An, diese Unzufriedenheit also auf die Regierung abzuwerfen, die Regierung anzuklagen, das ist ja der Presse gnr nicht schwer. Das Motiv, warum wir mit unsern Reformen nicht vorwärts kommen, ist, daß es so sehr viel Leute gibt, die gar kein Be¬ dürfnis und keine Neigung haben, der jetzigen Regierung bei irgend einer Verbesserung zu helfen. Es ist eine alte Whistregel: "Dem Feinde kein Stich!" Das heißt für Sie, der Regierung kein Erfolg, denn "der Feind" bei uns ist die Negierung. (Oho! und Unruhe links. Sehr richtig! rechts.) Wie bereitwillig aeceptierte der deutsche Wähler stets die Behauptung, daß er eine Regierung hat, mit der er unzufrieden zu sein berechtigt ist; es ist ihm sogar nicht unlieb, wenn er eine solche wirklich hat, denn er hat noch so viel Gewissen, daß er sich doch zuzeiten schämt, auf die Regierung, die es nicht verdient, zu schimpfen. Hat er eine, auf die er mit Recht schimpfen kann, so ist es ihm eine angenehme Satisfaktion. Das war das Erzeugnis der Politik in frühern Zeiten, wo die Regierungen im ganzen, ich will nicht sagen schlechter und ungeschickter waren, aber sich weniger aus Eindrücken machten und mehr Macht hatten; da war das Schimpfen berechtigt, und es gehört zum deutscheu Bedürfnis, beim Biere von der Negierung schlecht zu reden, und wer den Ton anschlägt, der hat noch heute Wähler, von dem sagt man: Das ist unser Manu, für den stimmen wir, das ist kein Regierungsmensch, der ist nicht servil, der wird dem Kanzler "den Willen brechen." -- So sprach sich Fürst Bismarck im deutschen Reichstag am 12. Juni 1882 mit tiefem Unmut über die Stimmung und die Stimmungsmache im Lande aus. Es wird wohl niemand behaupten wollen, daß sich während eines Vierteljahrhuuderts daran viel geändert habe. In allen Ecken rumoren nach wie vor die unruhigen Geister, denen angeblich zu wenig geschieht, oder denen das, was geschieht, nie recht ist, die Geister der Unzufriedenheit und des innern Haders, woran es unserm Vaterlande zu allen Zeiten des Friedens niemals gemangelt hat, und die immer bestrebt sind, der Gegenwart die Freude am Erreichten zu vergällen. Ihnen ist es wirklich eine "angenehme Satisfaktion," mit Recht und in Wahrheit behaupten zu können, daß Bülow kein Bismarck ist.
Grenzboten III 1904 57
Zur Vismarcklegende
An, diese Unzufriedenheit also auf die Regierung abzuwerfen, die Regierung anzuklagen, das ist ja der Presse gnr nicht schwer. Das Motiv, warum wir mit unsern Reformen nicht vorwärts kommen, ist, daß es so sehr viel Leute gibt, die gar kein Be¬ dürfnis und keine Neigung haben, der jetzigen Regierung bei irgend einer Verbesserung zu helfen. Es ist eine alte Whistregel: „Dem Feinde kein Stich!" Das heißt für Sie, der Regierung kein Erfolg, denn „der Feind" bei uns ist die Negierung. (Oho! und Unruhe links. Sehr richtig! rechts.) Wie bereitwillig aeceptierte der deutsche Wähler stets die Behauptung, daß er eine Regierung hat, mit der er unzufrieden zu sein berechtigt ist; es ist ihm sogar nicht unlieb, wenn er eine solche wirklich hat, denn er hat noch so viel Gewissen, daß er sich doch zuzeiten schämt, auf die Regierung, die es nicht verdient, zu schimpfen. Hat er eine, auf die er mit Recht schimpfen kann, so ist es ihm eine angenehme Satisfaktion. Das war das Erzeugnis der Politik in frühern Zeiten, wo die Regierungen im ganzen, ich will nicht sagen schlechter und ungeschickter waren, aber sich weniger aus Eindrücken machten und mehr Macht hatten; da war das Schimpfen berechtigt, und