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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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heute weiter als je und als natürlich. Aber niemals wird man sie dadurch
verringern oder überbrücken, daß man dem Volk einfach eine billigere Ausgabe
unsrer Abonnementskonzerte zugänglich macht. Auch wenn diese von Mängeln
freier wären, als sie sind, taugte ihre Anlage nicht für das Volk. Trotz des
Napoleonsinvaliden, dem bei W. von Lentz der Schlußsatz der fünften Sin¬
fonie ein Vivs l'einxsrsur entlockt, können Bcethovensche Sinfonien nicht
volkstümlich werden. Auch Haydnsche nicht. Man erzählt uns von dem Bei¬
fall, den sie finden, von dem Ansturm auf die billigen Billets; man über¬
sieht aber, daß an diesem Erfolg das Gefühl sozialer Befriedigung, die Er¬
regung über die neuen Bilder des stattlichen Orchesters, des rätselhaften Takt-
stöckchens, des sauer arbeitenden Virtuosen einen Anteil hat, und daß sich die
künstlerischen Eindrücke in der Regel, wo nicht auf den akustischen Teil, auf
die einfachsten Partien und auf Stücke, die an wirkliche Volksmusik anklingen,
beschränken. Auch die eingünglichsten und schönsten Melodien bleiben wirkungs¬
los, wenn sie in langen Sätzen, in kunstvollerer Verarbeitung auftreten. Die
engere Fühlung mit dem Volk liegt sehr stark auch im Interesse der Kunst;
sie hat ehemals auch der deutscheu Musik sehr wohl gethan, ist ihr aber mehr
abhanden gekommen als der ausländischen. Sie kann und muß wiedergewonnen
werden, aber erreichen läßt sich das Ziel nur auf Wegen, die über das Gebiet
der dienenden Kunst führen. Die sozialistische Presse zeigt besondern Eifer
für Theater und Konzerte, wir haben aus Fabrikarbeitern gebildete Männer¬
chöre, die sehr gut singen, nicht unmöglich wäre es schließlich, daß das Volk
auch an der Pflege des Oratoriums und der großen Vokalmusik mitwirkend
oder zuhörend reger teil nähme. Aber in ihrem vollen Umfang läßt sich die
freie Kunst den arbeitenden Kreisen nicht zu eigen machen, sie müßten denn in
die Lage gesetzt werden, reichlich Hausmusik zu pflegen. Wer Musik für das
Volkswohl wünscht, helfe ihr wieder zu einem breitern Platz im Volksleben!


^0. Stand oder Staat?

Nach den vorhergegcmgnen Darlegungen wird die Behauptung nicht über¬
trieben erscheinen, daß sich in der Fundierung und in der Verwendung der
Musik starke Mißstände und Lücken gebildet haben, daß das musikalische Er¬
ziehungswesen und die soziale Lage der Musiker viel zu wünschen lassen, daß in
der musikalischen Versorgung von Volk und höherer Gesellschaft falsche Wege
gegangen werden, daß infolge alles dessen der Nation am vollen Segen der
Tonkunst mannigfacher Abbruch geschieht, daß an Stelle des Nutzens hie und da
Schaden tritt. Immer ist die Hauptursache: die Musiker haben versäumt zu
handeln und einzugreifen, ja mehr noch: sie haben verlernt, sich umzusehen
und zu rede". Mit dem Wegfall geordneter Vertretungen von gemeinsamen
Interessen ist ihr Staudesgewissen ermattet und eingeschlummert. Wir können
die alten Zeiten nicht zurückbringen, wo Kirchen und Behörden das Wohl der
Musik aus sich nahmen, den Stadtpfeifern die Zahl der Lehrlinge und Gesellen
vorschrieben, Einkünfte und Leistungen regelten, wo Reichtum und Wohlstand
produzierende und reproduzierende Kunst freigebig förderten, wo die Gesetze


