Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Erinnerungen einer Lehrerin
(Fortsetzung)

<?M>es sing meine Besuche im Sommer an und muß ehrlich gestehn,
daß ich mehr als einmal daran war, sie wieder aufzugeben, wenn
ich in die engen Gassen kam, die die ärmsten meiner Kinder
beherbergten. Denn hier findet man die echte Großstadtluft, hier
Istrahlen die Häuser eine Hitze und eine Luft aus, die mir oft
den Atem genommen hat. Hier spielen ungezählte Kinderscharen, sicher vor
jedem Wagen, auf dem Pflaster und tragen den Schmutz auf Kleid und Körper.
Hier sind die "armen und kleinen Leute" unter sich. Wenn du hier wohnen
müßtest, dann lieber den Tod! habe ich mir oft gesagt. Wie man in diesen
Gassen auffällt, wie sich neugierige Augen auf die unbekannte Erscheinung
richten! "Was will denn die!" hört man hinter sich. Man wird als Ein¬
dringling angesehen und fühlt sich auch als ein solcher.

Ich will gleich hier an dieser Stelle sagen, um es abgetan zu haben, daß
man einzelne Straßen nur mit starker Überwindung betreten kann. Einigemal
habe ich mich von einer andern Lehrerin begleiten lassen, um einigermaßen ein
Schutzgefühl zu haben, aber jede Begleitung stört bei Hausbesuchen, die Leute
werden dadurch mißtrauisch. Ich habe denn auch gefunden, daß eine unnah¬
bare Haltung (verbunden mit dem Gefühl, ein Legitimationspapier in der Tasche
zu haben) hier wie überall ein guter Schutz ist und jede Belästigung verhindert.
Selbstverständlich sind solche Wege besonders an trüben Winternachmittagen
durchaus unangenehm und verursachen mir mich immer Herzklopfen. Aber
gerade diese Besuche sind oft unumgänglich nötig, wenn man das nötige Material
zum Antrag auf Fürsorgeerziehung sammeln will.

Die Treppen schon verraten meist die Verhältnisse der Mieter. Manchmal
bieten sie, sauber gescheuert und mit weißem Sande bestreut, einen traulich-alt¬
modischen Anblick, oft aber sehen sie so schmutzig aus, daß man sie nur mit
Vorsicht passieren kann, oft muß man auch auf einzelnen Stufen über darauf
herumkrabbelnde Kinder hinwegschreiten. Vor meinen Hausbesuchen war mir
das Wort "Flurnachbar" unverständlich. Jetzt weiß ich, daß in den einzelnen
Etagen mehrere Familien, "Parder" genannt, wohnen, ohne daß eine Korridor¬
tür die einzelnen Wohnungen (besonders in den alten Häusern) voneinander
trennt. Diese Einrichtung bietet meiner Ansicht nach die vielen Anlässe zum
Streite, der unter den Leuten herrscht. Jeder hört und sieht zu viel vom
andern, denn wie oft geschah es, daß wenn ich kaum zur Tür hinein war,
schon eine neugierige Flurnachbarin ohne weiteres erschien und als ein für mich
unwillkommner stummer Zeuge (Vorstellungen gibt es natürlich nicht) die Unter¬
haltung mit anhörte. Jetzt habe ich es allmählich gelernt, diese ungebetnen Gäste
zu entfernen.




Erinnerungen einer Lehrerin
(Fortsetzung)

<?M>es sing meine Besuche im Sommer an und muß ehrlich gestehn,
daß ich mehr als einmal daran war, sie wieder aufzugeben, wenn
ich in die engen Gassen kam, die die ärmsten meiner Kinder
beherbergten. Denn hier findet man die echte Großstadtluft, hier
Istrahlen die Häuser eine Hitze und eine Luft aus, die mir oft
den Atem genommen hat. Hier spielen ungezählte Kinderscharen, sicher vor
jedem Wagen, auf dem Pflaster und tragen den Schmutz auf Kleid und Körper.
Hier sind die „armen und kleinen Leute" unter sich. Wenn du hier wohnen
müßtest, dann lieber den Tod! habe ich mir oft gesagt. Wie man in diesen
Gassen auffällt, wie sich neugierige Augen auf die unbekannte Erscheinung
richten! „Was will denn die!" hört man hinter sich. Man wird als Ein¬
dringling angesehen und fühlt sich auch als ein solcher.