es gehört zum deutscheu Bedürfnis, beim Biere von der Negierung schlecht zu reden, und wer den Ton anschlägt, der hat noch heute Wähler, von dem sagt man: Das ist unser Manu, für den stimmen wir, das ist kein Regierungsmensch, der ist nicht servil, der wird dem Kanzler „den Willen brechen." — So sprach sich Fürst Bismarck im deutschen Reichstag am 12. Juni 1882 mit tiefem Unmut über die Stimmung und die Stimmungsmache im Lande aus. Es wird wohl niemand behaupten wollen, daß sich während eines Vierteljahrhuuderts daran viel geändert habe. In allen Ecken rumoren nach wie vor die unruhigen Geister, denen angeblich zu wenig geschieht, oder denen das, was geschieht, nie recht ist, die Geister der Unzufriedenheit und des innern Haders, woran es unserm Vaterlande zu allen Zeiten des Friedens niemals gemangelt hat, und die immer bestrebt sind, der Gegenwart die Freude am Erreichten zu vergällen. Ihnen ist es wirklich eine „angenehme Satisfaktion," mit Recht und in Wahrheit behaupten zu können, daß Bülow kein Bismarck ist.
Grenzboten III 1904 57
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An, diese Unzufriedenheit also auf die Regierung abzuwerfen, die
Regierung anzuklagen, das ist ja der Presse gnr nicht schwer.
Das Motiv, warum wir mit unsern Reformen nicht vorwärts
kommen, ist, daß es so sehr viel Leute gibt, die gar kein Be¬
dürfnis und keine Neigung haben, der jetzigen Regierung bei
irgend einer Verbesserung zu helfen. Es ist eine alte Whistregel: „Dem Feinde
kein Stich!" Das heißt für Sie, der Regierung kein Erfolg, denn „der Feind"
bei uns ist die Negierung. (Oho! und Unruhe links. Sehr richtig! rechts.)
Wie bereitwillig aeceptierte der deutsche Wähler stets die Behauptung, daß er
eine Regierung hat, mit der er unzufrieden zu sein berechtigt ist; es ist ihm
sogar nicht unlieb, wenn er eine solche wirklich hat, denn er hat noch so viel
Gewissen, daß er sich doch zuzeiten schämt, auf die Regierung, die es nicht
verdient, zu schimpfen. Hat er eine, auf die er mit Recht schimpfen kann, so
ist es ihm eine angenehme Satisfaktion. Das war das Erzeugnis der Politik
in frühern Zeiten, wo die Regierungen im ganzen, ich will nicht sagen schlechter
und ungeschickter waren, aber sich weniger aus Eindrücken machten und mehr
Macht hatten; da war das Schimpfen berechtigt, und es gehört zum deutscheu
Bedürfnis, beim Biere von der Negierung schlecht zu reden, und wer den Ton
anschlägt, der hat noch heute Wähler, von dem sagt man: Das ist unser Manu,
für den stimmen wir, das ist kein Regierungsmensch, der ist nicht servil, der
wird dem Kanzler „den Willen brechen." — So sprach sich Fürst Bismarck im
deutschen Reichstag am 12. Juni 1882 mit tiefem Unmut über die Stimmung
und die Stimmungsmache im Lande aus. Es wird wohl niemand behaupten
wollen, daß sich während eines Vierteljahrhuuderts daran viel geändert habe.
In allen Ecken rumoren nach wie vor die unruhigen Geister, denen angeblich
zu wenig geschieht, oder denen das, was geschieht, nie recht ist, die Geister der
Unzufriedenheit und des innern Haders, woran es unserm Vaterlande zu allen
Zeiten des Friedens niemals gemangelt hat, und die immer bestrebt sind, der
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„angenehme Satisfaktion," mit Recht und in Wahrheit behaupten zu können,
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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/435>, abgerufen am 22.07.2024.
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