Sudeck seinen Skeletten<lb/> und Präparaten einen Aufenthaltsort gegeben hatte, der fich nicht dazu eignete.</p><lb/> <p xml:id="ID_456"> Es erging also vom Magistrat an Doktor Sudeck die Weisung, jene Holz¬<lb/> baracke sofort abreißen zu lassen und ihren unheimlichen Inhalt an einen besser<lb/> verborgnen Platz zu schaffen. Und da sich die Frau Bürgermeister wegen Rita<lb/> Makkers plötzlicher Abreise ärgerte, so konnte sie es nicht lassen, an Frau Doktor<lb/> Sudeck zu schreiben, ihre Christel sei schlecht erzogen und schlecht beaufsichtigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_457"> Frau Doktor Sudeck tat keinem Menschen etwas zuleide, und vor den heran¬<lb/> wachsenden Töchtern der Mitwelt hatte sie ebensoviel Respekt wie vor ihrem<lb/> eignen Kinde. Aber alles konnte sie sich doch nicht gefallen lassen, und sie verbot<lb/> Christel, mit Karoline Lindig umzugehn, ein Verbot, das Christel mit lauter Stimme<lb/> in der Schulstunde proklamierte, und das einen erregten Briefwechsel der Mütter<lb/> zur Folge hatte. Das war noch nicht alles: Doktor Sudeck schrieb dem Magistrat<lb/> einen groben Brief wieder, worin er mit dem Rechtsanwalt drohte, da niemand ihn<lb/> hindern könnte, auf eignem Grund und Boden unschädliche Präparate zu verwahren:<lb/> genug, die Stadt hatte reichlichen Gesprächsstoff, die Bäcker der Kaffeekuchen<lb/> Ichmiiuzelten, und es wurde mehr Bier getrunken als jemals.</p><lb/> <p xml:id="ID_458"> Nur Anneli hatte keinen Vorteil von ihrer Selbstverteidigung. Tante Fritze<lb/> wollte sie einsperren und hungern lassen, und Onkel Willi betrachtete seine Nichte<lb/> ebenso ratlos, wie wir einen fremden wilden Vogel betrachten, der uns in das<lb/> Zimmer geflogen ist. Es wäre der Sünderin noch schlechter ergangen, wenn sich<lb/> nicht der Kandidat Bergheim ins Mittel gelegt hätte.</p><lb/> <p xml:id="ID_459"> Onkel Aurelius, der von Tante Fritze sofort die entsetzliche Geschichte hörte<lb/> Frau Doktor Sudeck hatte sie ihr noch an demselben Abend mitgeteilt —, war nicht<lb/> so empört wie die andern Leute. Zwar erklärte er gleich, daß er gelben Pudding<lb/> mit roter Sauce fürs erste nicht essen könnte, und daß er Cousine Fritze bitten<lb/> müßte, ihm eine andre süße Speise zu geben, aber er nahm sich Anneli vor, ließ<lb/> sich das Erlebnis von ihr berichten und urteilte nachher recht milde über sie.</p><lb/> <p xml:id="ID_460"> Ärgere dich nicht so sehr, Fritze, sagte er zu seiner Cousine, hier in diesem<lb/> Nest müssen sich die Leute gelegentlich verzärtelt, das gehört einmal dazu und wird<lb/> schon wieder in Ordnung kommen. Die großen Mädchen tragen die Schuld. Sie<lb/> wollen sich wie Erwachsne betragen, und doch ist jede Gans eine Weltdame gegen<lb/> sie. Anneli hat sich ihrer Haut gewehrt. Schön wars nicht, aber Fred, der Putz-<lb/> Macherjunge, scheint ihr den Gedanken mit der abscheulichen Hand eingegeben zu<lb/> haben. Verräter will sie ihn aber nicht, und das ist auch brav.</p><lb/> <p xml:id="ID_461"> Fred Roland ist dabei gewesen? Tante Fritze stöhnte noch mehr. Natürlich,<lb/> ich konnte es mir denken: die Mutter taugt auch nichts. Niemand kennt den Vater<lb/> des Jungen.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0113]
lNenschenfrühling
6
Dieses Erlebnis im Kaffeekränzchen der jungen Mädchen machte von fich reden.
Im Städtchen war lange nichts besonderes passiert; nun konnten einige Damen¬
gesellschaften gegeben werden, bei denen jede Teilnehmerin versichern konnte, daß
zu ihren Zeiten so etwas nicht vorgekommen wäre.
