Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Stand und Kirche.

Die Menschen leben von Anfang an in Verbänden,
die mit steigender Kultur immer größer, immer reicher an Beziehungen zu audern
Verbänden und in sich selbst immer verwickelter werden. Die Verbände bedürfen
von dem Augenblick ihrer Entstehung an eines Leiters. Tapferkeit, Klugheit, reli¬
giöses Ansehen sind die Eigenschaften, mit denen man in ursprünglichen Zuständen
in die führende Stellung gelangt. Es hängt von der Anlage des zum Verbände
vereinigten Volkes ab, welche der Eigenschaften, sofern sie nicht gerade beisammen
vorkommen, den Ausschlag gibt; doch wird im allgemeinen in jugendlichen Zeit¬
altern die Tapferkeit deu ersten Rang behaupten. Es bildet sich also die Arbeits¬
teilung zwischen Herren und Priestern und damit, wie bei jeder Arbeitsteilung
auf einem Gebiet, die ständig wiederkehrende Veranlassung zu Reibungen und
Streitigkeiten. "Uralt, sagte Bismnrck in seiner großen Rede über den Kultur¬
kampf vom 10. März 1873, so alt wie das Menschengeschlecht ist der Mnchtstreit
zwischen Königinn, und Priestertum." Beispiele hierfür sind jedem gegenwärtig,
wie aus der alten Geschichte der religiös begabten Juden; Bismarck erinnerte
damals an Agamemnon und Kalchas in Antis. Aber im Altertum, dessen Leben
mehr in dieser Welt wurzelte, siegte doch, im großen betrachtet, das Königtum: nur
der Staat entwickelte sich, aber nicht die Kirche, sondern Nationalreligionen.

Eben dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen vorchristlicher und
nachchristlicher Zeit, daß in dieser eine Kirche entsteht. Und wieder sondern sich
hierin Orient und Occident scharf voneinander. Die Gedanken Christi und
Mohammeds haben zum Teil ihren Ursprung in jüdischen Vorstellungen, aber nur
Mohammed gründete ans seine religiösen Ideen zugleich einen Staat und eine
Kirche. Im Morgenlande ruhn beide Organisationen ans derselben Grundlage, und
man kann sie als eine Einheit betrachten. Es gehört zu dem asiatischen Charakter
Rußlands, daß auch hier Staat und Kirche zusammenfallen: das heilige Rußland!

Anders im Abendland. Seine Organisationsformen traten in einen drama¬
tischen Prozeß ein, dem die Wirkungen religiöser, wissenschaftlicher, politischer Kräfte
und ihre Verflechtung reiche Farben gaben, der den Menschen auf allen Höhen
und in allen Tiefen zeigt. Es handelt sich dabei um einen guten Teil der euro¬
päischen Geschichte. Ju der Theorie zwar war dem Christentum der Staat gleich-
giltig: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" -- dieser und andre Aussprüche
Christi zeugen davon. Wirksamer aber bewahrte die jungen, unvollkommenen Staats¬
bildungen der germanischen und der romanisch-germanischen Völker ihr kräftiger,
ungebrochner Sondergeist vor der Gefahr, in eine geistliche Schablone gepreßt zu
werden, und vor allem schützte sie hiervor die Schwäche der römisch-katholischen
Kirche, die zunächst genug damit zu tun hatte, sich selbst festzusetzen und ihre eigne
Gestaltung zu sichern. So blieben Staat und Kirche getrennt, und es kam erst
später zu den heftigen Kämpfen, die man kennt. Sie konnten bei dem Gegensatz
der Bestrebungen auf beiden Seiten, den schon Augustin in seiner Schrift: of
oivitako asi scharf formuliert hatte, nicht ausbleiben. Das Christentum des Mittel¬
alters gelangte in folgerechter Entwicklung von der Weltverneiuung zur Welt¬
beherrschung, und zu dieser psychologischen Verknüpfung trat seine Verbindung mit
der Anlage des Römertums zu Herrschaft und Verwaltung. Herrentum und Priester-
tum verschmolzen zu einer im höchsten Maße leistungsfähigen Mischung, und in An¬
lehnung um römisch-byzantinische Verwaltungseinrichtungen erwuchs so die katholische
Kirche. Sie hatte, was dem Staat noch fehlte: eine feste Gliederung der Beamten,
ein geschriebnes, durchgearbeitetes Recht, eine geordnete schriftliche Verwaltung, eine
bestimmte Entwicklung ihres Gebiets, ein geregeltes Gesandtschaftswesen, vor allem
eine Idee, die, deutlich durchgebildet, deu ganzen Organismus bewegte.

