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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Rußland in Vorderasien

Vaterland sah. mußte ein preußischer Beamter und Patriot werden, wenn
er für Deutschland arbeiten wollte, weil die Institutionen des Reichs keinen
sichern Grund mehr dafür boten. So zerfielen das alte Reich und der Reichs¬
patriotismus, sie wurden abgelöst durch die lebenskräftigen Einzelstaaten und den
sich an sie anschließenden Souderpatriotismus, vor allen den preußischen, und
indem sich aus jenen die neue Neichseinhcit bildete, entstand auch ein neues,
nicht an das alte Reich anknüpfendes Nationalgefühl. Für diese Wandlung
ist wieder Bismarck vorbildlich. Kein Wunder, daß bei so verschlungnen Ent¬
wicklungsgange der deutsche Patriotismus noch immer nicht dieselbe Stärke
wie bei früher geeinten Kulturvölkern erlaugt hat.




Rußland in Vorderasien
(Schluß)

icht in allen Gebieten der russischen Grenzländer ist der Ausbau
des Verkehrsnetzes in gleichem Maße von der Kriegsbereitschaft
abhängig. In Ländern wie die Mandschurei und Persien, in
denen den Russen keine nennenswerte eigne Kraft entgegentritt,
gewinnen sie nur durch den Ban von Bahnen einen politischen
und militärischen Einfluß, der mit der Zeit ohne Schwertstreich zur vollen
Beherrschung dieser Länder führen wird. In Afghanistan und in Kleinasien
dagegen treten diesem Vorschreiten die Interessen zweier Staaten entgegen,
deren Grundlagen erschüttert würden, wenn sie ein solches Vorgehen Rußlands
duldeten: der Türkei und Indien-Englands.

Unter diesen Umständen hat Rußland seit Jahren die eingehendsten Vor¬
bereitungen getroffen, die Feldzuge, die so unvermeidlich sind, wie die Welt¬
geschichte fortschreitet, günstig zu eröffnen. Für eine Operation gegen Afghanistan
bieten sich den Russen mit Notwendigkeit drei Operationsrichtnngen, die die-
'eiden geblieben sind, seitdem für die Eröffnung des Feldzugs dieselben lokalen
"edingungcn bestehn, wie hente, also seit der Eroberung des Khanats Chotand
l>n Jahre' 1876.B

Nach dein EntWurfe Skobelews waren 1878 die einzelnen Kolonnen in
der Weise angesetzt, daß Kolonne Grotcnhelm von Merw auf Herat, Kolonne
Kaufmann vou Samarkand über Bates und den Bamianpaß auf Kabul, Ko¬
lonne Abrmuow über das Pamir ins Tschitral vorgehn sollte. Allerdings
läßt die geringe Stärke des Expeditionskorps (20000 Mann) es zweifelhaft
erscheinen, ob die Russen ernsthaft an eine Offensive dachten. Näher liegt wohl
die Annahme, daß sie durch eine Demonstration an der Nordgrenze von
Afghanistan einen Druck auf das Verhalten Englands in der türkischen Frage
auszuüben suchten. Dein Vorgehen wurde, als es kaum eingeleitet war, durch
den Beginn des Berliner Kongresses ein Ende bereitet.

Das nächste Ziel der russischen Operation ist eine weiter vorgeschobne


Rußland in Vorderasien

Vaterland sah. mußte ein preußischer Beamter und Patriot werden, wenn
er für Deutschland arbeiten wollte, weil die Institutionen des Reichs keinen
sichern Grund mehr dafür boten. So zerfielen das alte Reich und der Reichs¬
patriotismus, sie wurden abgelöst durch die lebenskräftigen Einzelstaaten und den
sich an sie anschließenden Souderpatriotismus, vor allen den preußischen, und
indem sich aus jenen die neue Neichseinhcit bildete, entstand auch ein neues,
nicht an das alte Reich anknüpfendes Nationalgefühl. Für diese Wandlung
ist wieder Bismarck vorbildlich. Kein Wunder, daß bei so verschlungnen Ent¬
wicklungsgange der deutsche Patriotismus noch immer nicht dieselbe Stärke
wie bei früher geeinten Kulturvölkern erlaugt hat.




Rußland in Vorderasien
(Schluß)

icht in allen Gebieten der russischen Grenzländer ist der Ausbau
des Verkehrsnetzes in gleichem Maße von der Kriegsbereitschaft
abhängig. In Ländern wie die Mandschurei und Persien, in
denen den Russen keine nennenswerte eigne Kraft entgegentritt,
gewinnen sie nur durch den Ban von Bahnen einen politischen
und militärischen Einfluß, der mit der Zeit ohne Schwertstreich zur vollen
Beherrschung dieser Länder führen wird. In Afghanistan und in Kleinasien
dagegen treten diesem Vorschreiten die Interessen zweier Staaten entgegen,
deren Grundlagen erschüttert würden, wenn sie ein solches Vorgehen Rußlands
duldeten: der Türkei und Indien-Englands.

