!nur man heute, drei Jahrzehnte nach dem großen deutschen Einheitskriege, einen Blick auf unser öffentliches Leben wirft, so sieht man eine Reihe von Erscheinungen, die eine nationale Ebbe, einen Rückgang des Idealismus verraten, der unser Volk noch !in den siebziger Jahren beseelte. "Reichsverdrossenheit" nennt man das mit einem vor Jahren schon erfundnen, oder wie es neuerdings heißt, "geprägten" Ausdruck. Es ist wohl eine notwendige Erscheinung in dem Seelenleben des einzelnen Menschen, wie in dem der Völker, daß jeder großen Erregung eine Zeit der Ernüchterung folgt; darum können wir uns nicht wundern, daß auf die ungeheure geistige und sittliche Anspannung der gesamten nationalen Kräfte seit den Befreiungskriegen, bei dem Ringen und Streben des ganzen Volkes nach der Erreichung und der Sicherung der deutschen Einheit, eine Zeit der Abspannung gefolgt ist. Aber was berechtigt die jetzt lebende Generation zur Reichsverdrossenheit? Sie weiß aus eignem Erleben nichts mehr von den Taten, der Sehnsucht, dem Streben und auch den politischen Irrtümern der Väter und der Großväter; ihre ersten politischen Erinnerungen fallen mit dem überwältigenden Hurraruf der gesamten Nation über den Sieg von Sedan zusammen, die Erfüllung des heißen Wunsches zweier Generationen, Kaiser und Reich, ist ihr gewissermaßen schon in die Wiege gelegt worden. Sie hätte am allerwenigsten Ursache zur Unzufriedenheit, aber sie verfällt mehr und mehr diesem Erbübel der Deutschen. Bismarck kannte seine Landsleute sehr gut, er sagte schon bei der Beratung des Sozialistengcsetzcs am 9. Oktober 1878: "Der Deutsche hat an und für sich eine starke Neigung zur Unzufriedenheit. Ich weiß nicht, wer von uns einen zufriedner Landsmann kennt." Den Beginn der Abnahme der Freude am Reich kennzeichnete er schon am 5. Mai 1881 im Reichstage: "Was man hat, verliert an Wert, der Besitz macht gleich¬ gültig; was man hat, das will man nicht, und was man nicht hat, das will man, und so geht es mit dem Deutschen Reiche. Seitdem es wohlbesesfen er¬ scheint, hat man nicht mehr dieselbe lebendige Teilnahme, es ist nichts Neues mehr, es kommt vielen Leuten vor, als wenn es immer so gewesen wäre, namentlich denjenigen, die keine Erinnerung an die Vergangenheit haben, und als ob es immer so bleiben müßte. Ich möchte doch darum sehr inständig
Grenzboten III 1904 g
Reichsverdrossenheit und Vismarcklegende
!nur man heute, drei Jahrzehnte nach dem großen deutschen Einheitskriege, einen Blick auf unser öffentliches Leben wirft, so sieht man eine Reihe von Erscheinungen, die eine nationale Ebbe, einen Rückgang des Idealismus verraten, der unser Volk noch !in den siebziger Jahren beseelte. „Reichsverdrossenheit" nennt man das mit einem vor Jahren schon erfundnen, oder wie es neuerdings heißt, „geprägten" Ausdruck. Es ist wohl eine notwendige Erscheinung in dem Seelenleben des einzelnen Menschen, wie in dem der Völker, daß jeder großen Erregung eine Zeit der Ernüchterung folgt; darum können wir uns nicht wundern, daß auf die ungeheure geistige und sittliche Anspannung der gesamten nationalen Kräfte seit den Befreiungskriegen, bei dem Ringen und Streben des ganzen Volkes nach der Erreichung und der Sicherung der deutschen Einheit, eine Zeit der Abspannung gefolgt ist. Aber was berechtigt die jetzt lebende Generation zur Reichsverdrossenheit? Sie weiß aus eignem Erleben nichts mehr von den Taten, der Sehnsucht, dem Streben und auch den politischen Irrtümern der Väter und der Großväter; ihre ersten politischen Erinnerungen fallen mit dem überwältigenden Hurraruf der gesamten Nation über den Sieg von Sedan zusammen, die Erfüllung des heißen