Ich will gleich hier an dieser Stelle sagen, um es abgetan zu haben, daß
man einzelne Straßen nur mit starker Überwindung betreten kann. Einigemal
habe ich mich von einer andern Lehrerin begleiten lassen, um einigermaßen ein
Schutzgefühl zu haben, aber jede Begleitung stört bei Hausbesuchen, die Leute
werden dadurch mißtrauisch. Ich habe denn auch gefunden, daß eine unnah¬
bare Haltung (verbunden mit dem Gefühl, ein Legitimationspapier in der Tasche
zu haben) hier wie überall ein guter Schutz ist und jede Belästigung verhindert.
Selbstverständlich sind solche Wege besonders an trüben Winternachmittagen
durchaus unangenehm und verursachen mir mich immer Herzklopfen. Aber
gerade diese Besuche sind oft unumgänglich nötig, wenn man das nötige Material
zum Antrag auf Fürsorgeerziehung sammeln will.

Die Treppen schon verraten meist die Verhältnisse der Mieter. Manchmal
bieten sie, sauber gescheuert und mit weißem Sande bestreut, einen traulich-alt¬
modischen Anblick, oft aber sehen sie so schmutzig aus, daß man sie nur mit
Vorsicht passieren kann, oft muß man auch auf einzelnen Stufen über darauf
herumkrabbelnde Kinder hinwegschreiten. Vor meinen Hausbesuchen war mir
das Wort „Flurnachbar" unverständlich. Jetzt weiß ich, daß in den einzelnen
Etagen mehrere Familien, „Parder" genannt, wohnen, ohne daß eine Korridor¬
tür die einzelnen Wohnungen (besonders in den alten Häusern) voneinander
trennt. Diese Einrichtung bietet meiner Ansicht nach die vielen Anlässe zum
Streite, der unter den Leuten herrscht. Jeder hört und sieht zu viel vom
andern, denn wie oft geschah es, daß wenn ich kaum zur Tür hinein war,
schon eine neugierige Flurnachbarin ohne weiteres erschien und als ein für mich
unwillkommner stummer Zeuge (Vorstellungen gibt es natürlich nicht) die Unter¬
haltung mit anhörte. Jetzt habe ich es allmählich gelernt, diese ungebetnen Gäste
zu entfernen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87924"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341881_87477/figures/grenzboten_341881_87477_87924_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Erinnerungen einer Lehrerin<lb/>
(Fortsetzung) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1918"> &lt;?M&gt;es sing meine Besuche im Sommer an und muß ehrlich gestehn,<lb/>
daß ich mehr als einmal daran war, sie wieder aufzugeben, wenn<lb/>
ich in die engen Gassen kam, die die ärmsten meiner Kinder<lb/>
beherbergten. Denn hier findet man die echte Großstadtluft, hier<lb/>
Istrahlen die Häuser eine Hitze und eine Luft aus, die mir oft<lb/>
den Atem genommen hat. Hier spielen ungezählte Kinderscharen, sicher vor<lb/>
jedem Wagen, auf dem Pflaster und tragen den Schmutz auf Kleid und Körper.<lb/>
Hier sind die &#x201E;armen und kleinen Leute" unter sich. Wenn du hier wohnen<lb/>
müßtest, dann lieber den Tod! habe ich mir oft gesagt. Wie man in diesen<lb/>
Gassen auffällt, wie sich neugierige Augen auf die unbekannte Erscheinung<lb/>
richten! &#x201E;Was will denn die!" hört man hinter sich. Man wird als Ein¬<lb/>
dringling angesehen und fühlt sich auch als ein solcher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1919"> Ich will gleich hier an dieser Stelle sagen, um es abgetan zu haben, daß<lb/>
man einzelne Straßen nur mit starker Überwindung betreten kann. Einigemal<lb/>
habe ich mich von einer andern Lehrerin begleiten lassen, um einigermaßen ein<lb/>
Schutzgefühl zu haben, aber jede Begleitung stört bei Hausbesuchen, die Leute<lb/>
werden dadurch mißtrauisch. Ich habe denn auch gefunden, daß eine unnah¬<lb/>
bare Haltung (verbunden mit dem Gefühl, ein Legitimationspapier in der Tasche<lb/>
zu haben) hier wie überall ein guter Schutz ist und jede Belästigung verhindert.<lb/>
Selbstverständlich sind solche Wege besonders an trüben Winternachmittagen<lb/>
durchaus unangenehm und verursachen mir mich immer Herzklopfen. Aber<lb/>
gerade diese Besuche sind oft unumgänglich nötig, wenn man das nötige Material<lb/>
zum Antrag auf Fürsorgeerziehung sammeln will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1920"> Die Treppen schon verraten meist die Verhältnisse der Mieter. Manchmal<lb/>
