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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Gall i'säivivu"

"mehr von Algier als vom Krieg" und glaubte offenbar "früher kriegsfertig zu
sein als die Preußen se Ah wroMer xroirixtsiriknt 1a <zg.inxaMe." Später
kamen dann freilich Augenblicke, wo sich der Kaiserin die ganze Schwere des
von Frankreich heraufbeschwornen Krieges auf die ahnende Seele legte und sie
aller ihrer innewohnenden und anerzognen Frömmigkeit bedürfte, nicht auf der
Schwelle des Krieges zusammenzubrechen.




Gall rsdiviv^L

is Liebhaberei sind die Phrenologie und noch mehr die Kranio-
stopie seit ihrer Begründung durch Gall von einzelnen immer
betrieben worden, aber die amtlichen Vertreter der Wissenschaft
verhielten sich der großen Mehrzahl nach ablehnend dagegen.
Indem jedoch von 1870 an durch Experiment und Leichensektion
festgestellt wurde, daß eine Region der Intelligenz, ein Hör-, ein Seh-, ein
Sprach-, ein motorisches Zentrum im Gehirn deutlich unterschieden und um¬
grenzt werden könnten, so war damit die Richtigkeit des einen von Galls Grund¬
gedanken, die Lokalisation der Anlagen und Triebe im Gehirn, erwiesen. Der
andre Grundgedanke, daß Größe und Gestalt des Gehirns die Größe und Form
des Schädels bestimmen, war wohl ohnehin niemals bezweifelt worden, und
eine Zeit lang ist ja von den Ethnologen der Schädel für das wichtigste Kenn¬
zeichen der seelischen Begabung der verschiednen Völker angesehen worden.
Fraglich bleibt jetzt bloß (nach Autoritäten wie Hyrtl wäre die Frage schon
längst im verneinenden Sinne entschieden), ob sich die vermeintlichen Entdeckungen
bestätigen werden, durch die sich Gall zur Kraniostopie berechtigt glaubte: ob
die Differenzierung und die Lokalisierung so weit gehen, wie er annahm -- er
zählte dreiundvierzig "Sinne" und ebenso viele ihnen dienende Organe --, ob
nicht eine und dieselbe Hirnregion verschiedne Funktionen ausüben kann, ob
alle verschiednen Hirnorgane, ihr Dasein angenommen, bis an den Schädel
reichen und dessen Bildung so stark beeinflussen, daß sie an seiner äußern Ober¬
flüche erkannt werden können. Ähnlich hat auch Goethe geurteilt, der Galls
Vorträgen in Halle beiwohnte. "Seine Lehre mußte gleich so wie sie bekannt
zu werden anfing, mir dem ersten Anblicke nach zusagen. Ich war gewohnt,
das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dein
Auge kein Geheimnis bleibt, daß die verschiednen Sinne als Zweige des Rücken¬
marks ausfließen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber
schwerer zu beobachten sind, bis allmählich die angeschwollne Masse Unterschied
und Ursprung völlig verbirgt. Da nun aber diese organische Operation sich in
allen Systemen des Tieres von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen
bis zum Unbemerkbaren steigert, so war mir der Hauptbegriff keineswegs fremd,
und sollte Gall, wie man annahm, auch durch seinen Scharfblick verleitet, zu
sehr ins Spezifische gehn, so hing es ja nur von uns ab, ein scheinbar para-


Gall i'säivivu»

„mehr von Algier als vom Krieg" und glaubte offenbar „früher kriegsfertig zu
sein als die Preußen se Ah wroMer xroirixtsiriknt 1a <zg.inxaMe." Später
kamen dann freilich Augenblicke, wo sich der Kaiserin die ganze Schwere des
von Frankreich heraufbeschwornen Krieges auf die ahnende Seele legte und sie
aller ihrer innewohnenden und anerzognen Frömmigkeit bedürfte, nicht auf der
Schwelle des Krieges zusammenzubrechen.




Gall rsdiviv^L

is Liebhaberei sind die Phrenologie und noch mehr die Kranio-
stopie seit ihrer Begründung durch Gall von einzelnen immer
betrieben worden, aber die amtlichen Vertreter der Wissenschaft
verhielten sich der großen Mehrzahl nach ablehnend dagegen.
Indem jedoch von 1870 an durch Experiment und Leichensektion
festgestellt wurde, daß eine Region der Intelligenz, ein Hör-, ein Seh-, ein
Sprach-, ein motorisches Zentrum im Gehirn deutlich unterschieden und um¬
grenzt werden könnten, so war damit die Richtigkeit des einen von Galls Grund¬
gedanken, die Lokalisation der Anlagen und Triebe im Gehirn, erwiesen. Der
andre Grundgedanke, daß Größe und Gestalt des Gehirns die Größe und Form
des Schädels bestimmen, war wohl ohnehin niemals bezweifelt worden, und
eine Zeit lang ist ja von den Ethnologen der Schädel für das wichtigste Kenn¬
zeichen der seelischen Begabung der verschiednen Völker angesehen worden.
Fraglich bleibt jetzt bloß (nach Autoritäten wie Hyrtl wäre die Frage schon
längst im verneinenden Sinne entschieden), ob sich die vermeintlichen Entdeckungen
bestätigen werden, durch die sich Gall zur Kraniostopie berechtigt glaubte: ob
die Differenzierung und die Lokalisierung so weit gehen, wie er annahm — er
zählte dreiundvierzig „Sinne" und ebenso viele ihnen dienende Organe —, ob
nicht eine und dieselbe Hirnregion verschiedne Funktionen ausüben kann, ob
alle verschiednen Hirnorgane, ihr Dasein angenommen, bis an den Schädel
reichen und dessen Bildung so stark beeinflussen, daß sie an seiner äußern Ober¬
flüche erkannt werden können. Ähnlich hat auch Goethe geurteilt, der Galls
Vorträgen in Halle beiwohnte. „Seine Lehre mußte gleich so wie sie bekannt
zu werden anfing, mir dem ersten Anblicke nach zusagen. Ich war gewohnt,
das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dein
Auge kein Geheimnis bleibt, daß die verschiednen Sinne als Zweige des Rücken¬
marks ausfließen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber
schwerer zu beobachten sind, bis allmählich die angeschwollne Masse Unterschied
und Ursprung völlig verbirgt. Da nun aber diese organische Operation sich in
allen Systemen des Tieres von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen
bis zum Unbemerkbaren steigert, so war mir der Hauptbegriff keineswegs fremd,
und sollte Gall, wie man annahm, auch durch seinen Scharfblick verleitet, zu
sehr ins Spezifische gehn, so hing es ja nur von uns ab, ein scheinbar para-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/640>, abgerufen am 13.11.2024.