Der Gang der Kämpfe war der, daß der Staat die Kirche mehr und mehr
auf die eigentlich religiöse Tätigkeit zurückdrängte, wobei ihm weniger seine äußern


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Stand und Kirche.

Die Menschen leben von Anfang an in Verbänden,
die mit steigender Kultur immer größer, immer reicher an Beziehungen zu audern
Verbänden und in sich selbst immer verwickelter werden. Die Verbände bedürfen
von dem Augenblick ihrer Entstehung an eines Leiters. Tapferkeit, Klugheit, reli¬
giöses Ansehen sind die Eigenschaften, mit denen man in ursprünglichen Zuständen
in die führende Stellung gelangt. Es hängt von der Anlage des zum Verbände
vereinigten Volkes ab, welche der Eigenschaften, sofern sie nicht gerade beisammen
vorkommen, den Ausschlag gibt; doch wird im allgemeinen in jugendlichen Zeit¬
altern die Tapferkeit deu ersten Rang behaupten. Es bildet sich also die Arbeits¬
teilung zwischen Herren und Priestern und damit, wie bei jeder Arbeitsteilung
auf einem Gebiet, die ständig wiederkehrende Veranlassung zu Reibungen und
Streitigkeiten. „Uralt, sagte Bismnrck in seiner großen Rede über den Kultur¬
kampf vom 10. März 1873, so alt wie das Menschengeschlecht ist der Mnchtstreit
zwischen Königinn, und Priestertum." Beispiele hierfür sind jedem gegenwärtig,
wie aus der alten Geschichte der religiös begabten Juden; Bismarck erinnerte
damals an Agamemnon und Kalchas in Antis. Aber im Altertum, dessen Leben
mehr in dieser Welt wurzelte, siegte doch, im großen betrachtet, das Königtum: nur
der Staat entwickelte sich, aber nicht die Kirche, sondern Nationalreligionen.

Eben dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen vorchristlicher und
nachchristlicher Zeit, daß in dieser eine Kirche entsteht. Und wieder sondern sich
hierin Orient und Occident scharf voneinander. Die Gedanken Christi und
Mohammeds haben zum Teil ihren Ursprung in jüdischen Vorstellungen, aber nur
Mohammed gründete ans seine religiösen Ideen zugleich einen Staat und eine
Kirche. Im Morgenlande ruhn beide Organisationen ans derselben Grundlage, und
man kann sie als eine Einheit betrachten. Es gehört zu dem asiatischen Charakter
Rußlands, daß auch hier Staat und Kirche zusammenfallen: das heilige Rußland!