Auch die Herren im Wirtshaus sprachen über diese Sache, und obgleich sie
bis auf den Bürgermeister etwas milder urteilten und alles nicht so arg fanden,
so war doch einer unter ihnen, der die Geschichte mit einiger Ausschmückung in
eine größere Zeitung brachte. Der Bürgermeister war ganz besonders zornig, was
seinen Grund darin hatte, daß Rita Makler nicht nur Krämpfe, sonder» auch
heftiges Heimweh nach ihrer Vaterstadt bekommen hatte. Obgleich sie dieser gerade
fern bleiben sollte, da sie, wie ihre Mutter sagte, zu weit fortgeschritten in der
Kultur war, so setzte sie es doch durch, daß sie das Städtchen mit einem andern
Ort der Umgegend vertauschte.
Auf diese Art verlor der Bürgermeister sein Kostgeld von sechshundert Mark
nur, weil Anneli unartig gewesen war, und weil Doktor Sudeck seinen Skeletten
und Präparaten einen Aufenthaltsort gegeben hatte, der fich nicht dazu eignete.
Es erging also vom Magistrat an Doktor Sudeck die Weisung, jene Holz¬
baracke sofort abreißen zu lassen und ihren unheimlichen Inhalt an einen besser
verborgnen Platz zu schaffen. Und da sich die Frau Bürgermeister wegen Rita
Makkers plötzlicher Abreise ärgerte, so konnte sie es nicht lassen, an Frau Doktor
Sudeck zu schreiben, ihre Christel sei schlecht erzogen und schlecht beaufsichtigt.
Frau Doktor Sudeck tat keinem Menschen etwas zuleide, und vor den heran¬
wachsenden Töchtern der Mitwelt hatte sie ebensoviel Respekt wie vor ihrem
eignen Kinde. Aber alles konnte sie sich doch nicht gefallen lassen, und sie verbot
Christel, mit Karoline Lindig umzugehn, ein Verbot, das Christel mit lauter Stimme
in der Schulstunde proklamierte, und das einen erregten Briefwechsel der Mütter
zur Folge hatte. Das war noch nicht alles: Doktor Sudeck schrieb dem Magistrat
einen groben Brief wieder, worin er mit dem Rechtsanwalt drohte, da niemand ihn
hindern könnte, auf eignem Grund und Boden unschädliche Präparate zu verwahren:
genug, die Stadt hatte reichlichen Gesprächsstoff, die Bäcker der Kaffeekuchen
Ichmiiuzelten, und es wurde mehr Bier getrunken als jemals.
Nur Anneli hatte keinen Vorteil von ihrer Selbstverteidigung. Tante Fritze
wollte sie einsperren und hungern lassen, und Onkel Willi betrachtete seine Nichte
ebenso ratlos, wie wir einen fremden wilden Vogel betrachten, der uns in das
Zimmer geflogen ist. Es wäre der Sünderin noch schlechter ergangen, wenn sich
nicht der Kandidat Bergheim ins Mittel gelegt hätte.
Onkel Aurelius, der von Tante Fritze sofort die entsetzliche Geschichte hörte
Frau Doktor Sudeck hatte sie ihr noch an demselben Abend mitgeteilt —, war nicht
so empört wie die andern Leute. Zwar erklärte er gleich, daß er gelben Pudding
mit roter Sauce fürs erste nicht essen könnte, und daß er Cousine Fritze bitten
müßte, ihm eine andre süße Speise zu geben, aber er nahm sich Anneli vor, ließ
sich das Erlebnis von ihr berichten und urteilte nachher recht milde über sie.
Ärgere dich nicht so sehr, Fritze, sagte er zu seiner Cousine, hier in diesem
Nest müssen sich die Leute gelegentlich verzärtelt, das gehört einmal dazu und wird
schon wieder in Ordnung kommen. Die großen Mädchen tragen die Schuld. Sie
wollen sich wie Erwachsne betragen, und doch ist jede Gans eine Weltdame gegen
sie. Anneli hat sich ihrer Haut gewehrt. Schön wars nicht, aber Fred, der Putz-
Macherjunge, scheint ihr den Gedanken mit der abscheulichen Hand eingegeben zu
haben. Verräter will sie ihn aber nicht, und das ist auch brav.
Fred Roland ist dabei gewesen? Tante Fritze stöhnte noch mehr. Natürlich,
ich konnte es mir denken: die Mutter taugt auch nichts. Niemand kennt den Vater
des Jungen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |