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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Lrinnerungen

ist von doppeltem Interesse. Das Amethystcrhngium wächst in Südtirol, Kram
und Fiume; in Südtirol dürfte es Dürer 1493 oder kurz vorher mit Ent¬
zücken kennen gelernt und dann auf dem Porträt verwandt haben. Freilich
nannte man es deutsch damals anders; Vilmorins Blumengärtlein übersetzt
ol'MZmm aiustliMinum und ör/uMin alpinuin mit Amethyst-Eilend, Alpen-
Ellelid; den Begriff Elend im damaligen Sinne, d. h. Ausland, Fremde und
Heimatsehnsncht, bezeichnet also die Pflanze in der Hand des jungen Malers,
dessen Wanderschaft sich ihrem Ende näherte. -- Endlich der Dresdner Cruci-
fixus. Eindrücke venezianischer Kunst haben 1506 ungeschaffen an dem frei
beleuchteten Körper, dem tief herunter schwarz verhangnen Himmel, dem fernen
Abendlichtsaum am Horizont; aber der im Leiden brechende Ausdruck des
Antlitzes, dessen Augen am Himmel festhängen, das im Sturme flatternde
Lendentuch und die statt aller Passionsbühne in einsamster Stille mittrauernde
schöne Natur waren Dinge, die damals nur in Dürers Jnnern so lebten. Der
von den drei Bäumen dem Kreuze zunächststehende ist eine Trauerbirke, deren
herniederhangende Zweige, wie sich das deutsche Volk seit alter Zeit erzählt,
von Gott an jenem Tage die gebeugte Haltung als Merkmal der Gattung
b Rudolf wustmann ekommen haben.__




Erinnerungen
von v, öl'. Robert Bosse (Fortsetzung)
Bei dem Ztaatsministerium (1.373 bis ^331.)

uirch die Versetzung an das Staatsministerium bekam mein ganzes
Leben ein ganz andres Gesicht. Aus der stillen und harmlosen
Verwaltungstätigkeit war ich mit einem Schlage in den Bannkreis
großer politischer Interessen versetzt. Zwar trug ich glücklicherweise keine
politische Verantwortlichkeit; aber die politischen Tagesfragen traten
! unmittelbar an mich heran und verlangten gründliche Orientierung.
Dies und die Berührung mit völlig andern Personenkreisen, zu der meine amtliche
Tätigkeit mich führte, ließ mich eine ganz andre Luft atmen als bisher. Ich fand
mich aber ohne sonderliche Schwierigkeiten in diese Veränderung hinein. Das Haupt¬
verdienst daran hatte die vornehme, jederzeit liebenswürdige Persönlichkeit des Grafen
Otto zu Stolberg. Zustatten kam mir meine natürliche Unbefangenheit. Sie ergab
sich aus meinem Temperament und ließ mich auch solche Dinge leicht nehmen, deren
Wichtigkeit wohl hätte zu ernsterer Bedrückung Anlaß geben können.

Mein nächster Vorgesetzter nach dem Grafen Stolberg war der Unterstaats¬
sekretär Homeyer, ein Sohn des berühmten germanistischen Professors und Heraus¬
gebers des Sachsenspiegels. Er war vor seiner Ernennung zum Unterstaatssekretär
des Staatsministeriums Direktor der Bauabteiluug im Handelsministerium gewesen,
kannte den bureaukratischen Dienst und die Ressortverhältnisse sehr genau und wachte
mit einer an Pedanterie streifenden Ängstlichkeit über der Jnnehaltung aller her¬
gebrachten -- auch der kleinsten -- bureaukratischen Formen. In den Sitzungen
des Staatsministeriums hatte er das Protokoll zu führen, und er arbeitete diese
Protokolle in vorzüglicher, vielleicht hie und da ein wenig zu weitläufiger Form
mit der äußersten Gewissenhaftigkeit aus. Die höchst verwickelten, zuweilen eines


Lrinnerungen

ist von doppeltem Interesse. Das Amethystcrhngium wächst in Südtirol, Kram
und Fiume; in Südtirol dürfte es Dürer 1493 oder kurz vorher mit Ent¬
zücken kennen gelernt und dann auf dem Porträt verwandt haben. Freilich
nannte man es deutsch damals anders; Vilmorins Blumengärtlein übersetzt
ol'MZmm aiustliMinum und ör/uMin alpinuin mit Amethyst-Eilend, Alpen-
Ellelid; den Begriff Elend im damaligen Sinne, d. h. Ausland, Fremde und
Heimatsehnsncht, bezeichnet also die Pflanze in der Hand des jungen Malers,
dessen Wanderschaft sich ihrem Ende näherte. — Endlich der Dresdner Cruci-
fixus. Eindrücke venezianischer Kunst haben 1506 ungeschaffen an dem frei
beleuchteten Körper, dem tief herunter schwarz verhangnen Himmel, dem fernen
Abendlichtsaum am Horizont; aber der im Leiden brechende Ausdruck des
Antlitzes, dessen Augen am Himmel festhängen, das im Sturme flatternde
Lendentuch und die statt aller Passionsbühne in einsamster Stille mittrauernde
schöne Natur waren Dinge, die damals nur in Dürers Jnnern so lebten. Der
von den drei Bäumen dem Kreuze zunächststehende ist eine Trauerbirke, deren
herniederhangende Zweige, wie sich das deutsche Volk seit alter Zeit erzählt,
von Gott an jenem Tage die gebeugte Haltung als Merkmal der Gattung
b Rudolf wustmann ekommen haben.__




Erinnerungen
von v, öl'. Robert Bosse (Fortsetzung)
Bei dem Ztaatsministerium (1.373 bis ^331.)

uirch die Versetzung an das Staatsministerium bekam mein ganzes
Leben ein ganz andres Gesicht. Aus der stillen und harmlosen
Verwaltungstätigkeit war ich mit einem Schlage in den Bannkreis
großer politischer Interessen versetzt. Zwar trug ich glücklicherweise keine
politische Verantwortlichkeit; aber die politischen Tagesfragen traten
! unmittelbar an mich heran und verlangten gründliche Orientierung.
Dies und die Berührung mit völlig andern Personenkreisen, zu der meine amtliche
Tätigkeit mich führte, ließ mich eine ganz andre Luft atmen als bisher. Ich fand
mich aber ohne sonderliche Schwierigkeiten in diese Veränderung hinein. Das Haupt¬
verdienst daran hatte die vornehme, jederzeit liebenswürdige Persönlichkeit des Grafen
Otto zu Stolberg. Zustatten kam mir meine natürliche Unbefangenheit. Sie ergab
sich aus meinem Temperament und ließ mich auch solche Dinge leicht nehmen, deren
Wichtigkeit wohl hätte zu ernsterer Bedrückung Anlaß geben können.

Mein nächster Vorgesetzter nach dem Grafen Stolberg war der Unterstaats¬
sekretär Homeyer, ein Sohn des berühmten germanistischen Professors und Heraus¬
gebers des Sachsenspiegels. Er war vor seiner Ernennung zum Unterstaatssekretär
des Staatsministeriums Direktor der Bauabteiluug im Handelsministerium gewesen,
kannte den bureaukratischen Dienst und die Ressortverhältnisse sehr genau und wachte
mit einer an Pedanterie streifenden Ängstlichkeit über der Jnnehaltung aller her¬
gebrachten — auch der kleinsten — bureaukratischen Formen. In den Sitzungen
des Staatsministeriums hatte er das Protokoll zu führen, und er arbeitete diese
Protokolle in vorzüglicher, vielleicht hie und da ein wenig zu weitläufiger Form
mit der äußersten Gewissenhaftigkeit aus. Die höchst verwickelten, zuweilen eines