Anders im Abendland. Seine Organisationsformen traten in einen drama¬
tischen Prozeß ein, dem die Wirkungen religiöser, wissenschaftlicher, politischer Kräfte
und ihre Verflechtung reiche Farben gaben, der den Menschen auf allen Höhen
und in allen Tiefen zeigt. Es handelt sich dabei um einen guten Teil der euro¬
päischen Geschichte. Ju der Theorie zwar war dem Christentum der Staat gleich-
giltig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" — dieser und andre Aussprüche
Christi zeugen davon. Wirksamer aber bewahrte die jungen, unvollkommenen Staats¬
bildungen der germanischen und der romanisch-germanischen Völker ihr kräftiger,
ungebrochner Sondergeist vor der Gefahr, in eine geistliche Schablone gepreßt zu
werden, und vor allem schützte sie hiervor die Schwäche der römisch-katholischen
Kirche, die zunächst genug damit zu tun hatte, sich selbst festzusetzen und ihre eigne
Gestaltung zu sichern. So blieben Staat und Kirche getrennt, und es kam erst
später zu den heftigen Kämpfen, die man kennt. Sie konnten bei dem Gegensatz
der Bestrebungen auf beiden Seiten, den schon Augustin in seiner Schrift: of
oivitako asi scharf formuliert hatte, nicht ausbleiben. Das Christentum des Mittel¬
alters gelangte in folgerechter Entwicklung von der Weltverneiuung zur Welt¬
beherrschung, und zu dieser psychologischen Verknüpfung trat seine Verbindung mit
der Anlage des Römertums zu Herrschaft und Verwaltung. Herrentum und Priester-
tum verschmolzen zu einer im höchsten Maße leistungsfähigen Mischung, und in An¬
lehnung um römisch-byzantinische Verwaltungseinrichtungen erwuchs so die katholische
Kirche. Sie hatte, was dem Staat noch fehlte: eine feste Gliederung der Beamten,
ein geschriebnes, durchgearbeitetes Recht, eine geordnete schriftliche Verwaltung, eine
bestimmte Entwicklung ihres Gebiets, ein geregeltes Gesandtschaftswesen, vor allem
eine Idee, die, deutlich durchgebildet, deu ganzen Organismus bewegte.

