parlamentarische Experimentaljurisprudenz Eugen Josef i Vonn
ach Artikel 23 der Reichsverfassung hat der Reichstag das Recht, Gesetze vorzuschlagen; dasselbe Recht steht nach den Verfassungen wohl sämtlicher Bundesstaaten auch den Einzellandtagen zu. Großen Gebrauch machen die Volksvertretungen von diesem Vorschlagsrecht nicht, und noch geringer ist die Zahl der Fälle, wo ein Gesetz, das aus der Mitte der Volksvertretung vorgeschlagen wird und in ihr die Mehrheit gefunden hat, sodann die Zustimmung der Reichs- oder der Landesregierung findet. Regelmüßig ist es vielmehr die Regierung selbst, die der Volksvertretung Gesetze vorschlügt, indem sie einen im Ministerium: ausge¬ arbeiteten Gesetzentwurf nebst "Begründung" (auch "Denkschrift," früher "Motive" genannt) der Volksvertretung vorlegt. Insoweit diese Gesetze Angelegenheiten der Rechtspflege für das Reich betreffen -- und nnr von diesen ist im fol¬ genden die Rede --, werden sie im Neichsjustizamt ausgearbeitet. Diese Gesetz¬ entwürfe und ebenso die ihnen beigegebnen Begründungen sind hervorragende Leistungen, oft Meisterwerke, und namentlich genießen die in den Begründungen vorgetragnen Ansichten bei den Gerichten ein so hohes Ansehen, daß die obersten Gerichte, besonders das Reichsgericht oft dem Bestreben der Gerichte, diese Ansichten bei der Auslegung des Gesetzes als ebenso verbindlich wie das Gesetz selbst zu erachten, entgegentreten mußten. Diese Gesetzentwürfe werden nämlich ausgearbeitet von Männern, die uicht bloß durch Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern daneben noch in dem erprobt sind, was man zutreffend als die "Technik des Rechts" bezeichnet. Man kann bekanntlich ein sehr tüchtiger Jurist sein und doch der Fähigkeit ermangeln, Nechtsgednnken in der für ein Gesetz geeigneten Form auszudrücken; Savignh, der größte Meister in der Erforschung des römischen Rechts, der in der bekannten Schrift "Vom Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung" seinen Zeitgenossen die Fähigkeit zur Gesetzgebung abgesprochen hatte und später preußischer Gesetzgebuugsininistcr wurde, mußte sich bekanntlich nach seinem Rücktritt vom Ministerposten im Landtag von einem der Richter, die ihm untergeben gewesen waren, den Vorwurf gefallen lassen, daß er in seiner eignen Amtsführung die Richtigkeit seiner Behauptung von der Unfähigkeit seiner Zeit zur Gesetzgebung am besten
Grenzboten II 1903 90
parlamentarische Experimentaljurisprudenz Eugen Josef i Vonn
ach Artikel 23 der Reichsverfassung hat der Reichstag das Recht, Gesetze vorzuschlagen; dasselbe Recht steht nach den Verfassungen wohl sämtlicher Bundesstaaten auch den Einzellandtagen zu. Großen Gebrauch machen die Volksvertretungen von diesem Vorschlagsrecht nicht, und noch geringer ist die Zahl der Fälle, wo ein Gesetz, das aus der Mitte der Volksvertretung vorgeschlagen wird und in ihr die Mehrheit gefunden hat, sodann die Zustimmung der Reichs- oder der Landesregierung findet. Regelmüßig ist es vielmehr die Regierung selbst, die der Volksvertretung Gesetze vorschlügt, indem sie einen im Ministerium: ausge¬ arbeiteten Gesetzentwurf nebst „Begründung" (auch „Denkschrift," früher „Motive" genannt) der Volksvertretung vorlegt. Insoweit diese Gesetze Angelegenheiten der Rechtspflege für das Reich betreffen — und nnr von diesen ist im fol¬ genden die Rede —, werden sie im Neichsjustizamt ausgearbeitet. Diese Gesetz¬ entwürfe und ebenso die ihnen beigegebnen Begründungen sind hervorragende Leistungen, oft Meisterwerke, und namentlich genießen die in den Begründungen vorgetragnen Ansichten bei den Gerichten