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[0165] Lrinnerungen ist von doppeltem Interesse. Das Amethystcrhngium wächst in Südtirol, Kram und Fiume; in Südtirol dürfte es Dürer 1493 oder kurz vorher mit Ent¬ zücken kennen gelernt und dann auf dem Porträt verwandt haben. Freilich nannte man es deutsch damals anders; Vilmorins Blumengärtlein übersetzt ol'MZmm aiustliMinum und ör/uMin alpinuin mit Amethyst-Eilend, Alpen- Ellelid; den Begriff Elend im damaligen Sinne, d. h. Ausland, Fremde und Heimatsehnsncht, bezeichnet also die Pflanze in der Hand des jungen Malers, dessen Wanderschaft sich ihrem Ende näherte. — Endlich der Dresdner Cruci- fixus. Eindrücke venezianischer Kunst haben 1506 ungeschaffen an dem frei beleuchteten Körper, dem tief herunter schwarz verhangnen Himmel, dem fernen Abendlichtsaum am Horizont; aber der im Leiden brechende Ausdruck des Antlitzes, dessen Augen am Himmel festhängen, das im Sturme flatternde Lendentuch und die statt aller Passionsbühne in einsamster Stille mittrauernde schöne Natur waren Dinge, die damals nur in Dürers Jnnern so lebten. Der von den drei Bäumen dem Kreuze zunächststehende ist eine Trauerbirke, deren herniederhangende Zweige, wie sich das deutsche Volk seit alter Zeit erzählt, von Gott an jenem Tage die gebeugte Haltung als Merkmal der Gattung b Rudolf wustmann ekommen haben.__ Erinnerungen von v, öl'. Robert Bosse (Fortsetzung) Bei dem Ztaatsministerium (1.373 bis ^331.) uirch die Versetzung an das Staatsministerium bekam mein ganzes Leben ein ganz andres Gesicht. Aus der stillen und harmlosen Verwaltungstätigkeit war ich mit einem Schlage in den Bannkreis großer politischer Interessen versetzt. Zwar trug ich glücklicherweise keine politische Verantwortlichkeit; aber die politischen Tagesfragen traten ! unmittelbar an mich heran und verlangten gründliche Orientierung. Dies und die Berührung mit völlig andern Personenkreisen, zu der meine amtliche Tätigkeit mich führte, ließ mich eine ganz andre Luft atmen als bisher. Ich fand mich aber ohne sonderliche Schwierigkeiten in diese Veränderung hinein. Das Haupt¬ verdienst daran hatte die vornehme, jederzeit liebenswürdige Persönlichkeit des Grafen Otto zu Stolberg. Zustatten kam mir meine natürliche Unbefangenheit. Sie ergab sich aus meinem Temperament und ließ mich auch solche Dinge leicht nehmen, deren Wichtigkeit wohl hätte zu ernsterer Bedrückung Anlaß geben können. Mein nächster Vorgesetzter nach dem Grafen Stolberg war der Unterstaats¬ sekretär Homeyer, ein Sohn des berühmten germanistischen Professors und Heraus¬ gebers des Sachsenspiegels. Er war vor seiner Ernennung zum Unterstaatssekretär des Staatsministeriums Direktor der Bauabteiluug im Handelsministerium gewesen, kannte den bureaukratischen Dienst und die Ressortverhältnisse sehr genau und wachte mit einer an Pedanterie streifenden Ängstlichkeit über der Jnnehaltung aller her¬ gebrachten — auch der kleinsten — bureaukratischen Formen. In den Sitzungen des Staatsministeriums hatte er das Protokoll zu führen, und er arbeitete diese Protokolle in vorzüglicher, vielleicht hie und da ein wenig zu weitläufiger Form mit der äußersten Gewissenhaftigkeit aus. Die höchst verwickelten, zuweilen eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/165>, abgerufen am 13.11.2024.