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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage
(Schluß)
2. Grundsätzliches

üssen wir die Widerlegung der Angriffe der Hausbcsitzervereine
den Mitgliedern der Baugenossenschaften und andern Personen
überlassen, die sich mit der Sache praktisch beschäftigt haben, so
dürfen wir uns dagegen wohl erlauben, einige der grundsätz¬
lichen Behauptungen, die Grävell als Vertreter der Hausbesitzer
in seinem Buche aufstellt, zu erörtern. Er bemängelt zunächst den Ausdruck
"Wohnungsfrage." Es gebe so wenig eine Wohnungsfrage wie eine Kleider¬
schrankfrage oder eine Uhrkettenfrage. Nicht Gegenstünde, die ja ohne Frage
vorhanden sind, sondern nur Beziehungen könnten in Frage kommen; die Art
des Bewohners könne eine Wohnfrage, das Mietverhältnis eine Mietvertrags-
frage erzeugen. Gegen die Forderung, daß man die verschiednen Wohnungs¬
fragen durch besondre Wörter bezeichne, ist ja nichts einzuwenden, aber die
Meinung, daß ein körperliches Ding nicht Gegenstand einer sozialen Frage
werden könne, ist falsch. Die Phylloxera ist ein Ding, und die Berechtigung
der Frage, wie sie um leichtesten und gründlichsten vertilgt werden könne, hat
noch niemand bestritten. Ob gewisse Bänme gefällt werden sollen, das ist eine
Frage, die sehr häusig städtische Behörden beschäftigt, und bei dem Beschluß
der Regierungen und der städtischen Körperschaften von Großstädten wie
London, Paris, Neapel, .Hamburg, die sämtlichen Häuser der ungesunden
Stadtteile niederzureißen, sind diese Häuser selbst, nicht bloß irgendwelche Be¬
ziehungen, Gegenstand der Beratungen gewesen. Es scheint das Bewußtsein
der Schwäche der eignen Position zu beweisen, wenn man zu Wortklauberei
und zu spitzfindiger Scholastik seine Zuflucht nimmt. Das Verhältnis des Arbeit¬
lohns zu den Wohnkosten soll nach Grävell eine rein persönliche, keine soziale
Angelegenheit sein und die Gemeinschaft, Staat oder Gemeinde, nichts an-
gehn. Nun, alle Angelegenheiten ohne Ausnahme, mit denen sich heute Staat
und Gemeinde befassen, sind ursprünglich Privatangelegenheiten gewesen, aber
bei wachsender Volksmenge und fortschreitender Verwicklung der Rechtsansprüche
und Interessen hat die Gesellschaft eine nach der andern in den Vereich ihrer
Zuständigkeit ziehn müssen; auf diese Weise sind eben die Gemeinwesen, die
Staaten entstanden. Wenn ein einzelner Arbeiter schlecht wohnen will oder
seines niedrigen Lohnes wegen nicht anders als schlecht wohnen kann, so ist
das auch heute noch seine persönliche Angelegenheit. Wenn aber ein paar
tausend Arbeiter so wohnen müssen, daß ihr Viertel ein Chvleraherd wird-
oder wenn für sie Baracken gebaut werden müssen, weil sie in den vorhnndnen




Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage
(Schluß)
2. Grundsätzliches