ein so hohes Ansehen, daß die obersten Gerichte, besonders das Reichsgericht oft dem Bestreben der Gerichte, diese Ansichten bei der Auslegung des Gesetzes als ebenso verbindlich wie das Gesetz selbst zu erachten, entgegentreten mußten. Diese Gesetzentwürfe werden nämlich ausgearbeitet von Männern, die uicht bloß durch Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern daneben noch in dem erprobt sind, was man zutreffend als die „Technik des Rechts" bezeichnet. Man kann bekanntlich ein sehr tüchtiger Jurist sein und doch der Fähigkeit ermangeln, Nechtsgednnken in der für ein Gesetz geeigneten Form auszudrücken; Savignh, der größte Meister in der Erforschung des römischen Rechts, der in der bekannten Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung" seinen Zeitgenossen die Fähigkeit zur Gesetzgebung abgesprochen hatte und später preußischer Gesetzgebuugsininistcr wurde, mußte sich bekanntlich nach seinem Rücktritt vom Ministerposten im Landtag von einem der Richter, die ihm untergeben gewesen waren, den Vorwurf gefallen lassen, daß er in seiner eignen Amtsführung die Richtigkeit seiner Behauptung von der Unfähigkeit seiner Zeit zur Gesetzgebung am besten
Grenzboten II 1903 90
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parlamentarische Experimentaljurisprudenz
Eugen Josef i Vonn
ach Artikel 23 der Reichsverfassung hat der Reichstag das Recht,
Gesetze vorzuschlagen; dasselbe Recht steht nach den Verfassungen
wohl sämtlicher Bundesstaaten auch den Einzellandtagen zu.
Großen Gebrauch machen die Volksvertretungen von diesem
Vorschlagsrecht nicht, und noch geringer ist die Zahl der Fälle,
wo ein Gesetz, das aus der Mitte der Volksvertretung vorgeschlagen wird und
in ihr die Mehrheit gefunden hat, sodann die Zustimmung der Reichs- oder
der Landesregierung findet. Regelmüßig ist es vielmehr die Regierung selbst, die
der Volksvertretung Gesetze vorschlügt, indem sie einen im Ministerium: ausge¬
arbeiteten Gesetzentwurf nebst „Begründung" (auch „Denkschrift," früher „Motive"
genannt) der Volksvertretung vorlegt. Insoweit diese Gesetze Angelegenheiten
der Rechtspflege für das Reich betreffen — und nnr von diesen ist im fol¬
genden die Rede —, werden sie im Neichsjustizamt ausgearbeitet. Diese Gesetz¬
entwürfe und ebenso die ihnen beigegebnen Begründungen sind hervorragende
Leistungen, oft Meisterwerke, und namentlich genießen die in den Begründungen
vorgetragnen Ansichten bei den Gerichten ein so hohes Ansehen, daß die obersten
Gerichte, besonders das Reichsgericht oft dem Bestreben der Gerichte, diese
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Gesetz selbst zu erachten, entgegentreten mußten. Diese Gesetzentwürfe werden
nämlich ausgearbeitet von Männern, die uicht bloß durch Kenntnisse und
Fähigkeiten, sondern daneben noch in dem erprobt sind, was man zutreffend
als die „Technik des Rechts" bezeichnet. Man kann bekanntlich ein sehr
tüchtiger Jurist sein und doch der Fähigkeit ermangeln, Nechtsgednnken in der
für ein Gesetz geeigneten Form auszudrücken; Savignh, der größte Meister
in der Erforschung des römischen Rechts, der in der bekannten Schrift „Vom
Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung" seinen Zeitgenossen die Fähigkeit zur
Gesetzgebung abgesprochen hatte und später preußischer Gesetzgebuugsininistcr
wurde, mußte sich bekanntlich nach seinem Rücktritt vom Ministerposten im
Landtag von einem der Richter, die ihm untergeben gewesen waren, den
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/697>, abgerufen am 05.02.2025.
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