heute weiter als je und als natürlich. Aber niemals wird man sie dadurch
verringern oder überbrücken, daß man dem Volk einfach eine billigere Ausgabe
unsrer Abonnementskonzerte zugänglich macht. Auch wenn diese von Mängeln
freier wären, als sie sind, taugte ihre Anlage nicht für das Volk. Trotz des
Napoleonsinvaliden, dem bei W. von Lentz der Schlußsatz der fünften Sin¬
fonie ein Vivs l'einxsrsur entlockt, können Bcethovensche Sinfonien nicht
volkstümlich werden. Auch Haydnsche nicht. Man erzählt uns von dem Bei¬
fall, den sie finden, von dem Ansturm auf die billigen Billets; man über¬
sieht aber, daß an diesem Erfolg das Gefühl sozialer Befriedigung, die Er¬
regung über die neuen Bilder des stattlichen Orchesters, des rätselhaften Takt-
stöckchens, des sauer arbeitenden Virtuosen einen Anteil hat, und daß sich die
künstlerischen Eindrücke in der Regel, wo nicht auf den akustischen Teil, auf
die einfachsten Partien und auf Stücke, die an wirkliche Volksmusik anklingen,
beschränken. Auch die eingünglichsten und schönsten Melodien bleiben wirkungs¬
los, wenn sie in langen Sätzen, in kunstvollerer Verarbeitung auftreten. Die
engere Fühlung mit dem Volk liegt sehr stark auch im Interesse der Kunst;
sie hat ehemals auch der deutscheu Musik sehr wohl gethan, ist ihr aber mehr
abhanden gekommen als der ausländischen. Sie kann und muß wiedergewonnen
werden, aber erreichen läßt sich das Ziel nur auf Wegen, die über das Gebiet
der dienenden Kunst führen. Die sozialistische Presse zeigt besondern Eifer
für Theater und Konzerte, wir haben aus Fabrikarbeitern gebildete Männer¬
chöre, die sehr gut singen, nicht unmöglich wäre es schließlich, daß das Volk
auch an der Pflege des Oratoriums und der großen Vokalmusik mitwirkend
oder zuhörend reger teil nähme. Aber in ihrem vollen Umfang läßt sich die
freie Kunst den arbeitenden Kreisen nicht zu eigen machen, sie müßten denn in
die Lage gesetzt werden, reichlich Hausmusik zu pflegen. Wer Musik für das
Volkswohl wünscht, helfe ihr wieder zu einem breitern Platz im Volksleben!


^0. Stand oder Staat?

Nach den vorhergegcmgnen Darlegungen wird die Behauptung nicht über¬
trieben erscheinen, daß sich in der Fundierung und in der Verwendung der
Musik starke Mißstände und Lücken gebildet haben, daß das musikalische Er¬
ziehungswesen und die soziale Lage der Musiker viel zu wünschen lassen, daß in
der musikalischen Versorgung von Volk und höherer Gesellschaft falsche Wege
gegangen werden, daß infolge alles dessen der Nation am vollen Segen der
Tonkunst mannigfacher Abbruch geschieht, daß an Stelle des Nutzens hie und da
Schaden tritt. Immer ist die Hauptursache: die Musiker haben versäumt zu
handeln und einzugreifen, ja mehr noch: sie haben verlernt, sich umzusehen
und zu rede». Mit dem Wegfall geordneter Vertretungen von gemeinsamen
Interessen ist ihr Staudesgewissen ermattet und eingeschlummert. Wir können
die alten Zeiten nicht zurückbringen, wo Kirchen und Behörden das Wohl der
Musik aus sich nahmen, den Stadtpfeifern die Zahl der Lehrlinge und Gesellen
vorschrieben, Einkünfte und Leistungen regelten, wo Reichtum und Wohlstand
produzierende und reproduzierende Kunst freigebig förderten, wo die Gesetze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/322>, abgerufen am 01.09.2024.