Wunsches zweier Generationen, Kaiser und Reich, ist ihr gewissermaßen schon in die Wiege gelegt worden. Sie hätte am allerwenigsten Ursache zur Unzufriedenheit, aber sie verfällt mehr und mehr diesem Erbübel der Deutschen. Bismarck kannte seine Landsleute sehr gut, er sagte schon bei der Beratung des Sozialistengcsetzcs am 9. Oktober 1878: „Der Deutsche hat an und für sich eine starke Neigung zur Unzufriedenheit. Ich weiß nicht, wer von uns einen zufriedner Landsmann kennt." Den Beginn der Abnahme der Freude am Reich kennzeichnete er schon am 5. Mai 1881 im Reichstage: „Was man hat, verliert an Wert, der Besitz macht gleich¬ gültig; was man hat, das will man nicht, und was man nicht hat, das will man, und so geht es mit dem Deutschen Reiche. Seitdem es wohlbesesfen er¬ scheint, hat man nicht mehr dieselbe lebendige Teilnahme, es ist nichts Neues mehr, es kommt vielen Leuten vor, als wenn es immer so gewesen wäre, namentlich denjenigen, die keine Erinnerung an die Vergangenheit haben, und als ob es immer so bleiben müßte. Ich möchte doch darum sehr inständig
Grenzboten III 1904 g
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Reichsverdrossenheit und Vismarcklegende
!nur man heute, drei Jahrzehnte nach dem großen deutschen
Einheitskriege, einen Blick auf unser öffentliches Leben wirft, so
sieht man eine Reihe von Erscheinungen, die eine nationale Ebbe,
einen Rückgang des Idealismus verraten, der unser Volk noch
!in den siebziger Jahren beseelte. „Reichsverdrossenheit" nennt
man das mit einem vor Jahren schon erfundnen, oder wie es neuerdings heißt,
„geprägten" Ausdruck. Es ist wohl eine notwendige Erscheinung in dem
Seelenleben des einzelnen Menschen, wie in dem der Völker, daß jeder großen
Erregung eine Zeit der Ernüchterung folgt; darum können wir uns nicht
wundern, daß auf die ungeheure geistige und sittliche Anspannung der gesamten
nationalen Kräfte seit den Befreiungskriegen, bei dem Ringen und Streben des
ganzen Volkes nach der Erreichung und der Sicherung der deutschen Einheit,
eine Zeit der Abspannung gefolgt ist. Aber was berechtigt die jetzt lebende
Generation zur Reichsverdrossenheit? Sie weiß aus eignem Erleben nichts
mehr von den Taten, der Sehnsucht, dem Streben und auch den politischen
Irrtümern der Väter und der Großväter; ihre ersten politischen Erinnerungen
fallen mit dem überwältigenden Hurraruf der gesamten Nation über den Sieg
von Sedan zusammen, die Erfüllung des heißen Wunsches zweier Generationen,
Kaiser und Reich, ist ihr gewissermaßen schon in die Wiege gelegt worden. Sie
hätte am allerwenigsten Ursache zur Unzufriedenheit, aber sie verfällt mehr und
mehr diesem Erbübel der Deutschen. Bismarck kannte seine Landsleute sehr
gut, er sagte schon bei der Beratung des Sozialistengcsetzcs am 9. Oktober 1878:
„Der Deutsche hat an und für sich eine starke Neigung zur Unzufriedenheit.
Ich weiß nicht, wer von uns einen zufriedner Landsmann kennt." Den
Beginn der Abnahme der Freude am Reich kennzeichnete er schon am 5. Mai
1881 im Reichstage: „Was man hat, verliert an Wert, der Besitz macht gleich¬
gültig; was man hat, das will man nicht, und was man nicht hat, das will
man, und so geht es mit dem Deutschen Reiche. Seitdem es wohlbesesfen er¬
scheint, hat man nicht mehr dieselbe lebendige Teilnahme, es ist nichts Neues
mehr, es kommt vielen Leuten vor, als wenn es immer so gewesen wäre,
namentlich denjenigen, die keine Erinnerung an die Vergangenheit haben, und
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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/69>, abgerufen am 22.07.2024.
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