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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Land kann also nur Bayern sein. Der König ist geisteskrank, und seine beiden
Söhne siud erblich belastet. Stimmt wenigstens in Beziehung auf die Söhne.
Aber der zweite Sohn, die hauptsächlichste Hauptperson, wird ebenfalls König und
perstößt, um den Thron besteigen zu können, seine unebenbürtige Gemahlin. Stimmt
ganz und gar nicht. Mit einem Wort: der Leser weiß, daß die Personen des
Romans nie und nirgends gelebt haben und gar nicht gelebt haben können, und
sobald er das merkt, verliert er alles Interesse um der Geschichte; er sagt sich:
Es ist ja alles unwahr und Unsinn, zu was also weiter lesen! Ich frage also die
Literaturtechniker: Halten sie einen solchen Roman für erlaubt?


Geschichte der Wandalen.*)

Diese sich durch besonnene Kritik und un¬
parteiische Darstellung auszeichnende Geschichte ist in doppelter Beziehung interessant.
Einmal als ein Beitrag zur Kenntnis der Kulturzustände und der Verfassung der
Germcmcnstaaten in der Zeit der Völkerwcmdrung, dann weil sie über den zweiten
der Versuche berichtet, die in älterer Zeit gemacht worden sind, das Berbervolk
in den europäischen Kulturkreis htneinzuziehn; gelingen kann das erst heute, weil
erst die moderne Technik die europäische Kultur unwiderstehlich gemacht hat. Die
bekannten Ursachen des Untergangs des Wandalenreichs werden in dieser Mono¬
graphie vollends klar gemacht. Die erste und hauptsächlichste war die zu kleine
Anzahl der Eroberer. Der Verfasser hält die Angabe des Viktor von Vita für
richtig, daß das Volk -- es setzte wirklich das ganze Volk nach Afrika über --
80000 Köpfe stark war, sodaß die Zahl der waffenfähigen Männer auf 16000
zu schätzen ist. Was die Wandalen zur Übersiedlung nach Afrika bewog, war nach
Schmidt die Besorgnis vor der drohenden Übermacht der Westgoten; duzn sei, wie
bei allen Einfällen der Germanen in römisches Gebiet, die Aussicht auf Kriegsbeute
gekommen und der Wunsch, die Raus- und Mordlust zu befriedigen; daß sie der
Comes Bonifatius gerufen habe, wird für eine Fabel erklärt. Zu der Schwäche
ihrer Zahl kam der doppelte Gegensatz zu den wilden Mauren und zu den katho¬
lischen Römern; uur ein großes politisches Organisationstalent, das dem König
Geiserich abging, hätte der schwächlichen Gründung einigen Halt verleihen können.
Der konfessionelle Gegensatz wurde erst unter Huuerich verhängnisvoll, der die
Katholiken aus Grausamkeit und aus arianischen Fanatismus verfolgte, während
Geiserich nur gegen sie eingeschritten war, wenn sie durch politische Zettelungen
den Staat bedrohten.





Geschichte der Wandalen von I)>. Ludwig Schmidt, Bibliothekar an der könig¬
lichen öffentlichen Bibliothek in Dresden. Leipzig, B. G. Teubner, 1901.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Land kann also nur Bayern sein. Der König ist geisteskrank, und seine beiden
Söhne siud erblich belastet. Stimmt wenigstens in Beziehung auf die Söhne.
Aber der zweite Sohn, die hauptsächlichste Hauptperson, wird ebenfalls König und
perstößt, um den Thron besteigen zu können, seine unebenbürtige Gemahlin. Stimmt
ganz und gar nicht. Mit einem Wort: der Leser weiß, daß die Personen des
Romans nie und nirgends gelebt haben und gar nicht gelebt haben können, und
sobald er das merkt, verliert er alles Interesse um der Geschichte; er sagt sich:
Es ist ja alles unwahr und Unsinn, zu was also weiter lesen! Ich frage also die
Literaturtechniker: Halten sie einen solchen Roman für erlaubt?


Geschichte der Wandalen.*)

