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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Stigmatisierte von Dülmen

im nächsten Jahre mit Gottes, Brakes und ihrer nie genug zu rühmenden
Seeleute Hilfe den großen Triumph ihres Lebens, die Vernichtung der von
Philipp dem Zweiten gegen sie und ihr Land ausgesandten Armada, erlebt
hatte, ging zwar nicht ihr Ruhm, aber ihre Freude am Leben zur Rüste.
Sie mußte Essex, der ihren greisen Jahren das hatte sein sollen, was Leicester
ihrer Jugend gewesen war, der Sicherheit des Staats und ihres Throns
opfern. Sie stand allein: sie hatte zu lange gelebt, sie hatte sich überlebt;
ihr Tod war eine Mumifikation, und von den Tränen der Anhänglichkeit und
Liebe, die am Fuße von Mariens Schafott geflossen waren, war, als sie in
überreicher Staatskleidung starren Blickes ihr Leben aushauchte, in den trocknen
Augen derer, von denen die als Sterbelager aufgetürmte" Kissen umstanden
wurden, nichts zu spüren.




Die Stigmatisierte von Dülmen

!n Rom wird die Heiligsprechung der Anna Katharina Emmerich
vorbereitet. Dieser Umstand hat zusammen mit der monumentalen
Beschimpfung Luthers durch Deuifle den Pfarrer Dr. I. Ricks
veranlaßt, die Heilige zu zeichnen, die den verhaßten Luther ver-
Idrängen soll (Emmerich-Brentano. Heiligsprechung der stigma¬
tisierten Augustinernonne A. K. Emmerich und deren fünftes Evangelium nach
Clemens Brentano. Leipzig, Richard Wöpke, 1904). Die Emmerich wurde
in der Bauernschaft Flcunsche bei Kocsfeld am 8. September 1774 als das
fünfte von neun Kindern eines armen Kötters geboren. Sie hat später er¬
zählt, bei ihrer Taufe, die am Tage ihrer Geburt vorgenommen wurde, habe
sie Bewußtsein und die Gabe des Hellsehens gehabt. Sie habe die Gegen¬
wart Gottes im Sakrament gefühlt, die Gebeine der Heiligen leuchten sehen,
alle ihre Vorfahren geschaut bis ins siebente Jahrhundert. Als Kind und
junges Mädchen lebte sie wie alle Bauernkinder der Gegend: hütete Kühe,
diente als Magd, beschäftigte sich eine Zeit lang mit Nähen; doch will sie
schon damals Visionen gehabt haben; der Jesusknabe und Hünnesken (Jo¬
hannes der Täufer) spielten mit ihr, Maria besuchte sie, und später verlobte
sich Jesus mit ihr in Gestalt eines schönen Jünglings. Sie las des Nachts
viel in Erbauungsbüchern, legte sich Abtötungen auf und strebte -- weil sie
keine Mitgift hatte, lauge vergeblich -- ins Kloster. Im Jahre 1802 wurde
sie in den Konvent der Augustinerinnen zu Dülmen aufgenommen, wo sie den
aus Frankreich geflohenen Geistlichen Lambert kennen lernte, der von da ab
ihr Vertrauter blieb. Nachdem sie schon vier Jahre vor ihrem Eintritt ins
Kloster die Dornenkrone empfangen hatte, wie Verwundungen der Stirn be¬
zeugen sollten, empfing sie im Kloster noch ein schmerzendes Kreuzeszeichen
auf die Brust und zuletzt die Wundmale an Händen und Füßen und an der
Seite sowie eine Schulterwunde Christi, von der bis dahin niemand etwas
gewußt hatte. Von dem Tage an, wo dieses geschah, dem 29. Dezember 1812,


Die Stigmatisierte von Dülmen

im nächsten Jahre mit Gottes, Brakes und ihrer nie genug zu rühmenden
Seeleute Hilfe den großen Triumph ihres Lebens, die Vernichtung der von
Philipp dem Zweiten gegen sie und ihr Land ausgesandten Armada, erlebt
hatte, ging zwar nicht ihr Ruhm, aber ihre Freude am Leben zur Rüste.
Sie mußte Essex, der ihren greisen Jahren das hatte sein sollen, was Leicester
ihrer Jugend gewesen war, der Sicherheit des Staats und ihres Throns
opfern. Sie stand allein: sie hatte zu lange gelebt, sie hatte sich überlebt;
ihr Tod war eine Mumifikation, und von den Tränen der Anhänglichkeit und
Liebe, die am Fuße von Mariens Schafott geflossen waren, war, als sie in
überreicher Staatskleidung starren Blickes ihr Leben aushauchte, in den trocknen
Augen derer, von denen die als Sterbelager aufgetürmte» Kissen umstanden
wurden, nichts zu spüren.




Die Stigmatisierte von Dülmen

!n Rom wird die Heiligsprechung der Anna Katharina Emmerich
vorbereitet. Dieser Umstand hat zusammen mit der monumentalen
Beschimpfung Luthers durch Deuifle den Pfarrer Dr. I. Ricks
veranlaßt, die Heilige zu zeichnen, die den verhaßten Luther ver-
Idrängen soll (Emmerich-Brentano. Heiligsprechung der stigma¬
tisierten Augustinernonne A. K. Emmerich und deren fünftes Evangelium nach
Clemens Brentano. Leipzig, Richard Wöpke, 1904). Die Emmerich wurde
in der Bauernschaft Flcunsche bei Kocsfeld am 8. September 1774 als das
fünfte von neun Kindern eines armen Kötters geboren. Sie hat später er¬
zählt, bei ihrer Taufe, die am Tage ihrer Geburt vorgenommen wurde, habe
sie Bewußtsein und die Gabe des Hellsehens gehabt. Sie habe die Gegen¬
wart Gottes im Sakrament gefühlt, die Gebeine der Heiligen leuchten sehen,
alle ihre Vorfahren geschaut bis ins siebente Jahrhundert. Als Kind und
junges Mädchen lebte sie wie alle Bauernkinder der Gegend: hütete Kühe,
diente als Magd, beschäftigte sich eine Zeit lang mit Nähen; doch will sie
schon damals Visionen gehabt haben; der Jesusknabe und Hünnesken (Jo¬
hannes der Täufer) spielten mit ihr, Maria besuchte sie, und später verlobte
sich Jesus mit ihr in Gestalt eines schönen Jünglings. Sie las des Nachts
viel in Erbauungsbüchern, legte sich Abtötungen auf und strebte — weil sie
keine Mitgift hatte, lauge vergeblich — ins Kloster. Im Jahre 1802 wurde
sie in den Konvent der Augustinerinnen zu Dülmen aufgenommen, wo sie den
aus Frankreich geflohenen Geistlichen Lambert kennen lernte, der von da ab
ihr Vertrauter blieb. Nachdem sie schon vier Jahre vor ihrem Eintritt ins
Kloster die Dornenkrone empfangen hatte, wie Verwundungen der Stirn be¬
zeugen sollten, empfing sie im Kloster noch ein schmerzendes Kreuzeszeichen
auf die Brust und zuletzt die Wundmale an Händen und Füßen und an der
Seite sowie eine Schulterwunde Christi, von der bis dahin niemand etwas
gewußt hatte. Von dem Tage an, wo dieses geschah, dem 29. Dezember 1812,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/158>, abgerufen am 15.01.2025.