üssen wir die Widerlegung der Angriffe der Hausbcsitzervereine
den Mitgliedern der Baugenossenschaften und andern Personen
überlassen, die sich mit der Sache praktisch beschäftigt haben, so
dürfen wir uns dagegen wohl erlauben, einige der grundsätz¬
lichen Behauptungen, die Grävell als Vertreter der Hausbesitzer
in seinem Buche aufstellt, zu erörtern. Er bemängelt zunächst den Ausdruck
„Wohnungsfrage." Es gebe so wenig eine Wohnungsfrage wie eine Kleider¬
schrankfrage oder eine Uhrkettenfrage. Nicht Gegenstünde, die ja ohne Frage
vorhanden sind, sondern nur Beziehungen könnten in Frage kommen; die Art
des Bewohners könne eine Wohnfrage, das Mietverhältnis eine Mietvertrags-
frage erzeugen. Gegen die Forderung, daß man die verschiednen Wohnungs¬
fragen durch besondre Wörter bezeichne, ist ja nichts einzuwenden, aber die
Meinung, daß ein körperliches Ding nicht Gegenstand einer sozialen Frage
werden könne, ist falsch. Die Phylloxera ist ein Ding, und die Berechtigung
der Frage, wie sie um leichtesten und gründlichsten vertilgt werden könne, hat
noch niemand bestritten. Ob gewisse Bänme gefällt werden sollen, das ist eine
Frage, die sehr häusig städtische Behörden beschäftigt, und bei dem Beschluß
der Regierungen und der städtischen Körperschaften von Großstädten wie
London, Paris, Neapel, .Hamburg, die sämtlichen Häuser der ungesunden
Stadtteile niederzureißen, sind diese Häuser selbst, nicht bloß irgendwelche Be¬
ziehungen, Gegenstand der Beratungen gewesen. Es scheint das Bewußtsein
der Schwäche der eignen Position zu beweisen, wenn man zu Wortklauberei
und zu spitzfindiger Scholastik seine Zuflucht nimmt. Das Verhältnis des Arbeit¬
lohns zu den Wohnkosten soll nach Grävell eine rein persönliche, keine soziale
Angelegenheit sein und die Gemeinschaft, Staat oder Gemeinde, nichts an-
gehn. Nun, alle Angelegenheiten ohne Ausnahme, mit denen sich heute Staat
und Gemeinde befassen, sind ursprünglich Privatangelegenheiten gewesen, aber
bei wachsender Volksmenge und fortschreitender Verwicklung der Rechtsansprüche
und Interessen hat die Gesellschaft eine nach der andern in den Vereich ihrer
Zuständigkeit ziehn müssen; auf diese Weise sind eben die Gemeinwesen, die
Staaten entstanden. Wenn ein einzelner Arbeiter schlecht wohnen will oder
seines niedrigen Lohnes wegen nicht anders als schlecht wohnen kann, so ist
das auch heute noch seine persönliche Angelegenheit. Wenn aber ein paar
tausend Arbeiter so wohnen müssen, daß ihr Viertel ein Chvleraherd wird-
oder wenn für sie Baracken gebaut werden müssen, weil sie in den vorhnndnen


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[0708] [Abbildung] Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage (Schluß) 2. Grundsätzliches üssen wir die Widerlegung der Angriffe der Hausbcsitzervereine den Mitgliedern der Baugenossenschaften und andern Personen überlassen, die sich mit der Sache praktisch beschäftigt haben, so dürfen wir uns dagegen wohl erlauben, einige der grundsätz¬ lichen Behauptungen, die Grävell als Vertreter der Hausbesitzer in seinem Buche aufstellt, zu erörtern. Er bemängelt zunächst den Ausdruck „Wohnungsfrage." Es gebe so wenig eine Wohnungsfrage wie eine Kleider¬ schrankfrage oder eine Uhrkettenfrage. Nicht Gegenstünde, die ja ohne Frage vorhanden sind, sondern nur Beziehungen könnten in Frage kommen; die Art des Bewohners könne eine Wohnfrage, das Mietverhältnis eine Mietvertrags- frage erzeugen. Gegen die Forderung, daß man die verschiednen Wohnungs¬ fragen durch besondre Wörter bezeichne, ist ja nichts einzuwenden, aber die Meinung, daß ein körperliches Ding nicht Gegenstand einer sozialen Frage werden könne, ist falsch. Die Phylloxera ist ein Ding, und die Berechtigung der Frage, wie sie um leichtesten und gründlichsten vertilgt werden könne, hat noch niemand bestritten. Ob gewisse Bänme gefällt werden sollen, das ist eine Frage, die sehr häusig städtische Behörden beschäftigt, und bei dem Beschluß der Regierungen und der städtischen Körperschaften von Großstädten wie London, Paris, Neapel, .Hamburg, die sämtlichen Häuser der ungesunden Stadtteile niederzureißen, sind diese Häuser selbst, nicht bloß irgendwelche Be¬ ziehungen, Gegenstand der Beratungen gewesen. Es scheint das Bewußtsein der Schwäche der eignen Position zu beweisen, wenn man zu Wortklauberei und zu spitzfindiger Scholastik seine Zuflucht nimmt. Das Verhältnis des Arbeit¬ lohns zu den Wohnkosten soll nach Grävell eine rein persönliche, keine soziale Angelegenheit sein und die Gemeinschaft, Staat oder Gemeinde, nichts an- gehn. Nun, alle Angelegenheiten ohne Ausnahme, mit denen sich heute Staat und Gemeinde befassen, sind ursprünglich Privatangelegenheiten gewesen, aber bei wachsender Volksmenge und fortschreitender Verwicklung der Rechtsansprüche und Interessen hat die Gesellschaft eine nach der andern in den Vereich ihrer Zuständigkeit ziehn müssen; auf diese Weise sind eben die Gemeinwesen, die Staaten entstanden. Wenn ein einzelner Arbeiter schlecht wohnen will oder seines niedrigen Lohnes wegen nicht anders als schlecht wohnen kann, so ist das auch heute noch seine persönliche Angelegenheit. Wenn aber ein paar tausend Arbeiter so wohnen müssen, daß ihr Viertel ein Chvleraherd wird- oder wenn für sie Baracken gebaut werden müssen, weil sie in den vorhnndnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/708>, abgerufen am 23.11.2024.