Diese sich durch besonnene Kritik und un¬
parteiische Darstellung auszeichnende Geschichte ist in doppelter Beziehung interessant.
Einmal als ein Beitrag zur Kenntnis der Kulturzustände und der Verfassung der
Germcmcnstaaten in der Zeit der Völkerwcmdrung, dann weil sie über den zweiten
der Versuche berichtet, die in älterer Zeit gemacht worden sind, das Berbervolk
in den europäischen Kulturkreis htneinzuziehn; gelingen kann das erst heute, weil
erst die moderne Technik die europäische Kultur unwiderstehlich gemacht hat. Die
bekannten Ursachen des Untergangs des Wandalenreichs werden in dieser Mono¬
graphie vollends klar gemacht. Die erste und hauptsächlichste war die zu kleine
Anzahl der Eroberer. Der Verfasser hält die Angabe des Viktor von Vita für
richtig, daß das Volk — es setzte wirklich das ganze Volk nach Afrika über —
80000 Köpfe stark war, sodaß die Zahl der waffenfähigen Männer auf 16000
zu schätzen ist. Was die Wandalen zur Übersiedlung nach Afrika bewog, war nach
Schmidt die Besorgnis vor der drohenden Übermacht der Westgoten; duzn sei, wie
bei allen Einfällen der Germanen in römisches Gebiet, die Aussicht auf Kriegsbeute
gekommen und der Wunsch, die Raus- und Mordlust zu befriedigen; daß sie der
Comes Bonifatius gerufen habe, wird für eine Fabel erklärt. Zu der Schwäche
ihrer Zahl kam der doppelte Gegensatz zu den wilden Mauren und zu den katho¬
lischen Römern; uur ein großes politisches Organisationstalent, das dem König
Geiserich abging, hätte der schwächlichen Gründung einigen Halt verleihen können.
Der konfessionelle Gegensatz wurde erst unter Huuerich verhängnisvoll, der die
Katholiken aus Grausamkeit und aus arianischen Fanatismus verfolgte, während
Geiserich nur gegen sie eingeschritten war, wenn sie durch politische Zettelungen
den Staat bedrohten.





Geschichte der Wandalen von I)>. Ludwig Schmidt, Bibliothekar an der könig¬
lichen öffentlichen Bibliothek in Dresden. Leipzig, B. G. Teubner, 1901.
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[0308] Maßgebliches und Unmaßgebliches Das Land kann also nur Bayern sein. Der König ist geisteskrank, und seine beiden Söhne siud erblich belastet. Stimmt wenigstens in Beziehung auf die Söhne. Aber der zweite Sohn, die hauptsächlichste Hauptperson, wird ebenfalls König und perstößt, um den Thron besteigen zu können, seine unebenbürtige Gemahlin. Stimmt ganz und gar nicht. Mit einem Wort: der Leser weiß, daß die Personen des Romans nie und nirgends gelebt haben und gar nicht gelebt haben können, und sobald er das merkt, verliert er alles Interesse um der Geschichte; er sagt sich: Es ist ja alles unwahr und Unsinn, zu was also weiter lesen! Ich frage also die Literaturtechniker: Halten sie einen solchen Roman für erlaubt? Geschichte der Wandalen.*) Diese sich durch besonnene Kritik und un¬ parteiische Darstellung auszeichnende Geschichte ist in doppelter Beziehung interessant. Einmal als ein Beitrag zur Kenntnis der Kulturzustände und der Verfassung der Germcmcnstaaten in der Zeit der Völkerwcmdrung, dann weil sie über den zweiten der Versuche berichtet, die in älterer Zeit gemacht worden sind, das Berbervolk in den europäischen Kulturkreis htneinzuziehn; gelingen kann das erst heute, weil erst die moderne Technik die europäische Kultur unwiderstehlich gemacht hat. Die bekannten Ursachen des Untergangs des Wandalenreichs werden in dieser Mono¬ graphie vollends klar gemacht. Die erste und hauptsächlichste war die zu kleine Anzahl der Eroberer. Der Verfasser hält die Angabe des Viktor von Vita für richtig, daß das Volk — es setzte wirklich das ganze Volk nach Afrika über — 80000 Köpfe stark war, sodaß die Zahl der waffenfähigen Männer auf 16000 zu schätzen ist. Was die Wandalen zur Übersiedlung nach Afrika bewog, war nach Schmidt die Besorgnis vor der drohenden Übermacht der Westgoten; duzn sei, wie bei allen Einfällen der Germanen in römisches Gebiet, die Aussicht auf Kriegsbeute gekommen und der Wunsch, die Raus- und Mordlust zu befriedigen; daß sie der Comes Bonifatius gerufen habe, wird für eine Fabel erklärt. Zu der Schwäche ihrer Zahl kam der doppelte Gegensatz zu den wilden Mauren und zu den katho¬ lischen Römern; uur ein großes politisches Organisationstalent, das dem König Geiserich abging, hätte der schwächlichen Gründung einigen Halt verleihen können. Der konfessionelle Gegensatz wurde erst unter Huuerich verhängnisvoll, der die Katholiken aus Grausamkeit und aus arianischen Fanatismus verfolgte, während Geiserich nur gegen sie eingeschritten war, wenn sie durch politische Zettelungen den Staat bedrohten. Geschichte der Wandalen von I)>. Ludwig Schmidt, Bibliothekar an der könig¬ lichen öffentlichen Bibliothek in Dresden. Leipzig, B. G. Teubner, 1901.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/308>, abgerufen am 22.07.2024.