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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Scheiks (Lhristus und der Bischof von Rottenburg

le Nefvrmkatholiten haben den Zorn des württembergischen Bischofs
Dr. von Keppler erregt, und er hat ihnen am 1. Dezember vorigen
Jahres auf einer Diözesanlonfercnz den Kopf gewaschen. Die
Berichterstatter der Zeitungen sind seiner Rede nicht gerecht ge¬
worden. Seit den Tagen Diepenbrocks und Kettelers hat man
so etwas aus dem Munde oder der Feder eines deutschen Bischofs uicht ver-
nommen. Die Hirtenbriefe und die sonstigen Kundgebungen der übrigen "Ober¬
hirten" sind lnsher immer unpersönliche Knrialleistungen gewesen, deren Inhalt
man im voraus kannte, wenn man das Thema wußte. Die Rede Kcpplers
empfängt ein ganz persönliches Gepräge durch das Geständnis: diese Reformer
"haben selbst Wohlmeinende getäuscht -- einmal auch mich," und sie ist über¬
haupt von Anfang bis zu Ende temperamentvoll und originell. Nur darin
vergleichen wir sie den Kundgebungen der beiden genannten bedeutenden Männer;
in Gedankenfülle, Verstandesschärfe und Stil steht sie ihnen weit nach. In
vielem hat Keppler Recht; manches können sich außer den katholischen Re-
formern auch andre Leute hinter die Ohren schreiben, aber in den entscheidenden
Punkten beurteilt er die Weltlage falsch; eben das, was ihm die imponierende
Entschiedenheit und Kraft verleiht, seine strenge Orthodoxie, verengt ihm den
Gesichtskreis.

Die wahre Reform, beginnt er, "ist immer eine Reform von Grund aus,
von innen heraus, nicht von außen nach innen." Eine Reform deS Katho¬
lizismus müsse deshalb auf seinen göttlichen Kern zuriickgehn und dort ein¬
greifen, wo das Menschliche seiner Erscheinung diesem Kern nicht entspricht.
Ganz richtig! Aber diesen schönen und richtigen Anfang läßt der Bischof un¬
verwandt liegen. Anstatt daraus die Folgerung zu ziehn: also müssen wir
mit dem Rosenkranzgeplärr, mit den unechten Aachner und Trierer Heilig¬
tümern, mit dem Ablaß und mit dem Ansprüche des Papstes auf weltliche
Herrschaft aufräumen, springt er ab und fährt fort: "Eine falsche Reform
ist daher jene, die das Christentum oder die Kirche gewaltsam auf jene Ent¬
wicklungsstufe zuriickdrücken will, die sie vor 1500 oder vor 500 Jahren inne
hatte." Das ist ebenfalls wahr, aber nicht "daher," d. h. nicht deswegen,


Grenzboten I 1903 16


Scheiks (Lhristus und der Bischof von Rottenburg

le Nefvrmkatholiten haben den Zorn des württembergischen Bischofs
Dr. von Keppler erregt, und er hat ihnen am 1. Dezember vorigen
Jahres auf einer Diözesanlonfercnz den Kopf gewaschen. Die
Berichterstatter der Zeitungen sind seiner Rede nicht gerecht ge¬
worden. Seit den Tagen Diepenbrocks und Kettelers hat man
so etwas aus dem Munde oder der Feder eines deutschen Bischofs uicht ver-
nommen. Die Hirtenbriefe und die sonstigen Kundgebungen der übrigen „Ober¬
hirten" sind lnsher immer unpersönliche Knrialleistungen gewesen, deren Inhalt
man im voraus kannte, wenn man das Thema wußte. Die Rede Kcpplers
empfängt ein ganz persönliches Gepräge durch das Geständnis: diese Reformer
„haben selbst Wohlmeinende getäuscht — einmal auch mich," und sie ist über¬
haupt von Anfang bis zu Ende temperamentvoll und originell. Nur darin
vergleichen wir sie den Kundgebungen der beiden genannten bedeutenden Männer;
in Gedankenfülle, Verstandesschärfe und Stil steht sie ihnen weit nach. In
vielem hat Keppler Recht; manches können sich außer den katholischen Re-
formern auch andre Leute hinter die Ohren schreiben, aber in den entscheidenden
Punkten beurteilt er die Weltlage falsch; eben das, was ihm die imponierende
Entschiedenheit und Kraft verleiht, seine strenge Orthodoxie, verengt ihm den
Gesichtskreis.

Die wahre Reform, beginnt er, „ist immer eine Reform von Grund aus,
von innen heraus, nicht von außen nach innen." Eine Reform deS Katho¬
lizismus müsse deshalb auf seinen göttlichen Kern zuriickgehn und dort ein¬
greifen, wo das Menschliche seiner Erscheinung diesem Kern nicht entspricht.
Ganz richtig! Aber diesen schönen und richtigen Anfang läßt der Bischof un¬
verwandt liegen. Anstatt daraus die Folgerung zu ziehn: also müssen wir
mit dem Rosenkranzgeplärr, mit den unechten Aachner und Trierer Heilig¬
tümern, mit dem Ablaß und mit dem Ansprüche des Papstes auf weltliche
Herrschaft aufräumen, springt er ab und fährt fort: „Eine falsche Reform
ist daher jene, die das Christentum oder die Kirche gewaltsam auf jene Ent¬
wicklungsstufe zuriickdrücken will, die sie vor 1500 oder vor 500 Jahren inne
hatte." Das ist ebenfalls wahr, aber nicht „daher," d. h. nicht deswegen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/125>, abgerufen am 23.11.2024.