Der Gang der Kämpfe war der, daß der Staat die Kirche mehr und mehr
auf die eigentlich religiöse Tätigkeit zurückdrängte, wobei ihm weniger seine äußern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241533"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Stand und Kirche.</head>
            <p xml:id="ID_1294"> Die Menschen leben von Anfang an in Verbänden,<lb/>
die mit steigender Kultur immer größer, immer reicher an Beziehungen zu audern<lb/>
Verbänden und in sich selbst immer verwickelter werden. Die Verbände bedürfen<lb/>
von dem Augenblick ihrer Entstehung an eines Leiters. Tapferkeit, Klugheit, reli¬<lb/>
giöses Ansehen sind die Eigenschaften, mit denen man in ursprünglichen Zuständen<lb/>
in die führende Stellung gelangt. Es hängt von der Anlage des zum Verbände<lb/>
vereinigten Volkes ab, welche der Eigenschaften, sofern sie nicht gerade beisammen<lb/>
vorkommen, den Ausschlag gibt; doch wird im allgemeinen in jugendlichen Zeit¬<lb/>
altern die Tapferkeit deu ersten Rang behaupten. Es bildet sich also die Arbeits¬<lb/>
teilung zwischen Herren und Priestern und damit, wie bei jeder Arbeitsteilung<lb/>
auf einem Gebiet, die ständig wiederkehrende Veranlassung zu Reibungen und<lb/>
Streitigkeiten. &#x201E;Uralt, sagte Bismnrck in seiner großen Rede über den Kultur¬<lb/>
kampf vom 10. März 1873, so alt wie das Menschengeschlecht ist der Mnchtstreit<lb/>
zwischen Königinn, und Priestertum." Beispiele hierfür sind jedem gegenwärtig,<lb/>
wie aus der alten Geschichte der religiös begabten Juden; Bismarck erinnerte<lb/>
damals an Agamemnon und Kalchas in Antis. Aber im Altertum, dessen Leben<lb/>
mehr in dieser Welt wurzelte, siegte doch, im großen betrachtet, das Königtum: nur<lb/>
der Staat entwickelte sich, aber nicht die Kirche, sondern Nationalreligionen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1295"> Eben dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen vorchristlicher und<lb/>
nachchristlicher Zeit, daß in dieser eine Kirche entsteht. Und wieder sondern sich<lb/>
hierin Orient und Occident scharf voneinander. Die Gedanken Christi und<lb/>
Mohammeds haben zum Teil ihren Ursprung in jüdischen Vorstellungen, aber nur<lb/>
Mohammed gründete ans seine religiösen Ideen zugleich einen Staat und eine<lb/>
Kirche. Im Morgenlande ruhn beide Organisationen ans derselben Grundlage, und<lb/>
man kann sie als eine Einheit betrachten. Es gehört zu dem asiatischen Charakter<lb/>
Rußlands, daß auch hier Staat und Kirche zusammenfallen: das heilige Rußland!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1296"> Anders im Abendland. Seine Organisationsformen traten in einen drama¬<lb/>
tischen Prozeß ein, dem die Wirkungen religiöser, wissenschaftlicher, politischer Kräfte<lb/>
und ihre Verflechtung reiche Farben gaben, der den Menschen auf allen Höhen<lb/>
und in allen Tiefen zeigt. Es handelt sich dabei um einen guten Teil der euro¬<lb/>
päischen Geschichte. Ju der Theorie zwar war dem Christentum der Staat gleich-<lb/>
giltig: &#x201E;Mein Reich ist nicht von dieser Welt" &#x2014; dieser und andre Aussprüche<lb/>
Christi zeugen davon. Wirksamer aber bewahrte die jungen, unvollkommenen Staats¬<lb/>
bildungen der germanischen und der romanisch-germanischen Völker ihr kräftiger,<lb/>
ungebrochner Sondergeist vor der Gefahr, in eine geistliche Schablone gepreßt zu<lb/>
werden, und vor allem schützte sie hiervor die Schwäche der römisch-katholischen<lb/>
Kirche, die zunächst genug damit zu tun hatte, sich selbst festzusetzen und ihre eigne<lb/>
Gestaltung zu sichern. So blieben Staat und Kirche getrennt, und es kam erst<lb/>
später zu den heftigen Kämpfen, die man kennt. Sie konnten bei dem Gegensatz<lb/>
der Bestrebungen auf beiden Seiten, den schon Augustin in seiner Schrift: of<lb/>
oivitako asi scharf formuliert hatte, nicht ausbleiben. Das Christentum des Mittel¬<lb/>
alters gelangte in folgerechter Entwicklung von der Weltverneiuung zur Welt¬<lb/>
beherrschung, und zu dieser psychologischen Verknüpfung trat seine Verbindung mit<lb/>
der Anlage des Römertums zu Herrschaft und Verwaltung. Herrentum und Priester-<lb/>
tum verschmolzen zu einer im höchsten Maße leistungsfähigen Mischung, und in An¬<lb/>
lehnung um römisch-byzantinische Verwaltungseinrichtungen erwuchs so die katholische<lb/>
Kirche. Sie hatte, was dem Staat noch fehlte: eine feste Gliederung der Beamten,<lb/>
ein geschriebnes, durchgearbeitetes Recht, eine geordnete schriftliche Verwaltung, eine<lb/>
bestimmte Entwicklung ihres Gebiets, ein geregeltes Gesandtschaftswesen, vor allem<lb/>