Unter diesen Umständen hat Rußland seit Jahren die eingehendsten Vor¬
bereitungen getroffen, die Feldzuge, die so unvermeidlich sind, wie die Welt¬
geschichte fortschreitet, günstig zu eröffnen. Für eine Operation gegen Afghanistan
bieten sich den Russen mit Notwendigkeit drei Operationsrichtnngen, die die-
'eiden geblieben sind, seitdem für die Eröffnung des Feldzugs dieselben lokalen
"edingungcn bestehn, wie hente, also seit der Eroberung des Khanats Chotand
l>n Jahre' 1876.B

Nach dein EntWurfe Skobelews waren 1878 die einzelnen Kolonnen in
der Weise angesetzt, daß Kolonne Grotcnhelm von Merw auf Herat, Kolonne
Kaufmann vou Samarkand über Bates und den Bamianpaß auf Kabul, Ko¬
lonne Abrmuow über das Pamir ins Tschitral vorgehn sollte. Allerdings
läßt die geringe Stärke des Expeditionskorps (20000 Mann) es zweifelhaft
erscheinen, ob die Russen ernsthaft an eine Offensive dachten. Näher liegt wohl
die Annahme, daß sie durch eine Demonstration an der Nordgrenze von
Afghanistan einen Druck auf das Verhalten Englands in der türkischen Frage
auszuüben suchten. Dein Vorgehen wurde, als es kaum eingeleitet war, durch
den Beginn des Berliner Kongresses ein Ende bereitet.

Das nächste Ziel der russischen Operation ist eine weiter vorgeschobne


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[0597] Rußland in Vorderasien Vaterland sah. mußte ein preußischer Beamter und Patriot werden, wenn er für Deutschland arbeiten wollte, weil die Institutionen des Reichs keinen sichern Grund mehr dafür boten. So zerfielen das alte Reich und der Reichs¬ patriotismus, sie wurden abgelöst durch die lebenskräftigen Einzelstaaten und den sich an sie anschließenden Souderpatriotismus, vor allen den preußischen, und indem sich aus jenen die neue Neichseinhcit bildete, entstand auch ein neues, nicht an das alte Reich anknüpfendes Nationalgefühl. Für diese Wandlung ist wieder Bismarck vorbildlich. Kein Wunder, daß bei so verschlungnen Ent¬ wicklungsgange der deutsche Patriotismus noch immer nicht dieselbe Stärke wie bei früher geeinten Kulturvölkern erlaugt hat. Rußland in Vorderasien (Schluß) icht in allen Gebieten der russischen Grenzländer ist der Ausbau des Verkehrsnetzes in gleichem Maße von der Kriegsbereitschaft abhängig. In Ländern wie die Mandschurei und Persien, in denen den Russen keine nennenswerte eigne Kraft entgegentritt, gewinnen sie nur durch den Ban von Bahnen einen politischen und militärischen Einfluß, der mit der Zeit ohne Schwertstreich zur vollen Beherrschung dieser Länder führen wird. In Afghanistan und in Kleinasien dagegen treten diesem Vorschreiten die Interessen zweier Staaten entgegen, deren Grundlagen erschüttert würden, wenn sie ein solches Vorgehen Rußlands duldeten: der Türkei und Indien-Englands. Unter diesen Umständen hat Rußland seit Jahren die eingehendsten Vor¬ bereitungen getroffen, die Feldzuge, die so unvermeidlich sind, wie die Welt¬ geschichte fortschreitet, günstig zu eröffnen. Für eine Operation gegen Afghanistan bieten sich den Russen mit Notwendigkeit drei Operationsrichtnngen, die die- 'eiden geblieben sind, seitdem für die Eröffnung des Feldzugs dieselben lokalen "edingungcn bestehn, wie hente, also seit der Eroberung des Khanats Chotand l>n Jahre' 1876.B Nach dein EntWurfe Skobelews waren 1878 die einzelnen Kolonnen in der Weise angesetzt, daß Kolonne Grotcnhelm von Merw auf Herat, Kolonne Kaufmann vou Samarkand über Bates und den Bamianpaß auf Kabul, Ko¬ lonne Abrmuow über das Pamir ins Tschitral vorgehn sollte. Allerdings läßt die geringe Stärke des Expeditionskorps (20000 Mann) es zweifelhaft erscheinen, ob die Russen ernsthaft an eine Offensive dachten. Näher liegt wohl die Annahme, daß sie durch eine Demonstration an der Nordgrenze von Afghanistan einen Druck auf das Verhalten Englands in der türkischen Frage auszuüben suchten. Dein Vorgehen wurde, als es kaum eingeleitet war, durch den Beginn des Berliner Kongresses ein Ende bereitet. Das nächste Ziel der russischen Operation ist eine weiter vorgeschobne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/597>, abgerufen am 21.11.2024.