bieten sie, sauber gescheuert und mit weißem Sande bestreut, einen traulich-alt¬<lb/>
modischen Anblick, oft aber sehen sie so schmutzig aus, daß man sie nur mit<lb/>
Vorsicht passieren kann, oft muß man auch auf einzelnen Stufen über darauf<lb/>
herumkrabbelnde Kinder hinwegschreiten. Vor meinen Hausbesuchen war mir<lb/>
das Wort &#x201E;Flurnachbar" unverständlich. Jetzt weiß ich, daß in den einzelnen<lb/>
Etagen mehrere Familien, &#x201E;Parder" genannt, wohnen, ohne daß eine Korridor¬<lb/>
tür die einzelnen Wohnungen (besonders in den alten Häusern) voneinander<lb/>
trennt. Diese Einrichtung bietet meiner Ansicht nach die vielen Anlässe zum<lb/>
Streite, der unter den Leuten herrscht. Jeder hört und sieht zu viel vom<lb/>
andern, denn wie oft geschah es, daß wenn ich kaum zur Tür hinein war,<lb/>
schon eine neugierige Flurnachbarin ohne weiteres erschien und als ein für mich<lb/>
unwillkommner stummer Zeuge (Vorstellungen gibt es natürlich nicht) die Unter¬<lb/>
haltung mit anhörte. Jetzt habe ich es allmählich gelernt, diese ungebetnen Gäste<lb/>
zu entfernen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0446] [Abbildung] Erinnerungen einer Lehrerin (Fortsetzung) <?M>es sing meine Besuche im Sommer an und muß ehrlich gestehn, daß ich mehr als einmal daran war, sie wieder aufzugeben, wenn ich in die engen Gassen kam, die die ärmsten meiner Kinder beherbergten. Denn hier findet man die echte Großstadtluft, hier Istrahlen die Häuser eine Hitze und eine Luft aus, die mir oft den Atem genommen hat. Hier spielen ungezählte Kinderscharen, sicher vor jedem Wagen, auf dem Pflaster und tragen den Schmutz auf Kleid und Körper. Hier sind die „armen und kleinen Leute" unter sich. Wenn du hier wohnen müßtest, dann lieber den Tod! habe ich mir oft gesagt. Wie man in diesen Gassen auffällt, wie sich neugierige Augen auf die unbekannte Erscheinung richten! „Was will denn die!" hört man hinter sich. Man wird als Ein¬ dringling angesehen und fühlt sich auch als ein solcher. Ich will gleich hier an dieser Stelle sagen, um es abgetan zu haben, daß man einzelne Straßen nur mit starker Überwindung betreten kann. Einigemal habe ich mich von einer andern Lehrerin begleiten lassen, um einigermaßen ein Schutzgefühl zu haben, aber jede Begleitung stört bei Hausbesuchen, die Leute werden dadurch mißtrauisch. Ich habe denn auch gefunden, daß eine unnah¬ bare Haltung (verbunden mit dem Gefühl, ein Legitimationspapier in der Tasche zu haben) hier wie überall ein guter Schutz ist und jede Belästigung verhindert. Selbstverständlich sind solche Wege besonders an trüben Winternachmittagen durchaus unangenehm und verursachen mir mich immer Herzklopfen. Aber gerade diese Besuche sind oft unumgänglich nötig, wenn man das nötige Material zum Antrag auf Fürsorgeerziehung sammeln will. Die Treppen schon verraten meist die Verhältnisse der Mieter. Manchmal bieten sie, sauber gescheuert und mit weißem Sande bestreut, einen traulich-alt¬ modischen Anblick, oft aber sehen sie so schmutzig aus, daß man sie nur mit Vorsicht passieren kann, oft muß man auch auf einzelnen Stufen über darauf herumkrabbelnde Kinder hinwegschreiten. Vor meinen Hausbesuchen war mir das Wort „Flurnachbar" unverständlich. Jetzt weiß ich, daß in den einzelnen Etagen mehrere Familien, „Parder" genannt, wohnen, ohne daß eine Korridor¬ tür die einzelnen Wohnungen (besonders in den alten Häusern) voneinander trennt. Diese Einrichtung bietet meiner Ansicht nach die vielen Anlässe zum Streite, der unter den Leuten herrscht. Jeder hört und sieht zu viel vom andern, denn wie oft geschah es, daß wenn ich kaum zur Tür hinein war, schon eine neugierige Flurnachbarin ohne weiteres erschien und als ein für mich unwillkommner stummer Zeuge (Vorstellungen gibt es natürlich nicht) die Unter¬ haltung mit anhörte. Jetzt habe ich es allmählich gelernt, diese ungebetnen Gäste zu entfernen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/446
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/446>, abgerufen am 23.07.2024.