eine Idee, die, deutlich durchgebildet, deu ganzen Organismus bewegte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1297" next="#ID_1298"> Der Gang der Kämpfe war der, daß der Staat die Kirche mehr und mehr<lb/>
auf die eigentlich religiöse Tätigkeit zurückdrängte, wobei ihm weniger seine äußern</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0319] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Stand und Kirche. Die Menschen leben von Anfang an in Verbänden, die mit steigender Kultur immer größer, immer reicher an Beziehungen zu audern Verbänden und in sich selbst immer verwickelter werden. Die Verbände bedürfen von dem Augenblick ihrer Entstehung an eines Leiters. Tapferkeit, Klugheit, reli¬ giöses Ansehen sind die Eigenschaften, mit denen man in ursprünglichen Zuständen in die führende Stellung gelangt. Es hängt von der Anlage des zum Verbände vereinigten Volkes ab, welche der Eigenschaften, sofern sie nicht gerade beisammen vorkommen, den Ausschlag gibt; doch wird im allgemeinen in jugendlichen Zeit¬ altern die Tapferkeit deu ersten Rang behaupten. Es bildet sich also die Arbeits¬ teilung zwischen Herren und Priestern und damit, wie bei jeder Arbeitsteilung auf einem Gebiet, die ständig wiederkehrende Veranlassung zu Reibungen und Streitigkeiten. „Uralt, sagte Bismnrck in seiner großen Rede über den Kultur¬ kampf vom 10. März 1873, so alt wie das Menschengeschlecht ist der Mnchtstreit zwischen Königinn, und Priestertum." Beispiele hierfür sind jedem gegenwärtig, wie aus der alten Geschichte der religiös begabten Juden; Bismarck erinnerte damals an Agamemnon und Kalchas in Antis. Aber im Altertum, dessen Leben mehr in dieser Welt wurzelte, siegte doch, im großen betrachtet, das Königtum: nur der Staat entwickelte sich, aber nicht die Kirche, sondern Nationalreligionen. Eben dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen vorchristlicher und nachchristlicher Zeit, daß in dieser eine Kirche entsteht. Und wieder sondern sich hierin Orient und Occident scharf voneinander. Die Gedanken Christi und Mohammeds haben zum Teil ihren Ursprung in jüdischen Vorstellungen, aber nur Mohammed gründete ans seine religiösen Ideen zugleich einen Staat und eine Kirche. Im Morgenlande ruhn beide Organisationen ans derselben Grundlage, und man kann sie als eine Einheit betrachten. Es gehört zu dem asiatischen Charakter Rußlands, daß auch hier Staat und Kirche zusammenfallen: das heilige Rußland! Anders im Abendland. Seine Organisationsformen traten in einen drama¬ tischen Prozeß ein, dem die Wirkungen religiöser, wissenschaftlicher, politischer Kräfte und ihre Verflechtung reiche Farben gaben, der den Menschen auf allen Höhen und in allen Tiefen zeigt. Es handelt sich dabei um einen guten Teil der euro¬ päischen Geschichte. Ju der Theorie zwar war dem Christentum der Staat gleich- giltig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" — dieser und andre Aussprüche Christi zeugen davon. Wirksamer aber bewahrte die jungen, unvollkommenen Staats¬ bildungen der germanischen und der romanisch-germanischen Völker ihr kräftiger, ungebrochner Sondergeist vor der Gefahr, in eine geistliche Schablone gepreßt zu werden, und vor allem schützte sie hiervor die Schwäche der römisch-katholischen Kirche, die zunächst genug damit zu tun hatte, sich selbst festzusetzen und ihre eigne Gestaltung zu sichern. So blieben Staat und Kirche getrennt, und es kam erst später zu den heftigen Kämpfen, die man kennt. Sie konnten bei dem Gegensatz der Bestrebungen auf beiden Seiten, den schon Augustin in seiner Schrift: of oivitako asi scharf formuliert hatte, nicht ausbleiben. Das Christentum des Mittel¬ alters gelangte in folgerechter Entwicklung von der Weltverneiuung zur Welt¬ beherrschung, und zu dieser psychologischen Verknüpfung trat seine Verbindung mit der Anlage des Römertums zu Herrschaft und Verwaltung. Herrentum und Priester- tum verschmolzen zu einer im höchsten Maße leistungsfähigen Mischung, und in An¬ lehnung um römisch-byzantinische Verwaltungseinrichtungen erwuchs so die katholische Kirche. Sie hatte, was dem Staat noch fehlte: eine feste Gliederung der Beamten, ein geschriebnes, durchgearbeitetes Recht, eine geordnete schriftliche Verwaltung, eine bestimmte Entwicklung ihres Gebiets, ein geregeltes Gesandtschaftswesen, vor allem eine Idee, die, deutlich durchgebildet, deu ganzen Organismus bewegte. Der Gang der Kämpfe war der, daß der Staat die Kirche mehr und mehr auf die eigentlich religiöse Tätigkeit zurückdrängte, wobei ihm weniger seine äußern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/319
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/319>, abgerufen am 27.07.2024.